Er zögerte nicht lange, nachdem er alle von uns ein Mal gemustert hatte.
„Ich habe ihn verloren.“ Er war es nicht! Er war es verdammt noch mal nicht! Okay, jetzt musste ich unbedingt ruhig bleiben und mir nichts anmerken lassen. Nur Leandro musste verstehen, dass es wirklich der Graf war. Als wären seine Augen plötzlich überall, hatte ich gar keine Chance mehr seinen Blicken ausweichen zu können.
Er ließ mich keine Sekunde aus den Augen, sodass ich das Gefühl bekam, er wolle all meine Geheimnisse in Erfahrung bringen. Egal was er versuchte mit mir anzustellen, es funktionierte. Meine Füße wurden immer schwerer und schließlich hatte ich den Eindruck, als könnte ich mich nicht mehr von der Stelle bewegen. Die Blicke wurden immer unangenehmer und irgendwann konnte ich unsere Pläne und wahren Gedanken nicht mehr verheimlichen.
Ich spürte wie er all das Wissen über unsere nächsten Schritte aus meinen Gedanken saugte und das passte mir ganz und gar nicht. Als hätte ich einen Schalter in meinem Kopf umgelegt, baute ich plötzlich eine Blockade in meine Gedanken ein. Keine Ahnung wie ich das machte, aber schon alleine an dem Gesichtsausdruck des Grafens konnte ich erkennen, dass er keinen Zugang mehr zu meinen Gedanken hatte. nsicherheit verschwand und schließlich war auch er sich seiner Sache sicher.
„Warum fragst du? Ich habe ihn im Schwimmbad verloren.“ Das waren definitiv die Gedanken meiner Mutter und meine Eigenen, die ich ihm vorgelogen hatte.
„Dad und das ist die Wahrheit?“
„Natürlich Liebling.“
„Es tut mir leid, dass ich dir nicht vertraut habe. Natürlich bist du es“, lachte ich gespielt erleichtert und umarmte ihn. Mein Plan war weitaus besser aufgegangen als erhofft. Nun lag ich hier so nah neben ihm, dass es ein Leichtes werden würde ihm das Messer in den Hals zu rammen.
Leandro, der meinen Plan noch nicht ganz verstanden hatte, war immer noch fleißig dabei die Stricke meiner Mum zu lösen und bekam daher meine hilfesuchenden Blicke gar nicht mit. Ich wollte einen Blick von ihm, der mir zu verstehen gab, ich würde mit meiner Vermutung richtig liegen. Ein Blick, der mir versicherte er würde voll und ganz hinter mir stehen, egal für was ich mich entschied und ein einfacher Blick, der mir Mut machte.
Das war nicht mein Vater, nein das konnte er niemals sein. Hätte er nicht sofort Mum und meine Geschwister bereit? Anstatt sich mit mir in den Armen zu halten? Ja das hätte er getan, ganz sicher. Zögernd blickte ich in das erschöpfte Gesicht meiner Mutter. Sie hatte das nicht verdient, sie alle hatten das nicht verdient und erst recht nicht mein Vater. Ich wagte mich gar nicht darüber nachzudenken, was der Graf wohl mit ihm angestellt haben musste. Mit zugekniffenen Augen schaute ich in die liebevollen Augen meiner Mutter. Sie waren so milchig trüb, so bedrückt und ungewohnt schläfrig.
Ob sie mit angesehen hatte was mit Vater passiert war? Egal für was ich mich entscheiden würde, sie würde mir alles verzeihen. Das wusste ich genau, aber könnten das auch Mia und Tom? Wenn sie überhaupt verstanden was hier vor sich ging?
Es half alles nichts, wenn ich es ein für alle Mal beenden wollte, durfte ich mich jetzt nicht von Gefühlen leiten lassen, nein ich musste auf Fakten vertrauen. Auf Fakten und mir selbst, dem was ich mit eigenen Augen gesehen hatte. Jetzt blieb nur noch die Frage offen, wie ich unbemerkt an das Messer herankommen sollte.
