Eine Weile schon liefen wir die endlose Pflasterstraße entlang und füllten die Stille mit unseren Worten. Zusammen gingen wir in die Richtung aus der ich gekommen war. Der Nebel hatte sich immer noch nicht gelegt, stattdessen war es stürmischer geworden und vereinzelte, eisige Regentropfen ließen sich auf unsere Köpfe nieder.
„Wirklich, meine Mum hat sich so peinlich aufgeführt. Wahrscheinlich hat sie vergessen, dass sie auch mal jung war“, lachte ich und hörte auf wild in der Gegend rumzugestikulieren. Sein Blick war plötzlich ganz ernst und starr geworden, während er abrupt stehen geblieben war.
„Was ist?“, fragte ich verwirrt und blieb ebenfalls stehen.
„Also wenn es nicht passt, dann können wir das auch gerne ein anderes Mal machen.“
„Nein was warum?“
„Weil du mich plötzlich so komisch anschaust. So als wäre dir etwas wichtiges eingefallen.“
„Alles gut, ich frage mich nur warum du das willst.“
„Was? Das habe ich dir doch schon erzählt.“
„Ja schon, aber was hat dich zum Weinen gebracht?“ Kopfschüttelnd lief ich wieder weiter. Ich wollte ihm nichts davon erzählen. Gar nichts. Klar noch vor ein paar Stunden hatte ich mir jemanden gewünscht, der zuhören würde, aber jetzt wo er da war, bekam ich den Mund nicht auf. In meinem Kopf war plötzlich eine Sperre, die verhindern wollte, dass irgendwelche Gedanken den Weg nach draußen fanden. Angespannt suchte ich nach Worten, die meine Situation möglichst emotionslos beschreiben würden. Ich suchte überhaupt nach Worten, die ich über meine Lippen bringen würde, ohne gleich in Tränen auszubrechen. Doch ich fand sie nicht.
Eine Weile liefen wir schweigend nebeneinander und ich versuchte krampfhaft diese passenden Worte zu finden. Natürlich fand ich sie nicht und es würde mich nicht mal wundern, wenn es sie nicht einmal gab. Also versuchte ich abweisend zu reagieren. So wichtig würde diese Information für ihn schon nicht sein. Ich meine was interessierte ihn das Leben eines Fremden? Das interessierte ihn doch nicht wirklich oder?
„Ist das so wichtig? Ich will nämlich nicht drüber reden.“
„Nicht unbedingt wichtig für mich, aber für meine Schwester,... denke ich. Sie macht sich schon bei mir viele Sorgen und versucht es mir jeden Tag auszureden, da wird sie bei dir das Gleiche tun und vor allem dann, wenn sie den Grund dafür nicht kennt.“ Ich seufzte und ließ meine Schritte wieder etwas langsamer werden.
Nachdem wir eine Weile still neben einander her gelaufen waren, blieb er plötzlich vor einem engen Waldweg stehen. Zusammen schlugen wir uns durchs nasse Dickicht, bis wir zu einem noblen Glashaus kamen, dass in diesen dunklen Wald gar nicht reinpassen wollte. Beinahe alle Zimmer waren hell erleuchtet und das Tor stand Sperrangel weit offen, sodass jeder Einbrecher ohne größere Probleme eintreten könnte. Aber schon allein dieser düstere Wald würde wohl jeden von diesem Haus fernhalten. Leise führte er mich durch das prunkvolle Haus. Wir bemühten uns darum, dass sie nichts mitbekommen würde, doch sie war aufmerksamer als wir dachten und schon einige Minuten später stand sie erwartungsvoll im Türrahmen und musterte mich. Sie war groß, schlank und blond und trug eine eckige Brille, die sie älter und kühler wirken ließ. Ihre langen Haare hatte sie nur an den Seiten zurück gesteckt, sodass ihr keine nervigen Strähnen ins Gesicht fielen. Sie hatte lässige Klamotten an und sah so aus, als wolle sie jede Sekunde im Bett verschwinden und genau das, gab mir erst recht das Gefühl unerwünscht zu sein.
