Neugierig betrat ich den Raum, doch die Neugierde legte sich bereits nach wenigen Sekunden. Die Wände, die Decke ja, sogar der Boden waren mit schwarz-weiß- Zeichnungen ausgestattet. Zeichnungen von jungen Mädchen, alle in etwa ein Alter, mein Alter. Einsam, ja gar verlassen lagen sie auf dem Boden mit einem Schwert im Herzen. Eingehüllt in ihr eigenes Blut. Der Anblick war erschreckend, da diese Zeichnungen unheimlich real waren, doch ich war nicht dabei. War das ein gutes Zeichen?
Als sich meine Gedanken zu einem logischen, roten Faden verknüpft hatten, als ich begann zu verstehen wie real das alles war, sammelten sich Schweißperlen auf meiner Stirn.
Mir wurde heiß und ein paar Sekunden später verspürte ich eiserne Kälte. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter, als ich in die detailliert gestalteten, schmerzhaft, verzerrten Gesichter der Mädchen blickte. Meine Stimme war verschwunden und ich stand wie angewurzelt auf einem Fleck.
Meine Blicke schweiften über die zahlreichen ermordeten Mädchen.
Hat es sie gegeben? Oder waren das nur die Phantasien eines Verrückten? Waren sie wirklich tot? Ich konnte beinahe ihre Schreie hören und die Angst spüren, die sie gehabt haben mussten, als sie kurz vor ihrem Tod gestanden hatten. Es musste sie alle gegeben haben. Sie und ihre ganz eigenen Geschichten.
Dann aber rutschte mir mein Herz fast in die Hose. Ich erblickte mich. Am Ende der Wand mir gegenüber, hing ein weiteres Bild. Es stach nicht hervor, es war bedeutungslos, wie jedes Andere.
Aber ich erkannte mich. Es war mein Bild! Es zeigte mich! Tot! Obwohl ich es nun schon einige Male gesehen hatte, so erschreckte es mich in diesem Moment am meisten. Wer hatte es gezeichnet? Wer wollte mich so sehr tot sehen? Wer hatte sich vorgestellt, wie ich aussehen würde, wenn die Person mir ihr Schwert ins Herz rammt?
Oh mein Gott, die Person musste in meinem Zimmer gewesen sein. Wie sonst hätte es dort hinkommen sollen? Wie oft ich versucht hatte diese Frage zu unterdrücken, doch jetzt konnte ich sie nicht weiter verdrängen, sie kam unbewusst auf und ich wusste keine Antwort auf sie. Nur weitere ungeklärte Fragen die sich ihr anschlossen und mich noch mehr in Schrecken versetzten. Was hat es für einen Sinn, dass ich hier bin? Bin ich nur zufällig hier reingeraten oder hatte uns jemand mit Absicht hier her gelockt? Was hat das mit mir zu tun? Zu viele Fragen, aber keine Antworten!
Obwohl ich keine Beweise hatte, so sagte mir ein ganz starkes Gefühl, dass das Mädchen dieses Mal nicht ihre Finger im Spiel hatte. Es musste der Mann gewesen sein, von dem Toni und der Junge gesprochen hatten.
Plötzlich, mit einem lauten Knall, fiel die Tür hinter mir ins Schloss. Ich schluckte, drehte mich dann aber unsicher um. Mit weit aufgerissenen Augen blickte ich in mir vertraute, blaue Augen. Ein verschmitztes Lächeln eingehüllt in volle, blutrote Lippen. Er war es, der Junge. Erleichterung machte sich in mir breit und ich fiel ihm in die Arme. Beschützend legte er seine starken Arme auf meinen Rücken und streichelte mich behutsam. Sein Atem ging ruhig und durch ihn wurde auch ich langsam ruhiger. Tief atmete ich sein gutes Parfum ein und kuschelte mich noch ein wenig näher an ihn heran.
Doch der Schein trübte.
Wieso war er hier? Hatte er mich gesucht oder hatte er etwas hier mit zu tun? War er es etwa, der diese Zeichnungen angefertigt hatte? Nein! Das wollte und konnte ich nicht glauben. Aber wie hatte er mich gefunden? Schnaufend löste ich mich aus seiner Umarmung und starrte in seine wunderschönen Augen. Mit einem Blick waren plötzlich alle Fragen vergessen.
