„Setz dich.“
„Du kannst doch nicht einfach gehen ohne mir Bescheid zu sagen. Ich habe dich gesucht.“
„Komm mal runter. Ich kann ja wohl selbst entscheiden wo ich hingehen möchte. Außerdem war mir war schon klar dass du mich hier finden würdest.“
„Wo warst du überhaupt?“
„Ich bin auf Rick getroffen, er hat mir einige interessante Dinge erzählt.“
„Du hast was?“, fragte er empört und schlug die Arme über dem Kopf zusammen. Oh er wusste wohl ganz genau, dass Rick mich eingeweiht hatte und das schien ihn plötzlich aus der Bahn werfen zu wollen.
„Wie bist du dort hingekommen? Er wird dich nicht aufgesucht haben“, brummte er und setzte sich neben mich auf den Baumstamm. Langsam lehnte ich meinen Kopf nach hinten und betrachtete den sternenklaren Himmel. Draußen war es bereits stockfinster geworden, aber meine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Nur kalt war es. Fürchterlich kalt. Eisiger Wind wehte durch unsere Haare und brachte mich zum Zittern.
„Tja das passiert halt, wenn man es nicht für nötig hält, sich um seine Freundin zu kümmern“, meinte ich spitz und warf ihm einen arroganten Blick zu. Er hatte mich alleine gelassen. Natürlich schnüffelte ich da rum, was sollte ich auch sonst tun?
„Was soll das jetzt schon wieder für eine Anspielung sein?“, zischte er und stöhnte genervt auf. Schon wieder? Er hatte mich doch ohne jegliche Erklärungen vor dem Scherbenhaufen sitzen lassen.
„Du hättest mir ruhig sagen können was du machst und wann du gedenkst zurück zu kommen.“
„Ich habe doch gesagt, dass ich anfange mich zu verabschieden.“
„Schon klar und lässt mich vor dem Scherbenhaufen zurück.“
„Ist ja gut“, brummte er und stützte seine Ellenbogen auf die Knie, um seinen Kopf letztendlich in die Handflächen legen zu können.
„Egal ich wollte sowieso mit dir über etwas anderes sprechen“, begann ich und starrte ihn an, um sicher zu gehen, dass er mir auch zuhörte.
„Ach ja? Was hat er dir erzählt.“
„Das vor dem du mich beschützen wolltest.“
„Und das wäre?“
„Das System.“
„Na blendend und lass mich raten, er hat dir auch erzählt warum wir Vampire noch viel grausamer sind, hab ich nicht Recht?“ Ich schüttelte den Kopf. Nein den besten Part hatte er ihm überlassen, was ich auch nur befürworten konnte. Immerhin sollte sich Leandro am besten damit auskennen und nicht Rick, der hatte schon genügend Probleme am Hals.
„Das ist wieder typisch“, beschwerte er sich und seufzte.
„Nein das hat er eben nicht. Das mit den Vampiren sollst du mir gefälligst erklären. Ist nicht sein Gebiet, weißt du?“ Meine Antworten waren schnippisch und ich spürte wie ihn das zu nerven anfing. Und genau das bereitete mir Freude. Wann begriff er endlich, dass ich kein kleines Kind mehr war, das sich nicht zu wehren wusste? Einiges konnte ich ganz gut verkraften.
„Hätte ich mir denken können. Feige ist er.“
„Du doch auch.“
„Ich bin nicht feige! Das ist was anderes, er kennt dich nicht mal.“
„Und bei dir ist es anders, weil du Leandro bist oder wie?“
„Vergiss es!“, knurrte er, zog sein Handy aus der Jackentasche und begann auf dem Display herumzutippen.
„Na dann fang mal an, vom Schweigen wird`s nicht besser.“
„Gott Alex, muss das wirklich jetzt sein?“
„Ja muss es! Ich habe keine Lust mehr, dass du mir sone wichtigen Sachen verschweigst.“
„Er hat dir von den Kindern erzählt, richtig?“, fragte er genervt und atmete tief aus.
„Ja.“
„Bei uns ist das ähnlich, nur dass es nicht unsere Eigenen sind.“
„Wie meinst du das?“
„Nun ja... also das Quertier krallt sich ab und zu ein paar Menschenkinder und nimmt sie bei sich auf. Natürlich werden diese hypnotisiert und bieten jedem dort ihr Blut freiwillig an.“
„Warum Kinder? Warum keine Erwachsenen?“
„Das klingt jetzt vielleicht eigenartig...“
„Eigenartiger kann es kaum werden“, unterbrach ich ihn schnell und rückte etwas näher an ihn heran, um auf sein erleuchtetes Display starren zu können, das mich schon die ganze Zeit blendete.