„Was genau wird das hier?“, fragte sie mürrisch und musterte mich mit ihren kühlen, braunen Augen.
„Ich bin Alex“, antwortete ich, als Lucas nicht darauf reagierte und reichte ihr die Hand.
„Nadja“, entgegnete sie knapp und nahm meine Hand nur entgegen, damit kein komischer Moment entstehen würde.
„Wir müssen uns unter vier Augen unterhalten“, sagte Nadja und warf Lucas einen auffordernden Blick zu. Augen rollend kam er auf mich zu und wartete, bis sie uns für einen Moment alleine ließ, damit er mich das Gleiche noch ein Mal fragen konnte.
„Mein Dad und meine Schwester wurden umgebracht. Ich hoffe das reicht dir als Antwort“, zischte ich und versuchte jeglichen Blickkontakt zu vermeiden, was mir ungewöhnlicher Weise nicht schwer fiel. So war es nun mal. Das waren die Fakten und wenn ich sie geradewegs aussprach, fühlten sie sich gar nicht mehr so furchteinflößend an. Vielleicht hörte es sich so an, als wären sie mir egal, aber das waren sie nicht und vielleicht reichte es sogar, wenn nur ich das wusste.
Während er weg war und ich sie nur leise diskutieren hörte, sah ich mich um. Sein Zimmer war ein typisches Jungszimmer, wenn man in diesen Schubladen denken wollte. Es war unordentlich. Überall lagen Klamotten und stapelweise Schulhefte rum. Die Wand war in einem pastell Blau gestrichen und der Boden mit hellem Teppich ausgelegt. In der linken Ecke des Zimmers stand sein Bett, auf das ich mich ungefragt setzte. Mein Blick fiel aufmerksam auf ein gemaltes Bild, das ihn und ein paar andere Jungs zeigte. Stolz standen sie auf dem Spielfeld und lächelten zufrieden in die Kamera, während ihre Trikos in der Sonne leuchteten. Wie alt er da wohl gewesen sein musste? Seine Gesichtszüge waren noch sehr kindlich und im Vergleich zu den anderen, war er der Kleinste. Er sah glücklich aus und ich fragte mich wo dieses Spiel stattgefunden hatte. Von seinen Erzählungen aus konnte ich schließen, dass er in Berlin keine schöne Zeit gehabt hatte, warum also lächelte er so zufrieden in die Kamera?
Unter dem Bild lag ein Basketball, der von tausend Unterschriften übersät war, jedoch schon etwas Luft gelassen hatte. Ob er noch spielte?
Mitten in meinen Überlegungen wurde die Tür aufgeschlagen und Lucas kam mit einem riesigen Korb unterm Arm und unzähligen Tüten Gummibärchen, hinein gestolpert. Die Ladung war so groß, dass sie fast seinen Kopf bedeckte und ich anfing zu staunen, wie seine Schritte noch so gerade sein konnten, ohne, dass er dabei den Boden sah.
„Sorry, dass du warten musstest, aber meine Schwester war heute mal wieder besonders diskussionsfreudig.“
„Schon gut, sie mag mich nicht oder?“
„Sie hat ja kaum ein Wort mit dir gewechselt, aber ja, sie kann dich nicht wirklich leiden“, lachte er und stellte den Korb auf dem Boden ab.
„Meinst du sie ändert irgendwann ihre Meinung über mich?“, fragte ich unsicher. Aus irgendeinem Grund wollte ich ihm gefallen und dafür musste mich seine Schwester, wohl oder übel, leiden können.
„Na ja, nimm es nicht persönlich, aber sie ist sehr kompliziert, außerdem kann sie eigentlich niemanden leiden, außer meinen besten Freund. Keine Ahnung warum ausgerechnet den.“
„Wie heißt er?“
„Du wirst ihn bestimmt noch kennenlernen. So, dann erzähl mal“, forderte er mich auf und ließ sich neben mich aufs Bett fallen. Immer noch hatte ich keine Lust darüber zu reden. Außerdem merkte ich, wie ich meine Augen nicht mehr von dem Blut nehmen konnte. Verführerisch starrte mich das Blut an und wartete nur darauf, dass ich meine spitzen Zähne in die Verpackung stechen würde.