Die Angst und die Befürchtungen legten sich, wurden nebensächlich. Was auch immer seine Augen mit mir versuchten anzustellen, es funktionierte.
„Was machst du hier Prinzessin?“ Prinzessin? Noch nie hatte mich jemand so genannt. Durfte er mich so nennen? Sollte er mich so nennen? War es nicht ein Name der unsere Beziehung enger wirken ließ, als sie hätte sein sollen?
„Ich ähm“, stotterte ich und versuchte dem Bann seiner Augen zu entkommen.
„Du siehst gut aus.“ Was? flirtete er gerade mit mir?
Ich wollte mich dagegen wehren, aber seine Ruhe, seine Fürsorge... sie ließen mein Herz einfach dahinschmelzen. Er war plötzlich so sanft und lieb zu mir, dass ich diesen Moment einfach nicht zerstören konnte. Er war genau so, wie ich ihn haben wollte. Obwohl ich diese Gedanken eigentlich nicht mal ansatzweise besitzen dürfte. Doch das war mir in diesem Moment egal, so wie alles andere um uns herum. Dieses Lächeln, unglaublich charmant und unwiderstehlich. Ich wollte ihm näher sein, näher als ich es hätte sein dürfen.
„Darf ich bitten?“, lachte er unschuldig und reichte mir seine kalte Hand.
In Schwärmerei versunken starrte ich ihm entgegen und konnte meine Blicke von seinem muskulösen Körper nicht abwenden.
Kurz drang ein klarer Gedanke in meinen Kopf, der von seinem Charme noch nicht völlig vernebelt worden war. Es war falsch, es war unfair. Ich brach alles was ich meinem Freund selbstsicher versprochen hatte. Es war so falsch, aber zugleich so verlockend.
Theoretisch ließ er mir nicht einmal eine Wahl. Langsam schritt er auf mich zu, griff nach meiner schwitzigen Hand und zog mich mit sich.
Die Treppe runter, durch die Anlage, über den Friedhof und dann direkt in den Wald hinein. In den Wald mit einer schrecklichen Erinnerung. Mit einem schrecklichen Geheimnis, das ihm sein Lächeln nehmen könnte.
Draußen wurde es schummrig, immer weiter zog er mich in den düsteren Wald hinein. Wo ich meine Skepsis und Angst gelassen hatte? Keine Ahnung.
Woher kam dieses große Vertrauen, dass ich ihm schenkte? Dem Jungen, dessen Namen ich immer noch nicht kannte? Ich kannte ihn nicht im Geringsten und trotzdem fühle ich mich ungewohnt sicher bei ihm. Es war bereits so weit gekommen, dass ich den Eindruck hatte, den Hauch eines Verliebtseins zu spüren..., okay wem mache ich hier eigentlich was vor?
Ich brauchte es nicht mehr leugnen. Es war kein Hauch, ich war verliebt. Unsterblich verliebt! Verliebt in seine vertrauensvollen Augen, in seine sanften Berührungen und in sein mysteriöses Ich, das ich unbedingt kennenlernen wollte.
Mittlerweile befanden wir uns tief im Wald, eingehüllt von Bäumen die einander glichen. Plötzlich fiel mir auf, dass ich mich selbst gar nicht bewegte. Zwar liefen meine Beine und ich kam vorwärts, aber ich strengte mich keineswegs an. Als würde ich schweben?
Noch bevor ich diesen Gedankengang weiterführen konnte, blieben wir plötzlich stehen. Meine Blicke wanderten zu einem umgefallenen Baumstamm, der uns förmlich einlud. Wie selbstverständlich setzten wir uns, die Hände immer noch in einander verschränkt. Mittlerweile war es schon dunkel geworden und ich fragte mich, ob wir aus dem Wald wieder hinaus finden würden.
Doch in diesem Moment war mir das unheimlich egal. Alles was ich noch spüren und fühlen konnte, war mein hämmernder Herzschlag und das Kribbeln im Bauch, das nicht vergehen wollte. Mein Atem war schnell und ich musste mich zusammenreißen, dass ich vor Aufregung nicht anfing zu zittern. Der Mond schien auf uns hinab und erinnerte mich an ein Märchen.
