Meine Überlegungen wurden plötzliche von einem kribbelnden Gefühl, an meiner Schulter, unterbrochen. Erschrocken zuckte ich zusammen und saß mit einem Mal senkrecht in meinem Bett, während ich in die besorgten Augen von Lynn schaute. Schnell wischte ich mir die Tränen weg und versuchte mir einzureden, dass sie nicht nicht gesehen hatte, wie ich weinte. Kopfschüttelnd musterte ich sie und bemerkte sofort, dass sie mir unbedingt etwas sagen wollte.
„Verdammt noch mal, klopf doch bitte einfach an! Wie oft soll ich dir das noch sagen?“, zischte ich gereizt. Panisch rieb ich in meinen Augen herum und betete darum, dass sie mir glauben würde, dass ich nicht geweint hatte. Es war mir eigenartig unangenehm, wenn jemand mitbekam wie ich weinte. Ich fühlte mich dann schwach und das wollte ich nicht. Ich hasste Schwäche und vor allem hasste ich meine Eigene. In einem Streit könnte ich mich nicht verteidigen und wenn ich weinte, dann würden die Leute noch denken, sie müssten mich mit Samthandschuhen anfassen.
„Es tut mir leid, aber es muss dir nicht peinlich sein zu weinen. Das ist doch völlig normal...“
„Erzähl du mir nicht was normal ist, du bist ein Geist.“
„Ja und? Du bist ein Vampir, also weißt du auch nicht was normal ist?“
„Keine Ahnung, kann dir doch egal sein“, knurrte ich Augen rollend und stand vom Bett auf, damit sie ihre Hand nicht mehr tröstend auf meiner Schulter ablegen konnte.
„Warum? Weil ich ein Geist bin?“
„Hör auf mich mit Fragen zu löchern, was willst du?“
„Ich wollte wissen, wie es dir geht.“
„Mir geht’s gut, sieht man das nicht?“
„Das ist schwachsinnig und das weißt du selbst“, entgegnete sie und kratzte sich am Hinterkopf.
„Wenn du meinst.“
„Ich will für dich da sein, ich glaube du brauchst jemanden zum reden. Und anscheinend willst du mit meinem Bruder nicht reden.“
„Ich brauche niemanden zum reden, außerdem bist du ein Geist, das wäre doch irgendwie erbärmlich.“
„Danke.“
„So war das nicht gemeint. Ich will einfach nur alleine sein, mehr nicht“, log ich und lief im Zimmer auf und ab.
„Kann es sein, dass es dir peinlich wäre vor anderen Leuten zu weinen?“, fragte sie vorsichtig und seufzte.
„Quatsch!“, antwortete ich schnell und versuchte zu überspielen, dass sie Recht hatte.
„Es ist nicht gut alles in sich reinzufressen, außerdem würde es dir bestimmt besser gehen, wenn du mit jemanden darüber reden würdest.“
„Und wenn nicht? Außerdem will ich nicht, dass die Leute anfangen mich anders zu behalten, wenn ich darüber rede. Belass es einfach dabei, okay?“
„Ich wünschte ich hätte all die Jahre jemanden gehabt der mir zugehört hätte. Du hast die Chance, Leandro und deine Mum würden dir zuhören und ich auch.“
„Du weißt nichts über meine Mum! Außerdem bist du ja wohl auch alleine damit fertig geworden, richtig?“
„Ja, aber das ist doch nicht schön!“
„Kannst du denn vor anderen weinen? Willst du mir vielleicht mal erzählen was dich bedrückt? Was für Sorgen du hattest? Wie es dir ging, als du alle gesehen hast und niemand dich hören konnte? Als du mit ansehen musstest, wie sie sich wegen dir streiten? Wegen dir aus den Augen verlieren? Sag mir, wie war es für dich, als du mitbekommen hast, was für einen Hass dein Bruder für euren Vater entwickelt? Hm? Kannst du mir das überhaupt beantworten? Was hast du
gefühlt, als deine Mutter starb? Als...“
„Alex, das reicht!“, unterbrach sie mich wütend und machte einen Schritt auf mich zu, der mich wohl zur Vernunft bringen sollte. Sie hatte es nicht verdient, dass ich so mit ihr umsprang, aber ich musste irgendwie von mir selbst ablenken. Irgendetwas in ihrem Gesicht sagte mir, dass ihr noch etwas ganz anderes auf dem Herzen lag.