„Also ich würde lieber etwas von dem Blut trinken“, sagte ich geradewegs heraus und spürte wie meine Zähne hervortraten, ohne, dass ich es gewollt hatte.
„Na gut, aber willst du nicht erst einmal deine Jacke ausziehen?“
Lächelnd nickte ich, zog die Jacke aus und legte sie neben mich.
„Ist das Deiner?“, fragte er verwirrt und musterte mich beinahe vorwurfsvoll. Verwirrt von dieser Frage starrte ich erst ihn an, folgte dann seinem Blick und schaute schließlich auf den Pulli, den ich trug. Ich hatte vergessen mir etwas anderes, als Leandro´s Pulli rauszusuchen. Nun wirkte ich wahrscheinlich noch ungewöhnlicher, als normaler Weise. Ich kannte Leandro und so langsam fing ich wieder an über ihn nachzudenken. Natürlich hätte er ein Problem mit diesem Treffen, was ich ihm eigentlich nicht mal verübeln könnte. Ich kannte Lucas nicht und vielleicht hatte er sich auch mehr, als nur Freundschaft erhofft, aber das hieß ja nicht, dass ich mich darauf einlassen würde. Ich hatte nichts Verbotenes getan und das würde ich auch nicht tun. Ich würde schließlich nicht die gleichen Fehler, wie Leandro machen, da war ich mir sicher!
„Ähm, was genau?“, fragte ich leise, um den Anschein zu erwecken, dass ich nicht lange nachgedacht hatte, sonder einfach nicht wusste, was er meinte.
„Dein Pulli, er sieht ziemlich groß aus, als würde er nicht dir gehören.“
„Das kann sein“, entgegnete ich knapp und hoffte er würde nicht länger nachfragen. Natürlich wusste ich worauf er hinaus wollte, aber zu dieser Frage wollte ich ihm eigentlich keine Antwort geben.
„Also eigentlich wollt ich fragen, ob der von deinem Freund ist“, antwortete er etwas verlegen und ließ seine Augen im Raum umherschweifen.
„Ja ist er. Wundert dich das etwa?“
„Ehrlich gesagt schon ein bisschen. Ich hätte jedenfalls etwas dagegen, wenn sich meine Freundin nachts, alleine, mit einem fremden Typen treffen würde. Aber vielleicht bin ich auch eifnach zu verklemmt“, entgegnete er kühl. Seine Miene war ernst, trotzdem wusste ich, dass er seine letzten Worte nicht ernst gemeint hatte.
„Das ist nicht zu verklemmt und das weißt du selbst, außerdem...“ Meinen Satz hatte ich nicht annähernd beendet, da ergriff er wieder das Wort:
„Endlich jemand, der meine Ironie versteht.“
„Mhh, ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich unter Ironie zählt, aber ja ich verstehe es. Eigentlich würde ich es auch so sehen, aber er bekommt es ja nicht ein Mal mit, wenn ich verschwinde und wenn doch, dann interessiert es ihn sowieso nicht.“ Vielleicht tat ich Leandro gerade unrecht, schließlich wollte er immer wissen was ich gerade machte und mich vor allem beschützen, aber in den letzten Tage hatte ich das Gefühl bekommen, dass sich seine Ansichten etwas verändert hatten. Er verschwand ohne ein Wort und ich tat das auch. Wir redeten nie darüber, wahrscheinlich, weil es für uns beide einfacherer war.
„Wohnt ihr zusammen?“
„Ja, aber wir reden nie über die wichtigen Dinge und das ist wohl der Grund dafür, dass ich ihm Vorwürfe mache.“
„Und ich nehme an, das ist auch der Grund dafür, warum du überhaupt mitgegangen bist, richtig?“
„Ganz so würde ich es nicht sagen, aber es hat wohl seinen Teil dazu beigetragen, ja.“
„Hast du mal Basketball gespielt?“, fragte ich schnell. Eigentlich lockte mich das Blut viel mehr, als die Antwort auf diese Frage, aber nur so konnte ich überhaupt vom Thema ablenken.