Wie zufällig und doch beabsichtigt berührte er meinen Oberschenkel leicht und gab mir damit einen leichten Kältestoß zu spüren. Für ein paar Sekunden sahen wir uns einfach nur in die Augen, dann aber merkte ich, dass meine Hände seine Kälte langsam aufnahmen und sie begannen zu zittern. Der kalte Wind hüllte uns ein und ließ mich frösteln.
Ich starrte auf meine Arme, als ich bemerkte, dass ich gar keine Jacke trug. Ein Freude erweckendes Grinsen legte sich auf seine Lippen, als er meine Sorge mitbekam. Ohne zu zögern streckte er seine Arme in den Himmel und zog sich langsam den Pulli über den Kopf. Dabei rutschte das T-Shirt, was er darunter trug, ein wenig nach oben und ich konnte die Ansätze seiner definierte Muskeln erkennen.
Reiß dich zusammen! Lächelnd gab er mir seinen Pullover.
„Bist du verrückt? Du erfrierst noch.“
„Ist schon okay, solange dir warm ist.“ So sehr ich es auch versuchte, nun konnte auch ich mein Lächeln nicht mehr verstecken und zog mir schließlich den Pulli über. Direkt legte sich seine Wärme, die in dem Pulli noch vorhanden war, auf meine kühle Haut und wärmte mich. Sein Parfum stieg mir in die Nase und schon jetzt wusste ich, dass ich diesen Pulli am Liebsten nicht mehr ausziehen würde.
Zusammen starrte wir in den schönen Sternenhimmel und verschränkten unsere Hände wieder in einander. Eine Weile saßen wir so da, bis ich plötzlich eine Sternschnuppe am Himmel entdeckte.
„Da, eine Sternschnuppe“, rief ich begeistert, richtete mich auf und streckte meine dünnen Finger in den Himmel.
„Wünsch` dir was“, flüsterte er leise und strich sanft eine lockige Strähne aus meinem Gesicht. Ich spürte wie ich nervöser wurde und begann auf meiner Unterlippe herum zu kauern. Sanft strich er über meine Wangen und legte seine Blicke auf meine Lippen. Verführerisch zog er sie langsam hoch zu einem Lächeln und ließ seine strahlenden Zähne kurz aufblitzen. Alles was ich in diesem Augenblick wollte, war ein Kuss und genau das wünschte ich mir von dieser Sternschnuppe.
Intensiv schauten wir uns in die Augen und kamen einander immer näher. Abwechselnd sah ich zwischen seinen Augen und seinen Lippen hin und her. Er machte es mir nach und das verriet mir, dass er mindestens genauso aufgeregt sein musste. Schließlich kamen wir uns immer näher und plötzlich trafen sich unsere Lippen zaghaft. Diese leichte Berührung ging langsam in etwas leidenschaftlicheres über.
Tausend Gedanken durchfluteten meinen Kopf und so konnte ich mich auf diesen Kuss gar nicht so richtig konzentrieren. Küsste ich gut, richtig? Hatte er seine Augen offen? Ich schaute nach. Ja hatte er, sollte ich das auch tun? Aber ich wollte meine Augen gar nicht offen lassen. Wollte er schon direkt mit Zunge küssen? Das wollte ich aber nicht, erwartete er das etwa von mir? Wollte er vielleicht schon direkt mehr? Wäre er mir böse, wenn ich mich nicht darauf einlassen würde? Verdammt! Meine Gedankengänge wurden immer wirrer und meine Unsicherheit nahm zu und so zog ich meine Kopf wieder schnell von Seinem weg. Irritiert blickte er auf und begann auf seiner inneren Wagenseite herumzukauern. Er hatte nichts falsch gemacht, ich hatte nur wieder mal viel zu viele Gedanken! Aber das konnte ich ihm schlecht sagen.
Die Stille zwischen uns nagte an mir und machte mich noch nervöser. Um sie zu beenden, beugte ich mich wieder zu ihm vor. Kurz lächelte ich, ehe wir uns erneut leidenschaftlich küssten. Meine verwirrenden Gedanken verschwanden endlich und ich konnte mich voll und ganz auf diesen Kuss konzentrieren.
Es gab nur noch uns Beide und diesen Wald, den ich noch nie zuvor als so schön empfunden hatte. Bäume knarrten ihm kalten Wind, ein Uhu rief durch die stürmische Nacht und leichte Regentropfen begannen sich auf uns niederzulassen.