„Papa, bitte mach mich endlich los“, rief ihm Tom entgegen. Nachdenklich betrachtete ich ihn und Mia. Beide saßen sie neben meiner Mutter und schauten ängstlich durch den Raum. Tausend blaue Flecke lagen auf ihren zarten Körpern. Sie waren übersät mit Schrammen und tiefen Wunden. Und auch sie waren müde, erschöpft und verängstigt. Traumatisch wanderten ihre Augen unruhig durch den Raum und warteten darauf, dass sich die nächste Katastrophe ereignen würde.
„Natürlich ich komme Tomi“, sagte er verständnisvoll und lief auf die beiden zu. Nach kurzem überlegen tat ich es ihm gleich und lief auf Mia zu, um sie aus den Fesseln zu befreien. Wie sollte ich nur so nah an ihn heran kommen, ohne das er verstand was ich vor hatte? Leandro und ich hockten so nah neben einander, dass ich die Gelegenheit nutzte und ihm mein Verdacht möglichst leise mitteilte:
„Das ist nicht mein Vater.“
„Okay“, sagte er nur knapp und sah mir ermutigend in die Augen. Ich hatte wohl die größte Chance von uns beiden, möglichst nah an ihn heranzukommen.
Leandro und ich wurden beinahe gleichzeitig fertig, sodass wir aufstanden und uns vielversprechende Blicke zuwarfen. Unauffällig zog ich das Messer aus meinem Stiefel und verstaute es stattdessen in meinem Ärmel.
„Endlich war auch Tom befreit und fiel meiner Mutter in die Arme, der vor Erleichterung eine Träne die Wangen hinunter kullerte. Ich wünschte mir wir könnten einfach durch diese Tür spazieren und meinen Vater mitnehmen, meinen richtigen Vater, aber es war noch lange nicht vorbei. Enttäuschender Weise würden sie das auch bald verstehen. Leandro war nun auch vorbereitet und so fühlte ich mich ein Stück weit sicherer, im Kampf gegen dieses Monster.
„Oh Gott Mum, ich bin so froh, dass es euch gut geht“, fing ich an und schloss die beiden in meine Arme.
„Alexandra, renn` nie wieder weg, versprich mir das“, flüsterte sie mir ins Ohr und drückte mich näher an sich. Auch Mia wartete nicht lange auf ihre Umarmung, schnell schlüpfte sie unter unseren Händen hindurch und klammerte sich an Mum`s Hüfte.
„Wo bist du überhaupt gewesen?“, fragte sie neugierig und nahm Mia auf den Arm.
„Ich? Also...“, während ich noch über eine möglichst plausible Antwort nachdachte, meldete sich Dad zu Wort:
„Ja Alex, das würde mich auch blendend interessieren.“ Oh ja das konnte ich ohne Zweifel glauben, natürlich war es für ihn ein Rätsel, warum er uns nicht durchgehend beobachten konnte. Die kalte Klinge kühlte immer noch meinen Unterarm und ließ mich darüber nachdenken, wie ich am besten an seinen Hals rankommen würde.
„Leandro und ich haben uns an einem... geheimen Ort getroffen, um... na ja allein sein zu können“, log ich und hoffte das niemand weiter nachfragen würde. Doch natürlich tat mir keiner den Gefallen.
„Und wo genau?“
„Ist das jetzt wirklich wichtig Dad? Lasst uns abhauen, wer weiß wann er wieder kommen wird.“
„Da hat sie Recht“, stimmte Leandro mit ein und kam auf mich zu gelaufen. Vorsichtig stupste er mir in die Seite, um meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen. Bestätigend nickte er mir zu und machte eine leichte Kopfbewegung zu meinem Vater hin. Schwer atmend nickte ich und ging auf ihn zu.
„Ja, das ist jetzt sehr wichtig. So lass ich dich doch nicht davon kommen. Du hast dich gegen jeden Willen deiner Mutter gesträubt und ein riesiges Geheimnis draus gemacht, mit wem du dich im Wald triffst. “
„Ihr habt doch auch Geheimisse“, versuchte ich mich rauszureden und legte meine Hand, beruhigend auf seine Schulter. Leandro warf ich einen strengen Blick zu, woraufhin er zu mir getrottet kam und wir symbolisch unsere Hände in einander verschränkten. Ich war verdammt froh, dass wir uns vor dieser Rettungsaktion wieder vertragen hatten, ansonsten wäre das äußerst unangenehm geworden.