„Ja vor ein paar Jahren, noch im alten Quartier.“
„Und warum hast du aufgehört?“
„Hier ist es zu kompliziert. Ich meine ständig müsste ich mir Ausreden einfallen lassen. Warum ich zu einigen Spielen und Trainingsstunden nicht kommen könnte und warum man mich auf Fotos nicht sehen kann und noch tausend andere. Es wäre viel zu schwierig das Geheimnis zu bewahren.“
„Verstehe und warum schließt du dich nicht anderen Vampiren an? Hier in Hamburg gibt es doch mit Sicherheit auch so ein Quartier oder?“
„Keine Ahnung, danach habe ich nicht gesucht und das werde ich auch nicht. Ich habe die Nase voll von Vorschriften und Regeln.“
„Du weißt aber schon, dass du hier auch Regeln befolgen musst oder?“, fragte ich mit einem Unterton des Vorwurfes in meiner Stimme und musterte ihn mit hochgezogener Augenbraue. Ich erinnerte mich an unsere Begegnung vorhin und daran, wie er versucht hatte mich einzuschüchtern, als er noch nicht gewusst hatte, dass ich auch ein Vampir war. Ich mochte ihn und genau deshalb hatte ich Angst danach zu fragen, ob er von jungen Mädchen das Blut trank und sie einschüchterte.
„Ja, aber die sind anders. Wie auch immer, dein Freund, wie ist er so?“
„Unwichtig. Was hättest du gemacht, wenn ich kein Vampir gewesen wäre? Wenn ich dieses Mädchen gewesen wäre, das du hättest einschüchtern können?“, fragte ich ohne auf seine Frage einzugehen und sah ihn streng an. Er sollte mich jetzt bloß nicht anlügen, sonst wäre ich weg.
„Nicht viel. Ich war wütend auf meine Schwester und ich musste es irgendwie auslassen.“
„Und das hättest du an einem unschuldigen Mädchen gemacht?“
„Nein, ich hätte nur ein bisschen meine Macht spielen lassen und sie am Ende hypnotisiert. Ich hätte sie nach Hause geschickt und ihr eingetrichtert, dass sie sich um diese Uhrzeit nicht alleine hier aufhalten sollte.“ Kritisch musterte ich ihn. War das wirklich seine Absicht gewesen? Sagte er wirklich die Wahrheit. Ich war skeptisch. Ich weiß nicht wieso ich plötzlich so misstrauisch war, doch dieses Gefühl legte sich schnell, als er wieder anfing nach Leandro zu fragen.
„Du wirst ihn noch kennenlernen, wir werden bestimmt die gleiche Schule besuchen.“
„Du wirst auch zur Schule gehen?“
„Ja ich muss, soll meinen 10. Klassenabschluss machen.“
„Und wann kommst du? Noch vor Weihnachten?“
„Nein, wir werden nach Neujahr dazustoßen.“
„Gefällt mir, hoffentlich kommen wir in eine Klasse“, sagte hoffnungsvoll und rückte etwas näher an mich ran.
„Aber seinen Namen kannst du mir doch wohl verraten?“
„Können wir das bitte lassen? Ich meine da liegt Blut vor unserer Nase und wir trinken es nicht.“ Er lachte, aber es war ein verlegenes Lachen. Ihm gefiel es nicht, dass ich nicht mehr von Leandro erzählen wollte. Aber das war nicht mein Problem. Jetzt hatte ich Hunger und jegliche Gesprächsthemen schienen von Sekunde zu Sekunde uninteressanter zu werden. Ich wollte das Blut, jetzt.