„Kinderblut ist eben leckerer. Genauso wie das Blut von Hexen oder Werwölfen. Es hat fast eine berauschende Wirkung und kann unter Umständen auch süchtig machen. Die Kinder können sich glücklich schätzen, wenn sie hypnotisiert werden und dabei keine Schmerzen erleiden müssen, aber leider sind nicht alle Vampire so „nett“. Ihre Schreie haben auch etwas für sich und lassen das Bluttrinken zu etwas ganz Besonderen werden.Es benebelt dich so sehr, dass du nicht mehr klar denken kannst“, erklärte er ruhig und starrte dabei gebannt zu Boden. Eigentlich war ich davon überzeugt gewesen, dass er zu so etwas nie in der Lage wäre, aber die Art wie er davon erzählte, ließ mich denken, er hätte es selbst mal getan.
„Warum nehmen sich nur alle das Recht raus, unschuldige Kinder zu töten und so ekelhaft zu missbrauchen? Wer hat ihnen dieses Recht gegeben?“, brüllte ich außer mir vor Wut. Wie konnte man nur so sein? Kein Wunder, dass er sich nie im Versteck der Vampire aufhielt. Nie würde ich dort einen Fuß reinsetzen! Nicht bei dieser Grausamkeit!
„Das sehe ich genauso und deswegen halte ich mich auch nie bei ihnen auf. Ich habe keine Lust ihnen erklären zu müssen, warum wir damals abgehauen sind und ich nie zurück kam. Das Problem ist ja auch, dass man es nicht mal leugnen kann. Kaum ein Vampir kann sich für das Blut von Erwachsenen entscheiden, wenn ihn als Alternative, dass von Kindern angeboten wird. Es riecht viel besser,... es ist einfach besser. Und die Bosse im Quartier nutzen die Gier der anderen für ihre Geschäfte aus. Einfach widerlich, wenn man bedenkt dass wir nicht mal auf Kinderblut angewiesen sind, aber mir hört dort sowieso keiner zu.“
„Immer dreht sich doch alles um Geld und Macht.“
„Tja so ist das wohl“, entgegnete er seufzend und fuhr sich durch die Haare.
„Und wo bekommen sie die Kinder her?“
„Es verschwinden doch ständig Kinder. Außerdem hypnotisieren sie die Angehörigen und ihre Umgebung so gut, dass meistens gar nicht auffällt, dass schon wieder ein Kind verschwunden ist.“
„Und... was passiert mit ihnen, wenn sie erwachsen geworden sind?“
„Keine Ahnung was sie gefunden haben, aber irgendetwas flößen sie ihnen ein, sodass sie nur sehr langsam altern. Einige bringen sie zurück, aber die meisten versklaven sie, um sich selbst nicht die Finger schmutzig machen zu müssen.“ Warum wurden diese Wesen in all den Geschichten so heldenhaft und wunderschön dargestellt, wenn sie doch im wahren Leben so grausam waren? Es gab wohl nur Brutalität auf dieser Erde und daran konnten nicht einmal Hexen etwas ändern. Sie alle waren so scheinheilig, taten so als wären sie gut und sahen aus, als könnten sie keiner Fliege etwas zu Leide tun, doch dabei waren sie grausame Monster. Um so mehr Leandro von den Vampiren erzählte, desto größer wurde meine Angst ich würde eines Tages auch mal so werden.
„Und ich dachte schlimmer als die Panuletas es machen, kann es nicht mehr werden,...“, hauchte ich sprachlos und und blickte verträumt in den finsteren Wald. Jeder in seiner eigenen Welt versunken, saßen wir einfach schweigend neben einander und genossen die Stille um uns herum. Wieder schoss mir die Erinnerung an den morgigen Tag in den Kopf. Ob sich genauso davor fürchtete wie ich?
„Ich weiß schon, du willst nicht darüber reden, aber was hat dein Vater so schlimmes getan, dass du ihn so sehr verachtet hast?“, fragte ich unsicher und hörte auf vor mich her zu starren. Zunehmend wurde ich nervös und fragte mich, wie wohl darauf reagieren würde.
„Du hast mich also angelogen?“
„Was?“, fragte ich verwirrt und wurde noch irritierter, als er zu lachen begann.