Nachdem sich meine Lippen wieder von seinen lösten, grinste er mir zufrieden entgegen. Die kühle Abendluft legte sich auf meine Wangen und kühlte sie vorsichtig. Immer noch pochte mein Herz ungewöhnlich schnell in der Brust und meine Hände begannen zu zittern. Langsam wurde ich nervös und wartete gespannt auf eine Reaktion von ihm. Doch er starrte nur verträumt in den klaren Sternenhimmel und schien den Moment genießen zu wollen. Obwohl wir nun bereits ein paar Mal mit einander gesprochen hatten, wusste ich immer noch nichts über ihn und fing daher mit belanglosen Smaltalk an:
„Hast du eigentlich irgendwelche Hobbys?“ Verdutzt über diese zusammenhangslose Frage hörte er auf in den Himmel zu starren und blickte mich stattdessen verwirrt an.
„Nee, nichts besonderes spiele ab und zu ein bisschen Fußball.“
„Cool“, antwortete ich knapp und wartete darauf, dass er mich auch etwas fragen würde. Doch außer Stille brachte er nicht zu Stande.
Eine Weile versuchte ich das Schweigen zwischen uns zu ignorieren, doch irgendwann konnte ich meine Nervosität nicht mehr unterbinden, sodass ich lieber wie ein Wasserfall zu reden begann, als ihm ein Stück meiner Unsicherheit zu zeigen.
„Also ich spiele Volleyball in der Schule. Vorher habe ich Schwimmen gemacht, aber der Trainer war fast nie da und wenn doch, hat er gleich zu viel von uns verlangt.
Na ja, aber so wirklich Spaß hatte ich auch nicht. Beim Badminton war ich auch mal, mit meiner damaligen besten Freundin, doch dann ist sie umgezogen und allein wollte ich nicht mehr hin gehen.“
„Okay...“
„Ach da fällt mir ein, turnen habe ich auch gemacht, sogar ziemlich lange, dann aber wurde die Trainerin ausgewechselt und wir haben einen voll strengen Trainer bekommen.
Das ist allerdings schon ganz schön lange her, da war ich noch ziemlich klein. Grundschule, also acht oder so.“
„Aber du hast das nicht alles auf einmal gemacht oder?“ Was? Nein natürlich nicht, hatte er mir nicht zugehört? Anscheinend hatte ich ihn mit meinen sportlichen Interessen zu Tode gelangweilt.
„Nee, dafür hätte ich gar keine Zeit gehabt. Welche Klasse bist du eigentlich?“
„Klasse?“
„Du gehst doch noch zur Schule oder?“, fragte ich etwas verwirrt von dem fetten Fragezeichen in seinem Gesicht. Also mit Klassen konnte doch wohl jeder etwas anfangen oder?
„Ähm... nee.“
„Ach so und was machst du dann? Hast du denn einen Abschluss?“
„Ja.“
„Und was machst du jetzt? Willst du eine Ausbildung machen?“
„Keine Ahnung.“
„Du weißt nicht was du machen willst?!“, hakte ich fassungslos nach, zog meine Hand von ihm weg und verschränkte die Arme vor der Brust. Was ich nur für einen Stress mit meinen Eltern hätte, wenn ich keinen Plan für die Zukunft parat hätte!
„Nee, ist ja auch egal“, versuchte er sich rauszureden und seufzte ein Mal schwer. Mittlerweile konnte ich das Gefühl nicht mehr loswerden, dass er mir am liebsten gar nichts über sich und sein Leben erzählen wollte. Aber warum zur Hölle sollte er mich dann küssen?
„Egal? Ich glaube nicht, hast du denn keine Ahnung in welche Richtung du gehen willst? Also eher Büro oder etwas soziales?“
„Nein!“, schrie er mich plötzlich an und stand empört auf, als hätte ich ihn nach etwas Verbotenen gefragt. Das war doch wohl eine berechtigte Frage oder wollte er unter der Brücke landen?
„Ist ja gut, ich habe ja nur gefragt“, beschwerte ich mich, stand auf und warf ihm arrogante Blicke zu, während ich den Abstand zwischen uns immer größer werden ließ.