Kurz war es zwischen uns komisch geworden. Eigenartig still und ich vermisste die lockere Art, die er eben noch gehabt hatte. Vielleicht hatte er sich wirklich mehr von der Sache versprochen. Er war ein Typ, die dachten doch meistens nur an das Eine oder? Diese Merkwürdigkeit verschwand, als wir den ersten Blutbeutel leer getrunken hatten. Das Blut hatte er in der Mikrowelle erwärmt und so schmeckte es noch viel besser. Ich genoss jeden einzelnen Schluck und das entspannte Gefühl zu wissen, dass wir noch eine Menge Blut vor uns hatten. Die Stimmung wurde ausgelassener und ich hatte keine Hemmungen mehr, ihm einiges von meiner Vergangenheit zu erzählen. Ich erzählte ihm sogar Sachen, Erinnerungen, die ich nicht mal Leandro erzählt hatte. Lucas hörte mir zu und er war mir gegenüber auch sehr offen. Er erzählte von sich aus, mehr aus seinem Leben und ich bekam das Gefühl, ich müsste nichts vor ihm verstecken. Mir war klar, dass dieses Gefühl auch vom Blut verursacht wurde, aber das ignorierte ich in dieser Nacht. Wir redeten viel und lange und ich war erstaunt, dass er den Grafen kannte. Er schien vieles über ihn zu wissen und hätten wir ihn früher kennengelernt, dann hätte er uns vielleicht sogar helfen können.
Gleichzeitig erfuhr ich, dass es bei seinem alten Quartier ebenfalls einen Grafen gegeben hatte. Nur war der große Unterschied, dass er nicht besonders zu fürchten war. Stattdessen betrank er sich lieber mit Blut und vernachlässigte so einige Pflichten. Er sollte eine Führungsrolle darstellen, Struktur ins Quartier und die Stadt bringen. Laut Lucas gab es in Berlin, genauso wie in England, zwei weitere Quartiere. Hexen und Werwölfe. Zwischen allen sollte er den Frieden bewahren. Ich fragte mich, warum er noch nicht ausgewechselt wurde, aber anscheinend musste man sich dort an die Gesetze halten. Lange quälte ich mich nicht mit dieser Frage, da ich von Gesetzen und Regelungen in dieser Welt keine Ahnung hatte und sie ehrlich gesagt auch nicht haben wollte.
Stunden vergingen in denen wir uns blendend verstanden, Witze rissen, uns amüsierten, gleichzeitig aber auch über ernste Themen reden konnten. Lucas hatte schon lange aufgehört weiter zu trinken und mir den Rest überlassen. Seiner Meinung nach hatte ich es nötiger und es war schon lange der Punkt gekommen, wo ich seine Behauptungen nicht mehr hinterfragte. Das Blut benebelte mich mehr und mehr, trotzdem hörte ich nicht auf. Ich genoss den Rausch und Lucas machte nicht den Anschein, als wolle er mich davon abhalten. Wir legten uns in sein Bett, als mich leichter Schwindel überkam und meine Sätze nur noch sinnloses Gefasel ergaben. Interessiert starrte ich seine Decke an und war erstaunt, wie viele verschiedene Motive ich dort erkennen konnte. Ich erkannte Einhörner, Drachen, Löwen, Häuser und tausend andere Dinge. Ich hatte schon lange aufgehört ihm zuzuhören, bis er mir plötzlich den Blutbeutel aus der Hand riss und ihn auf seinen Nachttisch legte.
„Eyy was soll das“, lallte ich, wobei die letzten Wörter fast verschluckte
„Ich glaube du hast erst mal genug, morgen sehen wir weiter.“ Morgen? Er würde mich noch mal zu sich lassen? Ich musste lächeln, diese Idee gefiel mir ziemlich gut.
„Wirfst du mich raus?“
„Was? Nein, solltest du denn Zuhause sein?“ Ich schüttelte den Kopf und rückte etwas näher an ihn ran. Auch wenn ich ihn erst seit kurzem kannte, mochte ich ihn wirklich und eigenartiger Weise sehnte ich mich nach seiner Nähe. Doch über dieses Gefühl müsste ich mir keine Sorgen machen. Für mich war klar, dass ich immer Leandro gut finden würde, nur ihn und sonst keinen anderen. Ich wünschte mir einfach Leandro, mit dem Humor und Einfühlungsvermögen von Lucas, aber man kann ja schließlich nicht alles haben. Vielleicht wollte ich gerade nicht einmal wirklich Lucas Nähe, sondern einfach irgendeine Nähe. Ich wollte kuscheln, mit irgendwem, den ich mochte. Es lag ganz klar am Blut und genau deswegen beunruhigten mich diese Gedanken keine Sekunde lang.