„Du hast mir damals gesagt, du hättest nicht gelauscht, also doch gelogen.“
„Ach so“, brummte ich und schmunzelte so lange mit ihm, bis er das Lachen verlor und seine ernste Miene wieder die Überhand gewann.
„Er hatte es verdient. Er hat meine Mutter und meine Schwester Lynn im Stich gelassen. Sie einfach ihrem Schicksal überlassen.“ Abrupt verstummte er und fing an nervös seine Augen durch den Wald wandern zu lassen. Es wirkte so, als wollte er jede Sekunde weitersprechen, doch blieb weiterhin stumm und deshalb hakte ich wieder nach:
„Was genau meinst du damit?” Immer noch kannte ich ihn nicht und war unsicher ob es ihm zu viel werden würde, wenn ich tröstlich nach seiner Hand greifen würde.
„Die Werwölfe und Vampire hatten einen Angriff auf den Grafen geplant. Alle wussten, dass es nicht lange dauern würde und er hätte die absolute Macht. Also wollten sie losziehen und ihn zur Strecke bringen, bevor man ihn nicht mehr aufhalten konnte. Doch meine Mutter war mit mir Schwanger und lag in den Wehen. Bei den Vampiren ist es eine Art Tradition, bei der Geburt eines angesehenen Stammbaums dabei zu sein.
Na ja und wie es kommen musste, war es genau der Zeitpunkt des Angriffs. Die Vampire haben die Werwölfe im Stich gelassen. Bis auf ein paar, ist niemand zurückgekehrt. Die Überlebenden schworen Rache, sie wollten meine Familie und mich töten. Ich kann es ihnen ja nicht einmal verdenken, aber langsam sollten sie einsehen, dass wir es mehr als nur bereuen. Sie hielten ihr Versprechen und so kamen sie eines Tages, nahmen meine Mutter und Lynn mit, um sie zu verbrennen. Nathalie war die einzige, die es für dumm hielt und mir half. Dank ihr habe ich überhaupt überhaupt. Meiner Mutter nahmen sie das Amulett weg und ließen letztendlich beide in der Sonne verbrennen. Mein Vater wusste was sie vorhatten und er wusste, dass sie ihn genauso töten wollten. Also ließ er seine Familie im Stich und haute ab. Ich kann nicht nachvollziehen wie man nur so grausam sein kann, so verräterisch gegenüber seiner eigenen Familie.
Nachdem all´ das vorbei war kam er zurück und wollte sich um mich kümmern. Na ja ich bin nicht volljährig und war daher auf ihn angewiesen. Außerdem brauchte ich ihn.”
„Natürlich, jeder braucht einen Vater.“
„Verachten tue ich ihn trotzdem“, sagte er kalt. Seine Worte waren hart, aber wohl gerechtfertigt. Wieder wusste ich nicht was ich darauf antworten sollte. Egal was ich schon sagen würde, es könnte nichts an der Tatsache ändern oder es ungeschehen machen.
Eine Weile betrachteten wir noch die kalte Nacht und verzogen uns schließlich ins Bett. Unruhig kuschelte ich mich an ihn und überlegte, wie ich ihn nur dazu bekommen könnte, seine wahren Gefühle zu zeigen. Er sprach so kalt und abwertend über seinen Vater, so emotionslos, dass man denken könnte, er wäre ihm egal. Doch das war er nicht!
Als ich am nächsten Morgen aufwachte war Leandro schon längst aus dem Zimmer verschwunden. Seine Uhr hatte er vergessen, die mir jedoch glücklicher Weise verriet, dass ich noch genügend Zeit hatte, bis die Beerdigung anfangen würde. Müde streckte ich mich und schwang mich schließlich aus dem warmen Bett. Ich suchte die schwarzen Sachen für die Beerdigung, welche mir Melonie am Tag zuvor gegeben hatte und verschwand schleunigst ins Badezimmer. Verschlafen taumelte ich über den Flur und war froh, niemanden begegnet zu sein. Nachdem ich die Tür hinter mir abgeschlossen hatte, ließ ich warmes Wasser in die Wanne ein. Zögernd legte ich das Amulett um meinen Hals ab und setzte mich in die angenehm, temperierte Badewannen. Zeit verstrich in der ich das Wasser vor mir einfach nur anstarrte und in Gedanken versank.