„Hm.“
„Dein Vater ist doch der Kutschfahrer, also Toni oder?“
„Ja warum willst du das wissen?“
„Nur so und wo ist dann deine Mutter? Ich kenne sie noch gar nicht“, erkundigte ich mich gezwungener Maßen nett und versuchte die Konversation am Laufen zu halten. Wenn wir den ganzen Rückweg im Schweigen verbringen müssten, weil er einfach nicht so der Typ zum Reden war, dann würde das ein sehr langer Heimweg werden.
„Du wirst sie auch nicht kennen lernen.“
„Warum? Wohnt sie nicht hier?“
„Könnte man so sagen.“
„Aber du wohnst hier?“
„Ja.“
„Besuchst du deine Mum denn wenigstens mal?“
„Wenn ich könnte würde ich bei ihr wohnen!“
„Und wer hindert dich dran?“
„Ihr Tod“, antwortete er trocken und ließ seine Blicke aufgeregt durch den Wald wandern. Ich runzelte die Stirn und versuchte den Blickkontakt zu vermeiden, denn ich hatte keine Ahnung wie ich darauf reagieren sollte.
Es war offensichtlich, dass er nicht über sie sprechen wollte, das war okay für mich. Ich wusste nur nicht, was ich darauf überhaupt antworten sollte. Das er mit einem fremden Mädchen nicht darüber sprechen wollte, war klar, aber ich wollte auch nicht so wirken, als wäre es mit egal. Schließlich war es das nicht. Gleichzeitig wusste ich aber auch nicht, worüber ich sonst mit ihm sprechen sollte, immerhin antwortete er mir nur sehr gleichgültig und möglichst knapp, als würde ich ihn sowieso nicht interessieren. Trotzdem konnte ich das Gespräch nicht aufgeben, ich war viel zu neugierig und wollte unbedingt mehr über ihn herausfinden. Hinter dieser unnahbaren Fassade steckte mit Sicherheit eine wunderschöne Seele.
„Oh das wusste ich nicht. Tut mir leid.“
„Ja mir auch.“
Einige Sekunden wartete ich zitternd auf eine weitere Reaktion von ihm, doch er starrte lediglich geistesabwesend in den finsteren Wald hinein.
„Hast du Geschwister?“, fragte ich freundlich und lief einen wackligen Schritt auf ihn zu. Ich legte meine Hände auf seine Schulter und zwang ihn damit, direkt in meine grünen Augen zu blicken. Vielleicht war es der Versuch endlich seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen oder ich versuchte auf diese Weise etwas mehr aus ihm herauszukitzeln.
„Was soll das?“, schrie er mir direkt ins Gesicht, so laut, dass ein Echo im Wald zu hören war und mich in eine Starre versetzte.
„Willst du mich verhören?“, warf er mir brüllend vor und stieß mich weg von sich. Erschrocken von seiner impulsiven Reaktion, stolperte ich rückwärts und packte mich dabei fast hin. Zum Glück konnte ich mich gerade so wieder fangen und blieb verschüchtert an einem Fleck stehen und versuchte dabei seinem bösen Blick auszuweichen.
Noch bevor ich verstehen konnte was gerade passiert war, musste ihm ein ein Gedanke gekommen sein, der das Glitzern in seinen Augen verschwinden ließ. Schnell packte er mich am Arm und rannte wieder in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Panisch zerrte er mich durch den stockdunklen Wald und nahm dabei keine Rücksicht auf mich.
Zum Glück spendete uns der Mond etwas Licht, sodass ich die Wurzeln am Boden erkennen und ihnen gut ausweichen konnte. Fassungslos von seinem Sinneswandel, ließ ich mich einfach hinterher ziehen. Mein Herz versuchte sich gar nicht erst zu beruhigen und ich spürte wie meine Lunge langsam anfing zu brennen. Angst stieg in mir auf, während die kalte Luft ein Stechen in meinem Brustkorb hinterließ.
Nicht nur der Wald bereitete mir Angst, auch seine ruppige Art ließ mich zweifeln, ob ich ihm überhaupt durch den Wald folgen sollte. Andererseits hatte ich keine andere Wahl, denn ohne ihn war ich hier gnadenlos verloren.
Als wären wir so schnell wie Autos auf einer Landstraße, zogen die Bäume an meinen Augen vorbei und wurden irgendwann nur noch zu einem undefinierbaren Durcheinander.