„Tut mir leid, aber so verstehst du mich vielleicht. Ich will nicht drüber reden und ich kann es auch nicht, also bitte versteh das doch. Du kannst offensichtlich auch nicht darüber reden, wieso willst du mich also dazu zwingen?“
„Deine Entscheidung muss ich wohl akzeptieren.“
„Ich weiß, dass du es nur gut meinst, aber ich muss es erst mal selbst verstehen und... ich muss das eben mit mir selbst ausmachen,... das ist nicht böse gemeint.“
„Weiß ich ja, ich dachte nur, dass du vielleicht drüber reden willst.“
„Irgendwann vielleicht.“
„Da werde ich nur nicht mehr da sein.“
„Wieso?“
„Du musst mir helfen von hier wegzukommen”, antwortete sie und überraschte mich damit. Sie wollte gehen? Ja, ich war in den letzten Tagen vielleicht nicht besonders freundlich zu ihr gewesen, aber wollte sie deswegen wirklich gehen? Ich brauchte sie doch. Sie hatte mir schon so oft geholfen. Sie konnte jetzt nicht gehen. Sie hatte ja Recht, ich musste mit jemanden reden, irgendwann und ich konnte mir gut vorstellen, dass ich das sogar mit ihr tun würde.
„Nein! Du darfst nicht gehen. Doch nicht jetzt!“
„Ich weiß, dass der Zeitpunkt ungünstig ist, aber ich kann es nicht ändern.“
„Natürlich kannst du das! Du hast so lange gewartet, dann bleib doch bitte noch ein paar Wochen hier, für mich?“
„Das kann ich nicht.“
„Gott, warum bist du nur so egoistisch? Wolltest du mir eben nicht noch helfen?“ Wie konnte sie ausgerechnet jetzt daran denken? Sie durfte mich jetzt einfach nicht alleine lassen!
„Ich kann nicht anders. Jeder Geist hat nur ein Leben als Geist. Und meine Zeit war abgelaufen. Wenn du mich nicht bald erlöst, dann werde ich an einem Ort festsitzen, dessen Grausamkeit du dir nicht mal vorstellen kannst. Ich habe den Ort nur kurz gesehen und die Bilder gehen mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich flehe dich an, du bist meine einzige Hoffnung.“
„Ich verstehe nicht.“
„Ich bin schon gestorben. Ich war dort für einen Augenblick und ich möchte nicht zurück, wirklich nicht.”
„Wenn du dort schon warst, wie kann es dann sein, dass du hier bist?“
„Die Wächterin, die Herrscherin oder wie auch immer du sie nennen möchtest, hat mir noch eine Chance gegeben.“
„Und warum sollte sie das tun? Sie ist der Teufel, sie ist von Grund auf böse.“
„Ich glaube nicht, dass sie von Grund auf böse ist. Man konnte mir ihr reden, ich glaube sie möchte selbst nicht, dass ich zu ihr komme. Außerdem habe ich wohl ein Vorteil, sie schwärmte von meiner Mutter. Sie hat mir 24 Stunden gegeben, um mich erlösen zu lassen.“
„Und wie lange hast du jetzt noch Zeit?“
„Unwichtig, bitte hilf mir einfach.“
„Jetzt?“
„Ja! Natürlich jetzt. Ich muss hier weg. Ich kann nicht an diesem Ort landen, das halte ich nicht aus.“
„Okay, aber was soll ich ihm sagen? Er wird mir doch eh nicht glauben. Nicht so schnell jedenfalls.“
„Du musst es versuchen, ich werde dir helfen.“
Zögernd gab ich mein Einverständnis und fing an ihn zu suchen. Immer noch hockte er in seinem Zimmer und betrachtete den trüben Nachthimmel.
„Hast du dich wieder eingekriegt?“, provozierte er und musterte mich mit finsterer Miene. Abrupt blieb ich stehen und schnappte nach Luft. Am liebsten wäre ich wieder umgedreht, doch ich konnte Lynn nicht im Stich lassen. Nicht nachdem sie so viel für mich getan hatte.