Warmes Wasser strömte über mein Gesicht und hüllte meinen kompletten Körper in angenehme Wärme, als ich komplett unter die Wasseroberfläche tauchte. Schnell wurde meine Luft knapp und so tauchte ich wieder auf, strich meine Haare nach hinten und rieb mir das letzte Bisschen Schlaf aus den Augen. Ich atmete auf und starrte plötzlich zwei grünen Augen entgegen. Die Luft um mich wurde knapp. Erst jetzt fiel mir auf, was sich gestern bei der Begegnung mit meinem Vater verändert hatte. Mein Herzschlag war verschwunden. Es gab kein Hämmern mehr und kein unruhiges Gefühl in meiner Brust. Da war einfach nur eine große Leere.
Kopfschüttelnd versuchte ich mich zusammenzureißen.
„Verfolgst du mich jetzt schon bis ins Bad?”, fragte ich empört, hetzte aus der Wanne und wickelte meinen nassen Körper in ein Handtuch.
„Kannst du dich nicht wenigstens bemerkbar machen?“, zischte ich und legte meine Hände aufs Gesicht, um meinen Scharm verbergen zu können. Ich runzelte die Stirn, als sie mir nach gewisser Zeit immer noch nicht geantwortet hatte. Verlegen musterte ich sie, wobei mir auffiel, dass etwas ganz und gar nicht stimmen konnte. Sie hatte dunkle Schatten unter den Augen und ihr Gesicht war ganz zu geschwollen, als hätte sie sich mehrere Stunden lang die Seele aus dem Leib geweint. Ihre Augenlider waren schwer. Sie hatte eine schlappe Haltung eingenommen und lehnte nun ganz lässig an der Zimmertür.
„Hey? Was ist los?“, fragte ich nun in einem ganz verständnisvollen Ton und hoffte sie würde sich mir öffnen. Immer noch schwieg sie.
„... Mir fehlt immer noch dein Name“, sagte ich zögernd und fragte mich was nur mit ihr passiert war.
„Lynn.“
„Lynn? Du bist Lynn?“, fragte ich erschrocken und verschränkte die Arme vor der Brust. Wenn sie die Lynn war, für die ich sie hielt, dann verstand ich endlich was ich mit ihr überhaupt zu tun hatte. Das Gesicht zu Boden gerichtet nickte sie nur schwach und stöhnte einmal leise auf.
„Dann bist du seine Schwester oder?“
„Ja. Ich dachte du solltest es wissen. Ich werde jedenfalls auch bei der Beerdigung unseres Vaters zusehen.“
„Verstehe. Soll ich es Leandro sagen? Ich könnte ihm sagen, dass wenigstens du da bist?“ Energisch begann sie den Kopf zu schütteln und stieß sich von der Wand weg, um näher an mich heran zu treten.
„Nein. Gerade jetzt würde es ihn nur unnötig verwirren, außerdem will ich bei der Beerdigung dabei sein.“
„Okay, aber denkst du nicht, dass es für Leandro besser wäre, wenn er die Wahrheit wüsste?“
„Bestimmt, nur nicht jetzt. Nun ist es eh zu spät, es würde nur alles durcheinander bringen.“
„Aber ich darf es ihm bald sagen?“ Sie nickte nur, stolzierte langsam auf die Badewanne zu und löste den Stöpsel, damit das Wasser ablaufen konnte.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich meinen Vater irgendwann überleben würde. Nun gut überleben tue ich ihn nicht wirklich, aber jetzt muss ich bei seiner Beerdigung zusehen. Das ist nicht fair, er hat es nicht verdient.“
„Was ist wirklich passiert? Er hat euch nicht im Stich gelassen oder?“ Sie grinste kurz, schüttelte dann sachte den Kopf und verschwand schließlich mit einem Mal. Einerseits erleichtert, andererseits verärgert zog ich mich an. Meine Haare ließ ich vorerst an der Luft trocknen und hoffte sie würden sich damit beeilen. Bei meinen Locken würde ich nach dem Föhnen sowieso nur wieder wie eine Vogelscheuche aussehen und das wäre wohl nicht der passende Aufzug für eine Beerdigung. Wie gewohnt stellte ich mich vor den Spiegel und versuchte die Tatsache zu ignorieren, dass ich mich sowieso nicht sehen konnte. Immer noch kannte ich nicht die komplette Wahrheit. Schon als ich ihren Namen gehört hatte, war mir klar gewesen, dass es sich bei den beiden um ein Missverständnis handeln musste. Immerhin wurden Geister in dieser Zwischenwelt nur festgehalten, wenn sie noch etwas zu klären hatten. Aber warum konnte sie mir nicht einfach die Wahrheit sagen? Mit Sicherheit wusste sie, dass ich unheimlich neugierig war, wieso also verschwieg sie alles?
