„Warum habt ihr so früh Schluss?“, beschwerte ich mich keuchend und holte Anne mit schnellen Schritten ein, die einen gewaltigen Vorsprung hatte. Meine Tasche schwang beim Rennen durch die Gegend, prallte mit ihrem vollem Gewicht immer wieder gegen meine Kniekehle und brachte mich damit fast zum Fall.
„Warte doch mal!“, schnaufte ich, als ich sie endlich eingeholt hatte und warf meine Hand auf ihre Schulter, um sie am Weiterlaufen zu hindern. Endlich blieb auch sie stehen und blickte mir mit großen Augen, erwartungsvoll entgegen. Meine Tasche rutschte schnell die Schulter runter und entlastete damit für einen Moment meinen brennenden und schmerzenden Rücken. Schnell nahm ich sie jedoch wieder hoch, da der Boden nass war.
„Was ist?“
„Wir wollten reden?“
„Hau raus.“
„Wollen wir vorher nicht lieber unsere Taschen abstellen? Ich will sie nicht die ganze Zeit mit mir rumschleppen.“
„Der Wintergarten wird eh voll sein.“
„Ich weiß, aber wir können sie zu den anderen stellen, die werden schon nichts klauen“, schlug ich vor und machte eine eindeutige Geste zu der Bank, bei der alle unsere Freunde saßen. Mit einem einverstandenen Nicken, liefen wir auf sie zu, stellten unsere Taschen ohne ein Wort ab und zogen dann weiter über den Schulhof. Es wehte eine frischer Novemberwind, der meine warmen Wangen kühlte.
„Also was ist los?“
„Gar nichts!“, versuchte sie mich abzuwimmeln, auch wenn wir beide wussten, dass sie es dieses Mal nicht schaffen würde.
„Anne? Komm rück raus mit der Sprache.“
„Ja wegen Louis, bist du jetzt zufrieden?“
„Warum sollte ich zufrieden sein, wenn du wegen Louis schlechte Laune hast?“
„Keine Ahnung, Schadenfreude oder so?“
„Na sicher doch, gegenüber meiner besten Freundin?“, log ich.
„Was hat er bitte gemacht, dass du dich so aus der Ruhe bringen lässt?“
„Er ist ein scheiß Arschloch, okay?“
„Heilige Scheiße, er muss ganz schön was angestellt haben, ich dachte dass es gut zwischen euch laufen würde, immerhin habt ihr euch auf der Party doch bestens verstanden oder?“
„Ja, es war auch alles gut zwischen uns, wir trafen uns ein paar Mal und da lief auch was, nur...“
„Warte, da lief was? Was genau verstehst du darunter?“, fiel ich ihr ins Wort, blieb stehen und musterte sie mit weit aufgerissenen Augen. Anne hatte zwar viele Typen am Start und wusste wie sie sich in Szene setzen musste, damit sie bei ihr Schlage standen, aber für gewöhnlich stieg sie mit denen nicht sofort ins Bett. Bei den Letzten hatte ich deswegen nicht nachfragen müssen, denn für mich war klar gewesen, dass sie mir das von ganz alleine erzählt hätte, doch heute kamen Zweifel in mir auf. Sie traute sich kaum mir in die Augen zu schauen, wahrscheinlich aus Angst das ich ihr diese Frage stellen und sie mir die Wahrheit erzählen müsste.
„Was soll ich schon darunter verstehen, dass was es bedeutet?“, fuhr sie mich an und lief wieder los, damit sie mir auch ja nicht in die Augen sehen musste und mir ihre Unsicherheit nicht aufgefallen wäre.
„Habt ihr mit einander geschlafen?“, platzte es neugierig aus mir heraus und das etwas zu laut, wie sie es fand. Schnell legte sie ihren Finger vor den Mund, stieß mir in die Seite und blickte mich mit weit aufgerissenen Augen an, als hätte ich die Frage gerade in ein Megafon geschrien und alle Welt davon wissen lassen. Ihr Reaktion reichte, um zu wissen dass ich mit meinen Vermutungen recht hatte und dass das, wohl auch der Grund für ihre schlechte Laune war.