Die Überlegungen in meinem Kopf machten für mich Sinn und wenn ich ihnen lauschte, hatte ich nicht das Gefühl, als hätte das Blut etwas mit mir angestellt, doch wenn ich anfing zu reden, dann merkte jeder, dass ich nicht ganz bei Sinnen war.
„Kann ich...isch bei dir?“
„Was?“ Er lachte.
„Ich glaube, das war doch etwas zu viel für dich. Aber ernsthaft, wirst du Zuhause vermisst?“, fragte er besorgt, während er meine Hand von seinem Brustkorb nahm und sie wieder auf mein linkes Bein legte. Ich musste schmunzeln und nutze die mir gebotene Gelegenheit, um ihn etwas in Verlegenheit zu bringen. Als wäre es selbstverständlich, legte ich meinen Kopf auf seine Brust und kuschelte mich etwas näher an sein Gesicht ran.
„Alex lass das“, forderte er mich auf, tat aber nichts, um mich wieder auf meine Seite zu legen.
„Haben wir Gummibärchen?“
„Nee, die hast du alle auf gefuttert.“
„Ich will schlafen“, murmelte ich gähnend und drückte ihn noch etwas näher an mich. Er roch gut, sein Parfüm war nicht zu süß und nicht zu herb, irgendwie perfekt. Ich genoss den Geruch und nahm immer wieder tiefe Atemzüge, um mehr davon zu bekommen. Sein Oberkörper war gut trainiert und es lag sich dort außergewöhnlich bequem. Aber wahrscheinlich hätte ich gerade auch auf einer Steinplatte schlafen können...
„Kannst du ja, auf deiner Seite. Ich will wirklich keinen Ärger mit deinem Freund und ich will nicht, dass du nachher ein schlechtes Gewissen hast.“
„Hmm, du bist bequem.“
„Danke, Alex bitte. Du bringst mich in Verlegenheit“, entgegnete er seufzend und legte seine Hände neben sich, damit er meinen Rücken auch ja nicht berührte. Ich wusste, dass ich ihn in Verlegenheit brachte und das gefiel mir.
„Wie heißt er denn nun?“
„Hmm.“
„Alex?“ Ich bekam schon lange keine ganzen Wörter mehr raus und murmelte nur noch unverständliches Zeug, bis ich mich schließlich meiner Müdigkeit hingab und einschlief.
Unruhig drehte ich mich hin und her, während ich versuchte die Augen nicht zu öffnen. Es war ungewöhnlich hell für unser Zimmer und ich fragte mich, wer die Jalousien oben gelassen hatte. Ich seufzte. Es half ja alles nichts. Ich musste aufstehen und die Jalousien runterziehen, um wieder einschlafen zu können. Schläfrig öffnete ich die Augen und richtete mich gähnend auf. Kurz starrte ich vor mich hin, bis ich begriff, dass ich gar nicht in Leandros Bett lag. Erschrocken zuckte ich zusammen und schlug die Hand vor meinen Mund, als ich mich daran erinnerte, in Lucas Bett eingeschlafen zu sein.
Empört starrte ich ihn an, als ich mich erinnerte, dass ich die ganze Nacht in seinen Armen und auf seinem Brustkorb geschlafen haben musste. Leise stand ich auf und schlich mich zu meiner Tasche. Ich musste hier weg! Gott, was hatte ich nur für scheiße gelabert? Die Nacht war verschwommen und ich fragte mich panisch, ob etwas zwischen uns passiert war. Inständig hoffte ich es nicht, ich konnte doch unmöglich den gleichen Fehler, wie Leandro gemacht haben. Und mir, würde er es wohl kaum verzeihen. Er würde es nicht verstehen, er würde mich dafür hassen und vielleicht würde ich das auch.