„Ich muss mit dir reden. Es wird auch nicht lange dauern,... denke ich.“
„Aha. Schieß- los.“ Schwer atmend setzte ich mich zu ihm aufs Bett und musterte Lynn. Sie wirkte fröhlich, ja beinahe glücklich, als würde sie sich auf ihre Erlösung freuen. Dort stand sie mit ihren liebevollen, goldenen Löckchen und lächelte mich an. Für einen Moment glaubte ich es, schaute sie zufrieden an. Doch in ihren Augen sah ich, dass sie eigentlich nicht gehen wollte.
Wenn ich sie nie hätte reden hören, wäre sie für mich nur ein kleines unwissendes Kind gewesen. Aber die vielen Jahre, die sie durch die triste Gegend gestreift sein musste, hatte sie hart und klug gemacht. Ich bewunderte sie. Wie hatte sie diese Zeit überhaupt durchstehen können?
Wie schlimm konnte die Hölle schon sein? Doch nicht schlimmer als das, was sie bisher erlebt hatte oder? Mit anzusehen, wie sie sich wegen einem stritten, wie sie litten und nichts sagen zu können. Sie nicht umarmen oder gar berühren zu können. Das konnte nur furchtbar sein und ich denke, dass ich lieber in der Hölle verschwunden wäre. Aber vielleicht hatte sie schon seit ihrer Kindheit Angst vor diesem Ort.
„Ich weiß ehrlich gesagt nicht wo und wie, ich anfangen soll.“
„Wenn du das nicht weißt, wer dann?“, lachte er verächtlich und verschränkte die Arme vor der Brust. Kopfschüttelnd sah ich ihn an. Mir war gerade wirklich nicht nach Späßen. Unglaublich wie unsensibel er manchmal sein konnte.
„Ich denke sie“, murmelte ich und zeigte mit meinem Finger auf Lynn, die immer noch vor uns stand und mir ein Lächeln zuwarf.
„Fang einfach an, es kann kaum komischer werden, als es ohnehin schon ist.“ Nickend wendete ich mich wieder Leandro zu und blickte in seine kalten Augen. Warum war er nur so? Sah er nicht, dass ich mich wirklich bemühte? Ich hasste es, wenn er so tat, als würde er sich für niemanden interessieren und nichts fühlen. Tat er nur so oder konnte er es wirklich? Konnte man tatsächlich nichts fühlen? Wenn es so war, dann wollte ich es auch. Ich hatte mich schon so oft gefragt, ob er jemals geweint hatte. In meiner Gegenwart war es ihm bisher noch nicht eingefallen und ich fragte mich, ob er diese verletzte Seite hatte und sie mir jemals zeigen würde. Lynn riss mich aus meinen Gedankengängen, als sie sich neben mich setzte.
„Im Hotel...“, begann ich und wartete auf eine Zustimmung, die mir verriet, dass er mir zuhörte. Schließlich war ich es satt Dinge doppelt erzählen zu müssen und gerade bei dieser Beichte, war ein Mal mehr als genug.
„Da habe ich dir doch etwas von diesem Mädchen erzählt, richtig?“
„Ja und? Wie kommst du ausgerechnet jetzt auf sie? Das ist Ewigkeiten her“, sagte er fast vorwurfsvoll, wie ich daran hatte denken können. Ich schwieg. Zwischen ihnen saß ich nun also und sollte die ganze Sache klären. Und genau das hasste ich gerade. Ich wollte mich raushalten, ich wollte sie alleine lassen, aber das konnte ich nicht. Er würde mich hassen! Ich hatte es ihm so lange, viel zu lange, verschwiegen und ihn angelogen. Könnte er mir das überhaupt verzeihen? Sollte er? Auch wenn er beinahe gefühlskalt und unerschütterlich wirkte, so wurde ich den Gedanken nicht los, dass ich damit seine Welt zum einstürzen bringen könnte. Vielleicht hatte er die Erinnerungen an sie nur so gut verdrängt, dass er diese emotionale Kälte ausstrahlen konnte. Ob mir das auch irgendwann gelingen würde?