Was machte ich hier nur? Ich war unvernünftig gewesen und hatte mich von meiner blinden Naivität hier her locken lassen. Was wenn er mich umbringen wollte? Wenn er mich einsperren und quälen wollte?
„Wir sind da“, riss er mich plötzlich aus den Gedanken und gab mir damit im nächsten Moment etwas Erleichterung. Verwundert sah ich mich um und bemerkte, dass wir uns bereits in meinem Zimmer befanden. Wie waren wir hier so schnell...
„Tschüss.“
„Was? Nein warte mal!“, rief ich ihm hinterher und zog ihn an seiner Schulter wieder zurück in mein Zimmer.
„Was denn noch?“, fragte er ungeduldig und drehte sich genervt zu mir um.
„Ich wollte dich echt nicht ausfragen, ich dachte nur... ähm.“
„Ja?“
„Na ja,...es wäre einfach besser, wenn wir uns ein bisschen Kennenlernen würden.“
„So nennst du das also?“
„Ja, ist das nicht normal? Sorry, dass mit deiner Mum konnte ich nicht wissen, aber... ich bekomme langsam das Gefühl...“
„Ja?“
„Dass du meinen Fragen aus den Weg gehst.“
„Sind dir denn deine Fragen so wichtig?“
„Ich würde dich schon gerne Kennenlernen“, meinte ich und begann nervös in den Haaren herumzuspielen. Ich wusste nicht wo diese Unterhaltung hinführen würde, aber ich wollte ihn keinesfalls verärgern.
Sein Seufzer und die unruhigen Finger waren bei mir nicht unbemerkt geblieben. Krampfhaft versuchte ich mir vorzustellen, woran er gerade wohl dachte. Seine Mimik verriet nichts. Nur seine klopfenden Finger am Türrahmen ließen erahnen, dass er nervös war und am liebsten einfach gegangen wäre.
„Okay, vielleicht hast du Recht. Ich tue mich nur etwas schwer damit. Man kann einfach nicht so vielen Leuten vertrauen.“
„Okay“, lachte ich verlegen und versuchte seinen plötzlichen Sinneswandel zu ignorieren.
„An der selben Stelle?“ Welche Stelle?
„Prinzessin?“ Kurz wurde ich aufmerksam und blickte direkt in seine Augen. Was genau war das jetzt zwischen uns? Waren wir etwa schon zusammen? Schwachsinn! Wahrscheinlich hatte ihm der Kuss gar nicht so viel bedeutet. Aber warum sollte er mich küssen, wenn er mich eigentlich gar nicht kennenlernen wollte? Er hatte ja gesagt, dass es ihm einfach schwer fällt Leuten zu vertrauen. Er wird mich schon nicht anlügen. Ich sollte das Ganze wohl einfach auf mich zukommen lassen, richtig? Bloß nicht zu überstürzen, sonst verliert er noch das Interesse.
„Alex?“ Ich schreckte hoch, als ich meinen Namen vernahm und blickte ihm erschrocken entgegen. Ich war nicht erschrocken meinen Namen zu hören, es war eigenartig, dass er mich beim Namen nannte.
„Was?“
„Morgen wieder im Wald?“, wiederholte er sich und gab mir einen Kuss auf den Mund.
„Ja...“, weiter kam ich nicht, denn er lächelte mir nur noch kurz zu und verschwand dann schlagartig aus meinem Zimmer. Was hatte er wohl noch so dringendes zu tun, dass er plötzlich so gehetzt war? Schon im Wald war mit einem Mal so unruhig geworden, dass man hätte meinen können, er wäre einer Horde Wildschweinen begegnet.
Doch diese Gedanken kümmerten mich nicht mehr lange. Stattdessen konnte ich nicht mehr aufhören, an diesen schönen Kuss zu denken. Wer weiß wann ich ihn wirklich wiedersehen würde und ob er mich dann genauso noch mal küssen würde. Ich hätte die Zeit mit ihm wohl mehr genießen sollen, anstatt irgendwelche blöden Fragen zu stellen. Schon jetzt sehnte ich mich nach seiner Anwesenheit so stark, dass ich einfach nicht mehr aufhören konnte, an ihn zu denken. So gerne würde ich jetzt einfach nur in seinen Armen liegen und seine beschützenden, starken Arme spüren können. Sein schönes Parfum einatmen und seine Wärme einfach nur genießen.