„Scheiße Anne, ich dachte du würdest mit so etwas immer ein bisschen warten. Das du ihn schon ne Weile anhimmelst, ist selbst mir nicht entgangen, aber so genau kennt ihr euch doch erst seit ein paar Wochen oder habe ich da etwas verpasst?“
„Nein hast du nicht, aber er war so nett und zuvorkommend. Er ist so unglaublich heiß und der Sex...“
„Ja reicht, auf weitere Details kann ich getrost verzichten, aber was ist dann plötzlich das Problem? Es schien ja ganz gut zu laufen.“
„Er ist das Problem, er will nichts festes, hat nur was von Freundschaft Plus gelabert.“
„Ich komm nicht mit. Anne sei mir nicht böse, aber ist das nicht voll dein Ding? Ich meine du hast doch einen Freund? Also nicht das ich das befürworten würde, aber würde dir da ne Freundschaft Plus nicht passen?“
„Mit meinem Freund habe ich schon lange Schluss gemacht, er war mir nur ein Klotz am Bein.“ Der Gedanke daran, dass Loui´s Verhalten nur gerecht war, wurde immer überzeugender, umso mehr abfällige Worte über ihren Ex vielen. Ich konnte ihn noch nie leiden, da er so ein typischer Matcho war, also völlig Anne´s Typ, trotzdem gefielen mir diese Worte über ihn nicht. Sie konnte unmöglich jemals etwas für ihn empfunden haben. Ich begann diese Beziehung mit der von Tobi und mir zu vergleichen und ich bemerkte, dass ich nicht einmal ansatzweise Gedanken hatte, die ihren Worten ähnlich waren. Nicht mehr zumindest.
„Ich verstehe das Problem trotzdem nicht.“
„Wow ist es wirklich so absurd, dass ich mich in ihn verliebt habe?“ Ich setzte zum Kopfschütteln an, doch mitten in der Bewegung stoppte ich wieder, denn es war wirklich so gut wie unmöglich.
„Du in Louis? Verliebt? Bist du krank?“
„Scheiße, wehe du sagst es irgendwem! Und hör auf dich darüber lustig zu machen, ob du es glaubst oder nicht, ich habe sein Angebot abgelehnt und bin heulend aus seiner Wohnung geflohen.“
„Warte du bist was?“ Verzweifelt versuchte ich das Lachen zu unterdrücken, was gerade dabei in mir hochzukommen, bis letztendlich ein kleines Schmunzeln zum Vorschein kam und ich in meinen fetten Schal rein lächelte.
„Du hast vor ihm geweint?“, fragte ich nun voller Ernsthaftigkeit, da ich mich daran erinnerte, wie viel Überwindung es sie wohl gekostet haben musste, mir das anzuvertrauen.
„Ja, ist das etwa schlimm?“
„Nein... nur ziemlich verwunderlich, also ich meine man kennt dich,... also nun mal nicht so.“
„Aber warum hast du es denn abgelehnt?“, fragte ich nach einiger Zeit, in der ich nur sinnloses Gestammel von mir gegeben hatte.
„Du verstehst es nicht oder? Ich will nicht die sein, die er nur vögelt. Ich will, dass er mich nach Hause bringt, sich um mich sorgt, fragt ob es mir gut geht und mich in den Arm nimmt. Doch auf diese Ideen würde er niemals kommen.“ Stumm liefen wir nebeneinander her und ich fragte mich, warum sie dieses unerreichbare Mädchen war, wenn sie doch so gefühlvoll und empathisch sein konnte. Ich konnte ihr als beste Freundin nicht einmal einen Rat geben, denn auch ich wusste, wie er drauf war. Genauso wie Anne und vielleicht hätte es gerade deswegen funktionieren können, wenn sie sich nicht in ihn verliebt hätte.
„Ich würde dir ja sagen, dass er es vielleicht nicht so meinte und dass du weiter Hoffnungen hegen solltest, aber ich kenne ihn und weiß dass es gelogen wäre“, gab ich schulterzuckend zu, legte meine Hand sachte auf ihre Schulter.
„Ich weiß, aber ich kann ihn auch nicht wegstoßen.“
„Wie meinst du das? Habt ihr euch danach noch mal gesehen?“
„Natürlich, er wollte mich sehen, nur wegen dem Sex natürlich, aber er hat es so gut verpackt, dass ich wieder darauf reingefallen bin. Das geht seit Wochen so und jedes Mal, wenn er sich wieder meldet,... dann springe ich. Ich weiß nicht warum.“
„Scheiße... Du darfst nicht springen, sag einfach nein zu ihm.“
„Ja ich weiß, aber das ist nicht so einfach, wie du es sagst.“
„Ich weiß, von außen lässt sich das einfach sagen, aber glaub mir, es kann funktionieren. Vielleicht findet er ja dann Interesse an dir, also ich meine ernsthaftes Interesse, wenn er dich nicht haben kann. Das ist oft so“, entgegnete ich und war mir noch im selben Moment klar darüber, dass ich nicht von Louis sprach, sondern von Leandro.