Leise tapste ich über den Boden und öffnete die Tür. Doch bevor ich auch nur ansatzweise durch den Türrahmen verschwinden konnte, stand er plötzlich vor mir und grinste mich breit an. Ich spürte wie meine Wangen rot wurden und mein Gesichtsausdruck alles verriet. Es war mir so unglaublich peinlich, was ich gestern gesagt und getan hatte.
„Kein Sorge, es ist wirklich nichts passiert.“ Mein Atem ging schnell, als er hätte er mich bei etwas Verbotenen erwischt. Unruhig sah ich zwischen ihm und dem Boden, hin und her.
„Ich schwör. Schau mich nicht so an, als würdest du alles bereuen.“ Erst jetzt wachte ich aus meiner Starre auf und begann verlegen auf meiner Unterlippe herumzukauen.
„Tue ich aber.“
„Warum? Es ist nichts passiert, gar nichts und ich dachte du wolltest etwas neues ausprobieren?“
„Ja schon, trotzdem habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich habe dich gestern so zu gelabert und war einfach nur anstrengend. Sorry.“
„Was? Du musst dich doch nicht entschuldigen. Ich wusste schließlich worauf ich mich einlasse und ich mag dich. Du bist nicht so langweilig, wie all die anderen Mädchen. Außerdem hab ich dich mindestens genauso zu gelabert, wie du mich.“ Ich lächelte. Mir fiel nichts anderes ein und ich wollte das Gespräch nicht versauen. Er war irgendwie süß und ich war ihm unheimlich dankbar, dass er mir keine Vorwürfe machte und meine Entscheidungen verachtete.
„Danke, trotzdem tut es mir leid, ich hab bestimmt Unmengen an unsinnigem Zeug gelabert, richtig?“
„Quatsch... nun vielleicht etwas, aber das hat mich nicht gestört, im Gegenteil, ich fands ganz niedlich.“
„Niedlich? Trotzdem, ich hätte nicht so anhänglich sein sollen. Echt nicht. Das ist wirklich nicht meine Art. Also echt nicht...“
„Ist schon gut. Du musst dich nicht rechtfertigen“, lachte er und stellte sich näher vor mich, in den Türrahmen, während er sich mit dem linken Arm, über seinem Kopf, abstützte.
„Doch, du hattest Recht gestern Abend und das Blut ist keine Entschuldigung für irgendetwas.“
„Ach komm schon, es ist doch nichts passiert. Mach dir keinen Kopf.“
„Okay. Wie auch immer, ich muss los“, sagte ich, als ich auf die Uhr sah und mitbekam, dass es bereits neun Uhr morgens war. Eigentlich nicht meine Zeit, um aufzustehen, aber heute fühlte ich mich gut. Na ja, abgesehen von meinem schlechten Gewissen.
„Kommst du heute wieder?“
„Bestimmt.“
„Aber erst abends, ich muss mich mal in die Schule begeben, es scheint ja keine Sonne.“
„Okay. Tschüss“, hauchte ich und umarmte ihn. Er drückte mich fester an sich, als gedacht und auch wenn ich es nicht genießen wollte, so tat ich es trotzdem. Er roch so unheimlich gut und seine Umarmung war warmherzig.
Tatsächlich hatte das Blut etwas mit mir gemacht. Ich fühlte mich stark und ausgeschlafen, als hätte ich perfekt geschlafen und keinen Grund mehr zur Sorge, zumindest nicht was meine Familie anging. Der Durst war verschwunden und meine traurige Stimmung auch.
So schnell ich konnte sprintete ich nach Hause und hoffte, dass alle schlafen würden. Ich hatte keine Lust mich bei irgendwem erklären zu müssen. Weder bei meiner Mum, noch bei Leandro. Ein schlechtes Gewissen hatte ich trotzdem, es war zwar nichts passiert, trotzdem hatte ich mich nicht richtig verhalten. Wenn es umgedreht gewesen wäre, dann wäre ich eifersüchtig. Aber immer noch war ich mir sicher, dass Leandro dafür keinen Grund hätte. Ich machte mir immer noch keine Sorgen, dass Lucas irgendwann mal mehr, als nur ein Kumpel, werden würde. Vielleicht flirtete ich ein wenig mit ihm, aber das war ja nicht verboten, so lange ich mir sicher war, dass ich es nicht ernst meinte.