„Mein liebes Fräulein...“, fing er an, doch Mum unterbrach ihn mit ihren warnenden Blicken. Er liebte es mich Fräulein zu nennen, wenn ich etwas angestellt hatte und meine Mum liebte es, wenn sie ihn zurechtweisen konnte.
Sie konnte dieses Wort auf den Tod nicht ausstehen und mittlerweile reichte sogar nur noch ein strafender Blick, damit mein Vater den Mund hielt. Unzufrieden verstummte er und begann sich auf den Weg zu machen. Wenn sie entführt wurden,... wovon ich einfach ausging, dann dürfte er keine Ahnung haben, in welche Richtung wir gehen müssten. Doch so unüberlegt wie er war, steuerte er zielstrebig die Tür an und wollte nach rechts laufen, also in die Richtung aus der wir gekommen waren.
„Dad, sei bitte nicht sauer auf mich“, fing ich an und folgte ihm schnell, ohne auf die anderen Rücksicht zu nehmen.
„Bin ich nicht“, zischte er und verschnellerte seine Schritte. Unser Gespräch musste auf eine weitere Umarmung hinauslaufen. Nur dann hatte ich wieder diese Chance. Warum hatte ich sie auch nicht beim ersten Mal genutzt?
„Doch das merk ich doch.“
„Ja na gut ich bin wütend, aber nicht auf dich“, fing er an und blieb stehen. Das war meine Chance, jetzt müsste ich ihn nur noch in den Arm nehmen und das scheiß Teil irgendwo in seinen Hals rammen, dass sollte wohl nicht so schwer sein. Richtig?
„Ach Dad.“ Mit den Armen nach vorne gestreckt, lief ich auf ihn zu und umschlang seinen Rücken. Ich hatte Glück, dass er nicht besonders breit war, sodass meine Hände sich ohne große Probleme berühren konnten und es somit ein Leichtes sein sollte, das Messer aus meinem Ärmel zu befördern. Diese Umarmung würde nicht lange dauern, deshalb zögerte ich nicht lange und griff nach dem kalten Messer.
Leandro war mir nicht von der Seite gewichen und starrte nun mit großen Augen das Messer an.
„Na los“, flüsterte er so leise, dass ich beinahe nur von seinen Lippen lesen konnte. Ich hätte wahrscheinlich schon längst zugestochen, wäre da nicht die Vorstellung meine Geschwister und Mum zu traumatisieren. Ob sie es mir jemals verzeihen könnten? Was wenn ich mich doch irrte? Wenn das vielleicht sogar eine Falle des Grafen´s war, damit ich meinen Vater eigenhändig umbrachte? Warum musste ich das machen? Leandro war doch derjenige, der den Helden spielen wollte. Warum überließ er mir ausgerechnet so etwas?
...verdammt, ich hatte jetzt keine Zeit darüber nachzudenken. Entschlossen umklammerte ich den kalten Griff des Messers und war bereit zuzustechen. Ich bemühte mich eine schnelle und unerwartete Bewegung zu machen, damit er mir nicht zuvor kommen könnte, doch meine Entschlossenheit versiegte und so konnte ich nur eine gradlinige, zögernde Bewegung zu seinem Hals hin machen.
Kurz bevor die Messerspitze seinen Hals gestreift hätte, packte er plötzlich völlig gelangweilt meine Hand und schob sie so, dass die Klinge sich in meinen Hals bohrte. Mein Herz begann elendig schnell zu schlagen und ich spürte die aufsteigende Hitze in mir. Ein fetter Kloß hatte sich bereits in meinem Hals gebildet, der meine Stimme völlig zum erliegen gebracht hatte. Mein Atem stockte, als sich alle Muskeln anspannten und ich das Gefühl bekam, regungslos ausgeliefert zu sein. Niemand hier könnte mir hier helfen, wahrscheinlich nicht einmal Leandro.