„Du hast doch keine Ahnung, alles was du je hattest, war eine ewige Beziehung. Du weißt doch gar nicht mehr, wie beschissen es ist, wenn man frisch verliebt ist und wenn sich dieser Typ nur für deinen Körper interessiert. Wenn er nur mit dir spielt“, zischte sie und rollte die Augen.
„Doch,.. ich“, begann ich und stoppte noch im selben Moment. Ich durfte ihr von Leandro nichts erzählen. Ich durfte einfach nicht! Sie hatte keine Ahnung, ich wusste genau, wie es sich anfühlen musste.
„Und was ist jetzt mit Tobi?“, fragte sie schnell und versuchte vom eigentlichen Thema abzulenken. Ihr war wohl aufgefallen, dass sie viel erzählt hatte, dass sie was von ihren Gefühlen preis gegeben hatte und das versuchte sie schnell wieder zu vergessen.
„Was soll schon mit ihm sein? Er will ja nicht mehr mit mir reden.“
„Warum hast du überhaupt Schluss gemacht?“
„Ich habe mich einfach neu verliebt und wollte ihm und mir nichts mehr vor machen.“ Fuck! Warum konnte ich nicht ein Mal den Mund halten?
„Du neu verliebt? In wen denn bitte?“
„Kennst du nicht“, log ich Augen rollend und strich eine Haarsträhne aus meinem Gesicht, die kurz darauf wieder an der gleichen Stelle landete.
„Du redest doch wohl nicht von Albert oder?“
„Was? Nein! Wie kommt ihr nur alle darauf?“
„Ach komm schon, du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass du nicht mitbekommen hast, wie er dich den ganzen Abend über angestarrt hat oder?“
„Albert? Blödsinn, er hat sich doch nur um mich gekümmert“, versuchte ich ihr und mir einzureden. Er hatte sich an diesem Abend tatsächlich ziemlich anhänglich und interessiert verhalten, aber sein Verhalten, was er jetzt an den Tag legte, ließ nicht vermuten, dass er seit diesem Abend auch nur einmal über mich nachgedacht hatte. In Psychologie hatte er kein einziges Wort mit mir gewechselt und für die Partnerarbeit war er schnell zu einer anderen Gruppe geflüchtet.
„Wenn du meinst. Kommst du noch mit in die Cafeteria? Ich habe mein Essen Zuhause vergessen.“ Nickend beantwortete ich ihre Frage und zusammen zogen wir, mit ein paar anderen Freunden, los. Die Pause fühlte sich ungewohnt kurz an, sodass ich vergessen hatte vor dem Unterricht noch einmal auf die Toilette zu gehen und mich dann leise aus dem letzten Block für heute, hatte raus schleichen müssen. Unterwegs war ich ein weiteres Mal auf Lynn getroffen, die mir völlig aufgelöst versucht hatte, etwas zu erklären. Doch auch dieses Mal wurden wir von einer Meute Siebtklässler gestört, die anscheinend eine Exkursion durch das gesamte Schulgebäude machen mussten. Auf meinem Weg in die Klasse zurück, hatte ich gehofft Lynn ein weiteres Mal zu begegnen, doch sie blieb verschwunden. Im Unterricht war ich ganz hibbelig, da ich mir ununterbrochen den Kopf darüber zerbrach, was Lynn mir versucht hatte zu sagen. Es schien etwas wichtiges zu sein, da ich ihr an diesem Tag schon zum zweiten Mal über den Weg gelaufen war. Zehn Minuten verblieben mir noch, bis ich mich endlich von diesen außergewöhnlich, unbequemen Stühlen lösen dürfte und den Weg nach Hause auf mich nehmen könnte. Die letzten Minuten hatten wir eine Partnerarbeit aufgebrummt bekommen, an der wir Morgen weiter arbeiten sollten.
Und genau deshalb hielt es keiner mehr für nötig, auch nur etwas ähnliches zu machen, wodurch die Gespräche nun immer lauter und euphorischer wurden. Nur um mich herum war es still, so leise, dass ich die Gespräche der anderen mit anhören konnte und nun wusste, dass es Freitag die nächste Party geben würde, zu der ich definitiv nicht kommen wollte. Während ich den Gesprächen ganz aufmerksam lauschte, wendete ich meine Blicke kein einziges Mal von Albert ab, der einfach nur stumm auf den Boden starrte und wohl möglich hoffte, kein Wort mehr mit mir wechseln zu müssen. Doch mein Starren musste ihm irgendwann wohl doch zu blöd gewesen sein, sodass er seinen Blick vom Boden abgewendet und mich mit finsterer Miene angesehen hatte.