„Das ist jetzt unwichtig.“
„Wenn du meinst, trotzdem ist es schon viel zu lange her.“ Lange? Für mich fühlte es sich gerade mal wie ein paar Tage an. Ich wollte unter keinen Umständen zurück. Dieses Haus fühlte sich, im Gegensatz dazu, nach der absoluten Freiheit an. Aber wollte er zurück? Zurück zu... ihr?
„Sie hat mir geholfen, uns hat sie geholfen. Sie war es, die mir den Weg zum Grafen gezeigt hat, sie hat mir geholfen aufzuwachen und sie hat mich gewarnt.“ Verwirrt starrte er mich an. Anhand seines Gesichtsausdruckes konnte ich erkennen, dass er gerade am überlegen war, ob ich ihn verarschen wollte oder ob ich diese Geschichte ernst meinte.
„Das ist ja schön für dich und sie, aber was hat das mit mir zu tun?“, fragte er und versuchte cool zu bleiben. Doch seine Stimme hatte angefangen zu beben und er blickte mich beunruhigt an. Hatte er Angst? Wusste er vielleicht schon, was ich aussprechen würde? Er ahnte es und er hatte Angst vor der Wahrheit.
„Jetzt braucht sie unsere Hilfe.“
„Aha und wie soll die aussehen?“
„Ich muss dir die Wahrheit sagen...“
„Was für eine Wahrheit? Wann hast du mich angelogen?“, unterbrach er mich plötzlich ganz aufmerksam und vorwurfsvoll. Ja ich hatte es ihm verschwiegen, ich hatte ihn angelogen, doch mir war gar keine andere Wahl geblieben.
„Alex wo von redest du?“, drängte er nun zunehmend nervöser und richtete sich auf.
„Ich rede von Lynn.“
„Lynn? Sie...sie ist noch hier?“, fragte er heiser und begann nervös auf seiner Unterlippe herum zu kauern. Mit einem leichten Glitzern in den Augen musterte er mich und griff nach meiner eisigen Hand.
„Ja und wir müssen sie leider loslassen.”
„Was? Warum? Das geht nicht. Das macht gar keinen Sinn!“
„Was?“
„Das sie noch hier ist, ihr Tod ist Jahrzehnte her. Sie ist doch... schon...“ er verstummte und richtete seine nervösen Blicke zu Boden. Sein Atem wurde auf einmal ganz hektisch und er strahlte große Unruhe aus.
„Sie ist doch schon so lange weg.“
„Nein, sie konnte nicht gehen. Du musst die Wahrheit wissen, damit sie endlich aus dieser Zwischenwelt verschwinden kann.“
„Welche Wahrheit? Sie hat nichts getan, sie war ein Engel. Ich wusste alles über sie!“, verteidigte er sie und sich, während er seine Blicke suchend durch das Zimmer jagte.
„Ist sie hier? Jetzt?“
„Ja, sie sitzt neben mir“, flüsterte ich unsicher. Er starrte in ihre Richtung und versuchte seine verwirrenden Gedanken zu verstehen. Lynn hingegen hatte ein noch breiteres Lächeln bekommen, trotzdem war es betrübt und auch sie wusste, was die Wahrheit für ihn bedeuten würde. Sie griff nach meiner anderen Hand. Ein Ruck, ein Kribbeln und das leichte Gefühl eines Stromschlags durchzuckte meinen Körper und wurde an Leandro weiter gegeben, der ebenfalls überrascht zusammenfuhr.
„Was war das?“
„Sie.“
„Unmöglich“, keifte er und ließ meine Hand wieder los. Fassungslos sprang er vom Bett auf und sah mich an, als würde ich ihm die größte Lüge auftischen wollen. All die Zeit hatte er fest daran geglaubt, dass sie noch hier war und jetzt konnte er die Wahrheit nicht verstehen. Er hatte Angst davor, Angst etwas bereuen zu müssen.
„Es geht auch nicht um sie, also nicht direkt.“
„Sondern?“
„Um euren Vater.“ Er stieß ein verächtliches Lachen, in die eben entstandene Stille, aus und strafte mich mit bösen Blicken, als hätte ich ihn beleidigt.
„Ich kenne die Wahrheit über ihn und ich weiß, dass er ein verlogenes, arrogantes und feiges Arschloch war“, sagte er mit Nachdruck und versuchte seine Überzeugung nicht zu verlieren.