„Alex“, rief eine besorgte Stimme hinter mir.
„Ach Gott, wie niedlich. Macht sich dein Freund Sorgen?“
„Lass sie gehen“, forderte Leandro, stellte sich neben mich und hob drohend den Finger in die Luft. Hatte er gerade nicht geleugnet ich wäre seine Freundin? Waren wir plötzlich wirklich zusammen?
Konzentrier` dich! Mein Leben hing am seidenen Faden. Es brauchte eine kurze Bewegung und ich wäre tot. Mausetot!
„Und wenn nicht? Was willst du schon tun? Dachtet ihr wirklich ihr könntet mich zu zweit töten?“, schrie er lachend und ließ endlich das Messer unter meiner Kehle zu Boden fallen. Erleichtert atmete ich auf und machte einen Schritt zurück. Doch meine Erleichterung blieb nicht lange, denn schon einen Augenblick später, zog mich der Graf wieder zu sich. Ich spürte seinen warmen Atem im Gesicht und seine spitzen Fingernägel die sich mehr und mehr in meine Haut bohrten.
Er hatte Recht mit dem was er sagte. Was wollte Leandro schon tun? Wenn es nicht mal eine ganze Horde Vampire schaffen könnte, wie sollte dann ein einzelner Vampirschüler jemals etwas gegen ihn ausrichten können?
„Aber Alexandra, wolltest du wirklich deinen eigenen Vater zur Strecke bringen?“ Da war es schon wieder, es war ganz eigenartig wie er meinen Namen aussprach. Mit so viel Leidenschaft und Sehnsucht, als würde er mit ihm weitaus mehr verbinden, als ein kleines, schüchternes und feiges Mädchen, das irrsinniger Weise versucht hatte, das Leben ihrer Familie zu retten.
„Du bist nicht mein Vater, du bist jemand den ich zu tiefst verabscheue!“, schrie ich ihm voller Hass entgegen. Ich erinnerte mich an die Menschen, die er tiefgefroren hielt, nur damit er sein Festmal hatte. Was war mit deren Angehörigen? Hatte er sie zusehen lassen, wie er ihre Liebsten zu Qualen folterte? Oder hatte er sie zu seiner Sammlung hinzugefügt?
„Ach ja? Wer bin ich dann, wenn nicht dein Vater?“
„Du bist der Graf, du bist der, der all die unschuldigen Menschen unter Qualen gefangen hält, nur damit du ein ordentliches Abendrot hast und du bist der, der meine Familie und alle anderen in diesem Wald terrorisiert!“
„Ach Alexandra, du verletzt mich zu tiefst.“
„Dann sind wir jetzt wohl Quitt, lass sie gehen“, forderte ich und stellte mich auf Zehenspitzen, um ungefähr mit ihm auf einer Augenhöhe zu sein.
„Alex lass uns gehen, was soll das denn? Siehst du nicht, dass das dein Vater ist?“, mischte sich Mum aufgebracht ein und kam mit Mia und Tom an der Hand auf uns zu. Was? War sie wirklich so blind? Oder hatte sie nicht mitbekommen, wie er mich mit dem Messer bedroht hatte?
„Nein Mum, das ist nicht Dad. Er würde mir niemals ein Messer unter die Kehle halten.“
„Siehst du schlecht? Das ist Erek, dein Vater und ich habe keine Ahnung von welchem Messer du sprichst. Du musst schlecht geträumt haben.“ Mit großen und fassungslosen Augen starrte ich sie an. Warum war mir nicht aufgefallen, dass sie bereits unter Hypnose standen? Wann war er dazu gekommen?
„Mum hier...“ Zögernd zeigte ich auf den Boden wo einst das Messer gelegen hatte, doch jetzt war es weg. Einfach verschwunden.
„Mum, bitte vertrau mir“, bettelte ich und blickte zu Leandro der mir Unterstützung leisten sollte. Ich würde keine Sekunde länger zögern ihr zu verraten, woher mein Wissen kommt, aber... falls er ihn umgebracht haben sollte, will ich, dass sie meinen Vater so in Erinnerung hält, wie sie ihn jetzt sieht.