Etwas hielt ich mich noch in meinem Zimmer auf und wartete darauf, dass meine Haare endlich getrocknet waren. Nachdem sie schließlich nur noch klamm waren, band ich sie zu einem strengen Dutt zusammen und hoffte auf diese Weise etwas älter wirken zu können. Ohne ein Spiegelbild konnte ich jedenfalls kein Make-up auftragen. Hoffentlich hatte ich keinen Pickel im Gesicht oder allgemein irgendetwas im Gesicht. Aber darauf würde mich bestimmt Leandro aufmerksam machen. Bei diesem düsteren Wetter würde das im Zweifelsfalle sowieso niemand erkennen können. Ich musste mir nur etwas überlegen, wenn ich wieder in Berlin war. Meine beste Freundin würde mich zu hundert Prozent runtermachen, wenn ich ohne Schminke das Haus verlassen würde.
Wie dem auch sei, heute war kein Platz für diese Gedanken in meinem Kopf. Es gab Wichtigeres womit ich meine Gehirnzellen quälen musste. Ich strich die dunkle Kleidung glatt und verließ schließlich das Zimmer. Unschlüssig steuerte ich über die langen Flure auf die Küche zu und spürte wie ich zunehmend nervöser wurde. Hunger hatte ich immer noch nicht. Doch so langsam musste ich wohl wirklich etwas essen, wenn ich nicht verhungern wollte. Ich konnte nur hoffen, dass ich das Bluttrinken noch eine sehr lange Zeit aufschieben könnte.
Trotz meiner zehn Stunden Schlaf fühlte ich mich völlig schlapp und kraftlos. Wahrscheinlich hatte ich einfach zu viel geschlafen. Innerlich war ich aufgewühlt und verzweifelt. Schon jetzt war mir klar, dass sie mich alle anstarren würden. Mit seinem Vater hatte ich nicht viel zu tun gehabt und deswegen wird es wohl noch komischer werden, wenn ich dort wirklich in Tränen ausbrechen sollte. Doch wie ich mich kannte, gab es keine andere Möglichkeit. Die Beerdigung seines Vaters war irgendwie auch meine Chance, mich von meinem Vater verabschieden zu können. Schon bei dem Gedanken daran wurde mir übel und erstickende Traurigkeit überrumpelte mich.
„Du hast ja schon deine Sachen für die Beerdigung an“, riss mich plötzlich eine dunkle Stimme aus den Gedanken und brachte mich zum Stehen.
„Du doch auch“, antwortete ich knapp und setze mich einen Stuhl von ihm entfernt hin.
„Hast du Kaffee?“ Nickend sprang Leandro auf, schnappte sich eine Tasse aus dem Schrank, goss dort etwas Kaffee ein und stellte mir die Brühe vor die Nase.
„Danke.“
„Willst du etwas essen?“
„Wollen nicht unbedingt, aber müssen wohl schon. Kann ich einfach Brot haben?“
„Ich glaub wir müssten noch ein paar Brötchen von gestern haben“, murmelte nachdenklich und durchsuchte alle Schränke. Schließlich aber wurde er fündig und gab mir eins.
„Willst etwas drauf haben?“
„Hm, habt ihr Käse?“ Nickend holte er Käse aus dem Kühlschrank und stellte mir noch eine Packung Milch zusätzlich auf den Tisch.
„Gibt es auch Zucker?“
„Ich denke nicht“, entgegnete er und setze sich wieder.
„Egal, ich kann ihn auch ohne trinken.“
„Wie geht’s dir?“, fragte ich besorgt in die Stille hinein, nachdem ich versucht hatte seine nachdenklichen Blicke verstehen zu können.
„Bestens“, beteuerte er energisch und wandte seine Blicke von mir ab.
„Sicher? Du kannst mit mir reden, wenn was ist.“
„Es ist aber nichts“, zischte er und seufzte. Den Tag über hatte er mir noch kein einziges Mal in die Augen gesehen und auch jetzt vermied er jeglichen Augenkontakt. Natürlich konnte ich mir denken, dass es etwas mit der bevorstehenden Beerdigung zu tun hatte, aber er konnte doch nicht ständig alles in sich hineinfressen. Warum war er nur so verdammt verschlossen?
„So hört es sich aber nicht an, du musst nicht stark sein, wenn du das denken solltest. Ich meine das ist die Beerdigung deines Vaters, also ich...“
„Ich habe doch eben schon gesagt, dass es mir gut geht“, blockte er stur ab und nahm einen Schluck von seinem Kaffee.