„Ist was?“, fügte er seinen vielsagenden Blicken zu und zog dabei beide Augenbrauen hoch, damit ich mir noch bescheuerter vorkam.
„Das könnte ich dich auch fragen.“
„Wie du meinst.“
„Was ist denn los mit dir? Du tust so, als würden wir uns nicht kennen, bin ich dir peinlich oder was?“
„Lass mich in Frieden und red bitte einfach nicht mehr, ich hatte einen anstrengenden Tag.“
„Aha.“ Wow mein Tag war natürlich einfach und nicht der Rede wert oder was? Verdammt ging er mir auf die Nerven, was war nur passiert mit ihm? Der Kuss musste ihm wirklich so peinlich gewesen sein, dass er nun keine vernünftigen Worte mehr mit mir austauschen konnte. Er hatte mich geküsst und nicht ich ihn. Warum war er dann so komisch zu mir?
„Hab ich dir eigentlich irgendetwas getan?“
„Klappe jetzt!“, zischte er mir wütend entgegen und warf seinen Rucksack mit vollem Schwung auf den Tisch, dass ich nicht anders konnte, als zusammen zu zucken. Gleichzeitig ertönte die Klingel und befreite uns aus dieser äußerst merkwürdigen Situation. Etwas erschrocken von seiner Reaktion, blieb ich noch kurz sitzen, ehe ich, wie all die anderen, meine Sachen zusammensuchte und einpackte. Nachdenklich wünschte ich abwesend einen schönen Nachmittag und lief danach prompt in eine breit gebaute Person rein. Noch bevor ich rot werden konnte, erkannte ich sein Gesicht und schenkte Leandro eine flüchtige Umarmung zur Begrüßung.
„Kommst du?“, fragte ich nun wieder voll bei mir und legte meine Hand absichtlich auf seine Schulter, tat dabei jedoch so, als wäre es mir gar nicht aufgefallen. Nachdem ich seinen eifersüchtigen Blick an Annes Party gesehen hatte, war er noch komischer geworden. Unsicherer und vorsichtiger im Umgang mit mir. Vielleicht würde er sich sogar wieder auf einen Kuss mit mir einlassen, vorausgesetzt natürlich, das ich das wollte. Ich rang schon eine Weile mit mir selbst, ob ich einen weiteren Kuss versuchen sollte, ob ich versuchen sollte, wieder mehr Nähe zu ihm zu bekommen. Ich hatte keine Ahnung, ob sich dieses Risiko lohnen würde. Ich wusste genau, dass er mich verletzten könnte und es früher oder später wahrscheinlich auch tun würde, aber dieser Versuchung konnte ich auch nicht mehr widerstehen. Es war einfach zum verzweifeln.
„Ich muss noch wohin, fahr schon mal vor.“
„Wo musst du denn bitte hin? Ich komme auch mit.“
„Brauchst du nicht, du kannst dich schon mal umziehen, du weißt dass wir heute trainieren.“ Ohne einen Laut von mir geben zu können, war er die Treppe schon runter verschwunden und ich stand wieder alleine im Gang. Unzählige Schüler stürmten an mir vorbei und waren tief in ihren Gesprächen versunken. Bekannte Gesichter kreuzten meinen Weg, während ich die Fremden schon längst wieder vergessen hatte.
Die Arme zickig vor der Brust verschränkt, trottete ich nach draußen zu den Fahrrädern und zerbrach mir den Kopf darüber, wo er nun schon wieder hin musste, ohne mich. Ob er sich mit Laureen treffen würde? Entschlossen schüttelte ich den Kopf und öffnete das Schloss meines Fahrrads. Nein! Hör auf dir Gedanken darüber zu machen!
Verträumt schwang ich mich auf mein Fahrrad und nahm den langen Weg auf mich, der durch die frostigen Temperaturen draußen, nicht gerade angenehm war. Gedankenversunken und damit völlig abwesend, in meiner eigenen Welt verschwunden, fuhr ich im schnellen Tempo auf den Wald zu. Ich überquerte die kaum befahrene Landstraße und befand mich schließlich am Anfang des Waldes. Meine Mutter hatte mir immer gepredigt, dass ich diesen Weg nie alleine beschreiten sollte, aber ich hörte schon lange nicht mehr auf das, was sie mir vorzuschreiben versuchte. Kurz blickte ich von meinem Lenker auf und legte kurz darauf, völlig erschrocken, eine Vollbremsung hin, da ich beinahe in einen Jungen hineingefahren wäre.