„Alex du redest Schwachsinn.“ Sah sie nicht was hier vor sich ging oder wollte sie es einfach nicht sehen? Müsste sie nicht spätestens jetzt begriffen haben, dass das alles hier mehr als ungewöhnlich war? Warum war er nur so verdammt mächtig? Wie sollten wir hier je wieder rauskommen?
„Miss, wenn ich mich da einmischen darf. Sie sollten ihrer Tochter vertrauen. Wir müssen jetzt alle zusammen halten.“ Dankend nickte ich ihm zu und hoffte meine Mutter würde sich nicht länger daran aufhalten.
„Was geht dich das an? Warum bist du überhaupt hier?“ Warum konnte sie mir nicht ein einziges Mal vertrauen? Mir glauben?
„Mum lass ihn in Ruhe, er hat mir geholfen. Außerdem sollten wir hier jetzt schleunigst verschwinden, bevor er sich das anders überlegt“, schlug ich überzeugt vor und machte eine kleine Kopfbewegung zum Grafen hin. Belustigt verfolgte er das Geschehen und malte sich wohl möglich aus, was er mit uns anstellen könnte.
„Aber Liebling, wer hat denn gesagt, dass ich euch gehen lasse?“ Mit zusammengekniffenen und finsteren Augen schaute ich ihm böse entgegen und hoffte ihn auf irgendeine Weise damit einschüchtern zu können, auch wenn das natürlich völliger Unsinn war. Er hatte die Hypnose gebrochen und Mum´s starre Augen wurden aufmerksam.
„Lauft“, brüllte ich nur und zog mich noch näher an ihn heran, damit er nicht so schnell handeln konnte. Kaum zögerlich, schnappte sie sich Mia und rannte mit Tom an der Hand auf die Tür zu. Eine kleine Handbewegung des Grafen´s genügte und mit einem Mal fiel die Tür schwungvoll ins Schloss. Erschrocken stoppten sie vor ihr und drehten sich verwundert zu uns um.
„Wie hat er das gemacht?“, schrie sie panisch und stellte sich schützend vor Tom und Mia. Jetzt musste sie mir glauben und jetzt würde sie wohl alles dafür tun, um ihre Kinder vor ihm beschützen zu können.
„Wenn ich sie gehen lasse, was kriege ich denn dann?“, lachte er und schlang seinen Arm um mich, sodass ich mich kaum bewegen konnte.
„Was willst du denn für sie haben?“
„Dich.“ Mich? Mich wollte er haben? Wofür? Als Sklavin, als Dienstmädchen, was fehlte ihm noch in seiner Sammlung? Oder wollte er mich, weil ich ihn an jemanden erinnerte? Wollte er mich auch einfrieren und zu seinen Trophäen stellen? Aber warum das alles? Warum ließ er uns nicht einfach die Drecksarbeit machen? Hätte er uns nicht auftragen können, alle Amulette für ihn zu besorgen? War es nicht das was er wollte?
„Lass bloß deine ekelhaften Finger von ihr! Nimm mich und lass meine Kinder dafür gehen“, schrie Mum außer sich vor Sorge. Ich bewunderte sie für ihre Selbstlosigkeit. Eine Mutter würde wohl alles für ihre Kinder tun. Aber wusste sie überhaupt annähernd, zu was er alles im Stande war? Wusste ich das denn wirklich?
„Nein, dich will ich nicht. Du bist genauso normal wie all die anderen“ lachte er mit seiner tiefen und schweren Stimme, die uns alle zum erschaudern brachte.