Aufgekratzt schloss ich die Tür hinter mir und fiel völlig verliebt in mein Bett. Wie konnte jemand so unheimlich gut aussehen? Diese Augen, sein Lächeln, das markante Gesicht, die zarten Sommersprossen um seine Nase verteilt und der muskulöse Körper... er war einfach perfekt! Während ich der Schwärmerei immer mehr verfiel, bemerkte ich gar nicht wie stark ich dieses Verliebtheitsgefühl bereits hatte. Aber wie konnte ich nach ein paar Begegnungen und einem Kuss so stark empfinden?
War es seine charmante Art? Ich mochte seine Art, wenn er mich Prinzessin nannte. Als wäre ich etwas besonderes für ihn.
Liebe auf den ersten Blick. Alles Schwachsinn, das erzählten doch nur Leute die es nötig hatten sich und ihr Leben interessanter zu machen. Das hatte ich bisher geglaubt, aber wenn ich an diesen Moment zurückdenke, wo ich ihn das erste Mal sah, dann bekomme ich so langsam den Verdacht, dass es so was doch geben musste. Okay gut, vielleicht nicht direkt Liebe, aber verliebt sein mit Sicherheit. Obwohl ich noch kein Wort mit ihm gewechselt hatte, war ich schon nervös geworden und hatte dieses, nur allzu gut bekannte, Bauchkribbeln verspürt. War das normal? Um so öfter ich über diese Möglichkeit nachdachte, desto suspekter wurde sie mir.
Aber warum sollten meine Gedanken sonst nur um ihn kreisen?
Vielleicht lag es daran, dass er mir das Gefühl gab, ich würde ihm etwas bedeuten, er schenkte mir Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit hatte ich auch bei meinem Freund bekommen, aber seine war anders.
Wenn wir alleine waren schenkte er mir kaum Aufmerksamkeit und kümmerte sich nicht besonders um mich. Nur wenn seine und meine Freunde um uns herum waren, dann taten wir so, als wären wir glücklich mit einander und als würde uns der Andere wirklich etwas bedeuten. Für unser Image natürlich.
Man könnte meinen heute wäre ich meinem Freund fremd gegangen, aber das war ich nicht. Eigentlich führten wir gar keine richtige Beziehung. Was das zwischen uns war, wussten wir selbst nicht so genau. Klar, ich mochte ihn, er war ein toller Kerl, aber reichte das um eine gute Beziehung führen zu können?
Der Junge hier gab mir irgendwie etwas ganz besonderes. Obwohl wir uns nicht kannten, behandelte er mich gut und ließ mich denken, ich wäre etwas Besonderes für ihn. Und ich sollte wohl auch zugeben, dass mich seine mysteriöse Art unheimlich reizte. Er schien voller Geheimnisse zu stecken, die ich unbedingt herausfinden wollte.
Eigentlich wollte ich den Tag endlich hinter mir lassen und schlafen gehen. Nachdem ich mich fertig gemacht hatte und mich endlich von diesem Thema entfernen konnte, schoss mir allerdings eine unheimlich bedeutsame Aussage in den Kopf:
„Morgen wieder im Wald?“
War das etwa eine Art Date zu dem er mich eingeladen hatte? Wie sollte ich dort überhaupt wieder hin finden? Wann sollte ich dort sein?...Den Ort würde ich schon wieder finden und zur Not müsste ich eben den ganzen Tag auf ihn warten, das würde ich schon in Kauf nehmen für ihn.
Ein paar Stunden verbrachte ich doch noch damit die Decke zu begutachten und über diesen mysteriösen Jungen nachzudenken, der mir einfach den Kopf verdreht hatte. Zwischendurch hatte ich das Knacken der Treppenstufen vernommen und hatte gehörte wie unsere Tür ins Schoss gefallen war. Natürlich hatte ich keinen Mucks gemacht, denn ich war es leid meiner Mum eine Erklärung zu geben.
Es dauerte nicht lange, bis unser Apartment in klägliches Schweigen gehüllt war, welches lediglich durch das Pfeifen des Windes und das Peitschen der Regentropfen gegen unsere Fenster gebrochen wurde. Doch irgendwann musste ich darüber hinweg eingeschlafen sein.