„Nein, so war er nicht. Es war ein Missverständnis, ein Gewaltiges und ich denke, dass er keine Schuld hatte.“
„Spinnst du? Du weißt nichts über ihn! Gar nichts! Hör bloß auf dich für allwissend zu halten und ihn in Schutz zu nehmen, er hatte nichts außer Verachtung und böse Blicke verdient. Und wie du ja siehst, Karma hat ihn geholt!” Seine Worte waren aus purem Hass entstanden und ich fragte mich, wie man seine eigenen Vater nur so sehr verachten konnte. Ich hatte das Versteckspiel meines Vaters auch satt gehabt und diese Art, die er plötzlich an sich gehabt hatte konnte ich bis heute nicht verstehen. Trotzdem konnte ich ihn einfach nicht hassen. Er war mein Vater gewesen und wohl oder übel hatte ich ihn von ganzem Herzen geliebt.
„Ich glaube nicht, dass Karma so funktioniert.“
„Gott, diese Diskussion ist so Zeit verschwendend! Du kannst dir kein Urteil über ihn erlauben, du kanntest ihn nicht“, fluchte er verletzt und entfernte sich von mir. Schnell griff ich nach seinem Arm, zog ihn wieder zu uns zurück und versuchte auf eine andere Weise seine Aufmerksamkeit zu bekommen, damit er sich auch nur ansatzweise auf die Wahrheit einlassen würde. Das war also die Sache, die ihn verletzte, die seine Fassade nach und nach zum einstürzen brachte. Er hatte ihn all die Jahre gehasst, wie sehr würde es ihm wohl das Herz brechen, nun erfahren zu müssen, dass sein Vater keine Schuld gehabt hatte?
„Leandro bitte bleib. Ich weiß du denkst ich hätte kein Recht mich einzumischen, aber...“
„Ja das stimmt, du hast keins, gar keins!“
„Denk an deine Schwester, sie braucht dich jetzt. Es tut mir leid, dass ich es dir so lange verschwiegen habe, aber ich konnte nicht anders, das musst du mir glauben!“ Er begann zu zweifeln, zum ersten Mal, seitdem er wusste worum es gehen sollte. Das war gut, denn wenn er zweifelte, zog er wohl auch die Möglichkeit in Betracht, dass ich Recht haben könnte.
„Es macht keine Sinn! Lynn kann nicht mehr hier sein. Warum solltest nur du sie sehen können? Warum du und nicht ich, wenn sie meine Schwester ist?“
„Keine Ahnung warum ich sie sehe, wirklich nicht, aber ich denke, dass ist erst mal egal oder? Hör mir lieber zu und versuch es verstehen zu wollen, vielleicht ergibt dann irgendetwas Sinn für dich.“
„Ich will mir nichts zusammenreimen, wenn ich die Wahrheit doch schon kenne.“
„Was ist denn für dich die Wahrheit?“
„Es war ein Racheangriff von den Werwölfe. Sie wollten Vergeltung, für die Nacht in der ich geboren wurde, wo der große Angriff geplant war. Sie haben uns umzingelt, meine Mutter, Lynn und mich. Wir wussten, dass sie angreifen würden, doch hatten wir bei weitem nicht mit so vielen gerechnet. Sie mussten sich Verstärkung geholt haben. Von außen. Irgendwo her.“
„Und was war mit deinem Vater? Deiner Meinung nach?“
„Er wusste es auch und er ist abgehauen, er hat uns im Stich gelassen, er zugelassen, dass man sie in der Sonne verbrennen lässt!“
„Und wie hast du überlebt?“
„Nathalie hat mir geholfen.“
„Was? Dieses Bist? Was mich umbringen wollte? Das für den Angriff auf unser Haus verantwortlich war? Ausgerechnet sie?“, fragte ich fassungslos. Das war ja mal wieder klar. Ihm hatte sie also das Leben gerettet? Zu jemand Gutes machte sie das trotzdem nicht!
„Ja, aber das ist jetzt nicht wichtig. Außerdem weißt du nicht, ob sie den Angriff wirklich angeleitet hat.“ Ich wollte mich gerade in ein neues Gefecht mit ihm stürzen, da räusperte sich Lynn neben mir und forderte mich, mit hochgezogenen Augenbrauen, dazu auf, fortzufahren.