Beim genaueren Hinsehen erkannte ich, dass es Albert war, der völlig frustriert, sein verbeultes Fahrrad vor sich her schob.
„Albert? Was machst du hier?“
„Ich gehe nach Hause, sieht man das nicht?“
„Doch natürlich, aber warum schiebst du?“, hakte ich erstaunt nach und stieg von meinem Fahrrad ab, um seinem langsamen Tempo folgen zu können. Sein Hinterrad ragte ungewöhnlich weit zur Seite und seine Kette schleifte, als hätte er sie zum Fegen benutzen wollen.
„Sieht man das nicht?“
„Doch natürlich, ich meinte eigentlich auch wer das war.“
„Keine Ahnung“, brummte er und legte einen Schritt zu, so als wolle er versuchen mich abzuhängen. Kurz dachte ich darüber nach, mich wieder auf den Sattel zu schwingen und vor zu fahren, doch dann fiel mir auf, dass dies die beste Situation wäre, um ihn zur Rede zustellen. Immerhin waren wir allein und er musste sich vor seinen blöden Freunden nicht beweisen, außerdem konnte er schlecht vor mir flüchten.
„Musst du nicht nach Hause?“, drängelte er ungeduldig, da ihm wohl ebenfalls das Gleiche in den Sinn gekommen war, nur mit dem Unterschied, dass er davor am liebsten weggelaufen wäre.
„Doch, aber ich wollte eh noch mit dir reden, außerdem braucht Lenadro noch Zeit bis er hier ist.“
„Aha und über was?“
„Ist das nicht offensichtlich?“
„Weiß ich nicht?“
„Warum bist du so komisch zu mir?“
„Ich habe einfach einen Fehler gemacht und ich will nicht das irgendetwas zwischen uns läuft.“
„Warum nicht?“, fragte ich geradewegs raus und blickte ihm durchdringend in die Augen.
„Weil ich betrunken war und... Alex können wir das Thema...“ Seine Worte wurden durch ein lautes Scheppern unterbrochen, als meine Tasche den Abgang machte und auf eine vereinzelte Betonplatte viel, die neben dem Waldboden ziemlich auffällig war.
„Scheiße!“, fluchte ich wütend und hielt an. Vergebens versuchte ich an sie ran zu kommen, ohne mein Fahrrad abstellen zu müssen, da ich keinen Fahrradständer an meinem Rad hatte.
„Hälst du mal?“, fragte ich auffordernd und lächelte Albert entschuldigend entgegen, der ebenfalls stehen geblieben war. Nickend stellte er sein Rad ab, lief auf meine Seite und hielt es, damit ich meine Tasche vom dreckigen Boden aufheben konnte. Als ich sie einigermaßen sicher wieder platziert hatte, war ich bereit meine Klapperkiste wieder entgegen zu nehmen, doch als ich meine Hände neben seinen an den Lenker legte, bewegte er sich immer noch kein Stück.
„Es ist wegen Tobi.“
„Tobi? Was hat er denn mit dem Kuss zu tun?“
„Stell dich doch nicht so blöd, er hat mich dumm angemacht, was mir nur einfiele und hat mir gedroht, dass er mich fertig machen würde, wenn ich damit nicht aufhöre.“
„Was? Warum“, keuchte ich erschrocken und starrte in seine großen Augen.
„Warum wohl? Man der Typ liebt dich. Bist du wirklich so naiv oder tust du nur so?“ Nein ich tat tatsächlich nicht nur so, ich war wirklich unheimlich naiv.
„Und was würdest du tun, wenn du Tobi vergessen würdest?“, fragte ich provozierend, da ich nichts mehr verlieren könnte, denn eins war klar, nach unserem Kuss, wäre diese Freundschaft nicht mehr so, wie sie es einmal war. Ich weiß nicht was ich für eine Antwort erwartet hatte, aber mit dieser Äußerung hatte ich insgeheim versucht die Aufmerksamkeit und Anerkennung zu bekommen, die mir Leandro vorenthielt.
Eigentlich hätte mir seine Reaktion klar sein sollen und eigentlich hätte ich es verhindern sollen, aber ich ließ zu, dass er mich ein zweites Mal küsste. Nur sanft und kurz, aber es war ein Kuss gewesen. Quietschende Gummireifen brachte uns auseinander und ich verfiel beinahe in einen Schockzustand, als ich großen, weit aufgerissenen und enttäuschten, blauen Augen entgegen blickte.