„Und warum willst du mich? Bin ich nicht auch so normal wie alle anderen?“
„Normal? Du? Nicht im Geringsten. Du bist faszinierend.“
„Und was soll mit mir passieren? Soll ich auch wie all die anderen Mädchen eingefroren werden?“
„Oh ja darüber habe ich nachgedacht, aber dafür bist du mir zu schade.“
„Und was dann? Wofür willst du mich haben?“
„Du könntest bei mir wohnen und mir in meinem Schloss Gesellschaft leisten. Du musst wissen, es kann ganz schön einsam dort werden, wenn all meine Bediensteten in Urlaub sind.“
„Du willst dass ich nur bei dir wohne und sonst nichts?“
„Freiwillig natürlich.“
„Freiwillig also? Nun gut, fangen wir damit an, dass du mich los lässt. Das verstehe ich zumindest unter Freiwilligkeit“, schlug ich vor und riss mich von ihm los, als er den Druck an meinem Handgelenk lockerte.
„Schließ- die Tür auf.“
„Erst wenn du mir versprochen hast, dass du eine Ewigkeit bleiben wirst, bis zu meinem Tod. Ohne Tricks und Schummelleien.“ Lächelnd streckte er mir seine Hand hin und wartete darauf, dass ich einschlug. Ich spürte die Spannung in diesem Raum. Könnte ich ihm vertrauen? Würde er wirklich meine Familie in Ruhe lassen?... Nein natürlich konnte ich ihm nicht vertrauen, aber welche Wahl hatte ich schon. Die Tür war zu und einen anderen Ausweg gab es nicht.
Und selbst wenn wir versuchen würden zu fliehen, wäre es sinnlos, irgendjemand würde zwangsläufig auf der Strecke bleiben.
„Alexandra, dass ist mein erstes und letztes Angebot, wenn du schlau bist nimmst du es an.“ Zögernd blickte ich ihm entgegen, dass wäre wohl das selbstloseste was ich jemals in meinem Leben tun würde, aber war ich überhaupt so selbstlos? Würde ich mich wirklich opfern, um das Leben meiner Familie zu retten? Konnte ich das? Wäre es richtig? Wäre alles andere zu egoistisch? Ich schaute zu Mum, die betete ich würde mich hinter meiner Angst verstecken. Leandro, der das Gleiche tat, aber niemand traute sich etwas zu sagen.
Grünbraue Augen blitzten mir hoffnungsvoll entgegen.
„Schau mich nicht so an, ich bin kein Monster, Liebling. Jeder hat Gründe warum er so ist wie er nun mal ist und ich habe gelernt, dass Angriff die beste Verteidigung ist.“
„Schwachsinn, wärst du nicht so grausam, hättest du vielleicht mehr Freude“, entgegnete ich kalt und hoffte er würde endlich seine Hand runter nehmen, damit ich nicht einmal mehr die Chance hatte, auf den Deal einzugehen. Ich wollte nicht in Gefangenschaft leben, ich wollte nicht selbstlos sein. Alle retten und dafür ein einsames Leben im Nirgendwo führen. Ich wollte frei und ohne Verantwortung leben. Auch wenn ich mir wahrscheinlich für immer Vorwürfe machen würde, konnte ich auf den Deal nicht eingehen. Ich konnte mein Leben einfach nicht für das anderer opfern. Ich musste wohl damit leben, dass diese Einstellung mich zu einem schlechten Menschen machte. Aber so sehr ich sie auch liebte, so sehr liebte ich auch meine Freiheit und mein Leben.
„Tochter, ich frage dich ein letztes Mal. Kommst du zu mir oder soll ich euch alle einfrieren?“, lachte er. Doch einen Hauch von Ernst und Angst konnte ich trotz des Versuches, es übertönen zu können, heraushören. Wieder kam dieser Schrei in mir auf, doch ich konnte ihn nicht loslassen. Seine Tochter war ich nicht! Und am liebsten hätte ich ihm das ins Gesicht geschrien, doch dann blickte ich in die unbeholfenen Gesichter meiner Geschwister und zweifelte wieder. Ängstlich wagten sie kurze Blicke hinter den Beinen meiner Mutter hervor und hofften, niemand würde sie entdecken.
Und dann schaute ich in ihre Augen. Glasig vor Angst um ihre Kinder. Eine Mutter sollte niemals sehen, wie ihre Kinder sterben.
Blieb mir etwas anderes übrig, als auf diesen Deal einzugehen?