„Er ist nicht abgehauen, er wollte euch helfen.“
„Lustig, indem er flüchtet? Du hast eine eigenartige Vorstellung von Hilfe.“ Ich kniff die Augen fest zusammen und versuchte seine Provokationen zu ignorieren. Konzentriert hörte ich Lynn`s flüsternden Worten zu und versuchte sie auf meine Art wiederzugeben. Lynn sprach so erwachsen, unberührt und wie er, gefühlskalt. War sie wirklich so oder wollte sie nur, dass ich das von ihr dachte?
„Er wusste, dass so viele kommen würden und er wusste, dass es zu gefährlich wäre darauf zu hoffen, dass alles gut werden würde. Er dachte er hätte mehr Zeit, also suchte er nach einem Weg, der raus aus dem Wald und rein in die nächste Stadt, führen würde. Ein Weg der sicher wäre, wo ihr niemanden begegnet wärt. Aber er war nicht allein, irgendwer war ihm gefolgt und hatte ihn umbringen wollen. Er starb in dieser Nacht.“
„Er starb? Das ist wirklich eine unglaublich bescheuerte Ausrede. Er kann nicht gestorben sein, wie hätte er bitte zurück kommen sollen?“
„Du musst es wissen. Du sagst es war Glück und richtiges Timing, dass ich meine Mum wiederholen konnte, also... ich weiß es nicht.“
„Ich bin noch nie einem Vampir begegnet der so mächtig ist wie du. Abgesehen vom Grafen und genau deswegen denke ich nicht, dass mein Vater jemandem wie dir über den Weg gelaufen ist.“ Auch wenn er der Geschichte keinen Glauben schenken wollte, so spürte ich förmlich, wie Lynn bald verschwinden würde, wenn die Wahrheit ein Ende finden würde. Er zweifelte nach Außen, aber innerlich kämpfte er wohl mit seinem schlechten Gewissen und versuchte sich an seinen Lügen festzuklammern, damit er sich keine Vorwürfe machen müsste.
„Er ist gestorben und er hat Lynn dort gesehen. An der Grenze, die zwischen Leben und Tod entscheidet.“ Leandro schluckte schwer und hielt für einen Moment die Luft an. Ich hatte das Gefühl ihn ganz genau verstehen zu können. Meine Kehle schnürte sich bei dem Gedanken, Lynn verlieren zu müssen, zu und auch mir stockte der Atem. Ein paar weitere Worte, er würde mir glauben und meine einzige Freundin, die ich noch hatte, würde für immer von der Bildfläche verschwinden. Was wird er tun, wenn er realisiert, dass ich ihm das Ganze verschwiegen hatte? Kann er es irgendwann verstehen? Oder wird er mich für immer hassen? Er wurde unruhiger, das Glitzern in seinen Augen war verschwunden und ich hatte zunehmend die Befürchtung, dass ich heute zum ersten Mal eine Träne bei ihm sehen würde. Schweigen erfüllte den Raum und ich fühlte mich dazu verpflichtet, es brechen zu müssen:
„Lynn stand auf der falschen Seite, sie hatte sich für den Tod entschieden, unbewusst natürlich. Und dein Vater wollte ihr gerade folgen, da holte ihn jemand zurück, nahm ihm seine Erinnerungen und ließ ihn mit unzähligen Bissen und Kratzern zurück.“
„Und warum hat er mir dann nie versucht die Wahrheit zu sagen?“
„Hättest du ihm geglaubt? Er konnte sich an nichts mehr erinnern, was hätte er dir sagen sollen? Du hattest Vorurteile gegen ihn, er hat es wahrscheinlich einfach irgendwann aufgegeben“, erklärte ich und wunderte mich noch im selben Moment, warum ich ich ihm gegenüber so vorwurfsvoll war. Mein Ton wurde strenger und ohne das ich es wollte, sprach ich mit Verachtung, so wie er über seinen Vater gesprochen hatte.