„Das kann ich dir aber nicht glauben.“
„Dann glaubst du es halt nicht, mir doch egal“, zischte ich böse und verschränkte die Arme vor der Brust, während er mich immer noch keines Blickes würdigte. Kopfschüttelnd starrte ich ihn an und fragte mich, was in seinem Kopf vor sich ging.
„Was habe ich dir denn getan? Ich wollte doch nur nett sein“, verteidigte ich mich seufzend und biss von meinem Brötchen ab.
„Nichts hast du mir getan.“
„Und warum antwortest du dann so genervt und pissig?“
„Ich habe ganz normal geantwortet.“
„Na dann hättest du dich mal hören sollen!“
„Du redest doch auch nicht ruhig.“
„Ja wenn du mich hier so anblaffst!“, keifte ich erschrocken.
„Was? Ich... ach vergiss es.“
„Jetzt sei doch nicht beleidigt.“
„Soll ich gehen?“, fragte er plötzlich mit weit aufgerissenen Augen, stand auf und fuchtelte wild mit seiner Hand vor meinen Augen herum.
„Nein jetzt bleib hier, das bringt doch nichts“, gab ich nach und zog ihm am Ärmel wieder auf den Stuhl. Ich sollte wohl nicht vergessen, dass auch er seinen Vater verloren hatte. Wahrscheinlich hatte auch er es mehr begriffen als ich. Noch gestern hatte ich meinen Vater gesehen und genau deswegen wollte es einfach nicht in meinen Kopf reingehen, dass er tot sein sollte. Leandro hingegen hatte den Tod seines Vaters und die damit einhergehenden Konsequenzen verstanden. Da war es wohl normal so gereizt zu sein.
„Hey, so war das nicht gemeint, lass uns heute nicht streiten“, entgegnete ich versöhnend und strich ihm mitleidig über die Schulter.
„Ja, ich bin einfach nicht gut drauf.“
„Verständlich, ich meine so etwas ist nie...“
„Was soll das schon wieder heißen? Ich brauche kein Mitleid, nur damit das klar ist“, schrie er plötzlich wie aus dem Nichts, trank den Rest seines Kaffees aus und verschwand mit einem Mal von meiner Bildfläche. Seufzend schüttelte ich den Kopf und fragte mich, warum es ihm nur so schwer fiel Gefühle zu zeigen. Dachte er wirklich es würde von ihm erwartet werden, dass er weiterhin so eiskalt und gefühllos ist, obwohl es um seinen Vater ging? Erneut erinnerte ich mich an den Grund seiner Laune und nahm mir vor, ihn heute einfach so zu ertragen. Er hatte es schon schwer genug, da brauchte er heute sicherlich nicht noch einen dummen Streit.
Andererseits war es ziemlich egoistisch von ihm. Er konnte sich wohl kaum vorstellen wie es mir dabei ging. Das ich nicht gerade in Jubelgeschrei ausbrechen würde, war wohl offensichtlich. Er hatte wenigstens die Chance sich feierlich von seinem Vater zu verabschieden. Ich hingegen hatte Nichts. Nur die Hoffnung er würde mir ebenfalls als Geist begegnen. Es war nicht mehr als Hoffnung, aber es war genug um ein Lächeln zustande zu bekommen. Ich nahm einen vorsichtigen Schluck meines heißen Kaffees und betrachtete dann das Brötchen auf meinem Teller skeptisch.
Es war falsch ihn weiterhin anzulügen. Ihm zu verschweigen, dass ich seine tote Schwester sehen konnte. So wie er es vermutet hatte. Auch wenn er sich vorgenommen hatte seinem Vater heute ganz ohne Reue gegenüber zu treten, war ich mir fast sicher, dass er das nicht ganz schaffen würde. Dafür war sein Hass viel zu groß. Ich würde mir ewig Vorwürfe machen ihm das verschwiegen zu haben, weil er sich letztendlich Vorwürfe machen würde, seinen Vater zu unrecht verurteilt zu haben. Das war unvermeidlich, aber wenigstens heute könnte ich ihn dazu bringen, seinen Vater weniger zu hassen. Doch ich durfte nicht. Ich hatte es es ihr blöder Weise versprochen.
„Wir müssen los.“ Ich schreckte zusammen als er plötzlich unerwartet wieder vor mir stand und ungeduldig auf seine Armbanduhr schaute.