„Nachdem er zu sich gekommen war, ist er schleunigst zu euch zurückgekehrt, aber... nun ja er war zu spät. Ich weiß, dass er versucht hat es dir zu erklären, doch du wolltest ihm nicht zuhören, du hattest deine Meinung und warst nicht bereit sie zu ändern. Also was hätte er machen sollen? Wenn er keine Erinnerungen mehr hatte? Seine Versuche sich erklären zu können, unterstützten wohl nur deine festgefahrene Meinung.” Ich verstummte, als ich bemerkte wie er unregelmäßiger zu atmen begann, den Blickkontakt vermied und anfing Hautfetzen von seiner Unterlippe abzuknabbern. Stumm krallte er sich in seinem eigenen Arm fest und wagte es nicht aufzublicken. Ich konnte mir nicht mal annähernd vorstellen, welche Gedanken sich in seinem Kopf befanden und welche Vorwürfe er sich machte.
Warum rieb ich es ihm auch so unter die Nase? Er sollte sich schließlich keine Vorwürfe machen, etwas bereuen. Nun, es war einfach meine Art Angst zu verbergen. Ja ich hatte Angst. Angst davor, wie er zu mir sein würde, Angst davor, Lynn zu verlieren und Angst davor, wieder alleine sein zu müssen. Was wenn er mir nicht verzeihen könnte? Wenn er gehen würde, zurück zu Laureen und mich alleine lassen würde? Würde er das tun? Würde er darüber nachdenken?
„Und warum jetzt? Warum erzählst du mir das ausgerechnet jetzt?“, fragte er erdrückt von der Wahrheit.
„Nun ja, bei dem Werwolfangriff wurde sie getötet und Geister dürfen nicht sterben, denn dann kommen sie in eine Art Hölle. Dort landete sie auch und bat um Gnade. Sie bekam 24 Stunden, um Erlösung finden zu können.“ Bei diesen letzten Worten fing auch meine Stimme an zu zittern und ich begann nach Luft zu schnappen, damit keine Tränen fließen würden. Noch bevor sich Erleichterung in mir breit machen konnte, wurde ich mit den Unmengen an Eindrücken und Reizen überfordert.
Leandro´s Augen waren feuerrot geworden, aber nicht weil er sich nach Blut sehnte, nein... er weinte. Er vergoss tatsächlich Tränen und damit war ich mir plötzlich sicher, dass er irgendwo in sich drin, auch wenn er es niemals zugeben würde, ein Mensch war. Ich wollte ihn fragen, ob er Lynn ein letztes Mal berühren oder etwas sagen wollte, doch als ich nach rechts blickte, starrte ich nur in erstickende Leere. Sie war fort, gegangen ohne sich zu verabschieden. Sie war tatsächlich einfach gegangen! Ungläubig starrte ich meine leere Handfläche an und fragte mich, wie lange sie wohl schon so leer war. Warum hatte ich nicht mitbekommen wie sie gegangen war?
Tränen sammelten sich erneut in meinen Augen und gaben mir den fehlenden Impuls, aufzuspringen und wieder mal aus einer Situation zu verschwinden, ohne sie geklärt zu haben. Stürmend verließ ich das Zimmer und schloss mich Bad ein. Es war zu viel für mich, viel zu viel! Leandro, der immer seine Fassung gehalten hatte und für mich hätte da sein sollen, war eingeknickt, er war schwach geworden. Und Lynn war ohne letzte Worte gegangen. Warum hatte sie nichts gesagt? Ich hätte mich bedanken wollen, ihr viel Glück wünschen wollen, hätte sie nichts mehr zu Leandro sagen wollen?
Sie war doch egoistisch! Aber das waren wir wohl alle. Ich war nicht für ihn da, nicht für meine Mum oder meinen Bruder. Aber ich hätte es sein sollen, es sollte mir verdammt noch mal egal sein, wer mich weinen sehen würde. Es war normal und es war verzeihlich, also warum fiel es mir nur so verdammt schwer? Was war falsch mit mir? Warum konnte ich nicht für ihn da sein? Warum konnte ich ihm nicht zeigen, wie schön es sich anfühlte, wenn sich jemand um einen sorgte? Warum konnte ich es verdammt noch mal nicht? Etwas musste einfach falsch mit mir sein! Ich war feige, egoistisch und schwach. Genau das, was ich nie sein wollte!