„Guten Morgen“, sagte ich, als ich zur Tür hineinkam und meine Mutter am Herd stand, während sie Eierkuchen zum Frühstück machte.
„Morgen“, murmelte sie abwesend. Vorerst vergaß ich mein schlechtes Gewissen und beschloss fröhlich in den Tag zu starten. Ich hatte gute Laune und ich war mir sicher, dass es gut wäre, wenn ich die anderen daran Teil haben lassen würde.
„Müssen wir noch irgendwelche Sachen für die Schule besorgen? Und was ist mit den Büchern, müssten wir die nicht mal bald bestellen?“ Eigentlich interessierte mich die Schule nicht die Bohne, aber heute wollte ich etwas produktives machen. Ich hatte richtig den Drang dazu, außerdem schien mir das ein guter Punkt zu sein, um mich mit meiner Mutter richtig unterhalten zu können. Für den Anfang jedenfalls.
„Die bekommt ihr von der Schule bereit gestellt. Vielleicht solltet ihr demnächst mal in die Stadt fahren und ein paar Hefter besorgen oder Stifte, was auch immer ihr braucht”, antwortete sie gelangweilt und drehte einen Eierkuchen um, während sie ihn ganz genau betrachtete.
„Okay, ich werd mal mit Leandro reden, ist er oben?“
„Ich dachte du weißt das? Keine Ahnung, die Zeiten wo ihr euch abgemeldet habt, sind ja auch schon lange vorbei. Ihr verschwindet jede Nacht, ohne ein Wort zu sagen, aber wenn die Schule anfängt, dann könnt ihr das vergessen!“ Ihre Vorwürfe ignorierte ich, da ich einen Streit vermeiden und mich für den gestrigen Abend nicht erklären wollte.
„Und Tom? Ist er oben?“
„Ne, der ist schon in der Schule, er hat sich ja nicht so quergestellt, wie ihr.“ Und schon wieder ein Vorwurf, aber auch dieses Mal ignorierte ich ihn einfach.
„Wollen wir am Wochenende vielleicht etwas machen? Gemeinsam als Familie. Keine Ahnung Schwimmbad oder so, Tomi würde sich bestimmt darüber freuen.“
Irgendwie erwartete ich euphorische Zustimmung von ihr, doch stattdessen zeigte sie keine Reaktion und wendete den nächsten Pfandkuchen. Kurz zögerte ich und überlegte ob ich sie noch ein Mal fragen sollte, doch dann bemerkte ich, wie die ersten Tränen ihre Wangen runter kullerten. Panisch wischte sie sie weg, in der Hoffnung ich hätte es nicht bemerkt. Mein Versuch war sichtlich gescheitert, aber endlich fühlte ich mich in der Lage dazu, für sie da zu sein und ihr zuhören zu können. Langsam lief ich auf sie zu und schloss sie in meine Arme. Vorsichtig legte sie ihren Kopf auf meine Schulter und ich spürte schon jetzt, wie ihre nassen Tränen den Pulli durchnässten. Mir war schon klar woran sie dachte, an Mia.
„Das wird schon wieder.” Meine Worte waren lächerlich, wie sollte der Tod der eigenen Tochter schon wieder werden? Aber mir fiel einfach nichts ein, was auch nur annähernd aufmunternd gewesen wäre. Vielleicht gab es so etwas in dieser Situation auch einfach nicht, vielleicht sollte man gar nicht drüber sprechen? Ich war noch nie ein Mensch großer Worte gewesen und das wusste sie auch. Genau deswegen hoffte ich wohl, dass sie mir meine schwachen Worte verzeihen würde. Aber im Ernst, was sollte ich dazu sagen? Ich konnte ihr schlecht sagen, dass ich wusste, wie sie sich fühlte. Das wusste ich nämlich nicht! Ich hatte meine Schwester verloren und sie ihre Tochter. Es war das gleiche Mensch, aber es waren unterschiedliche Gefühle. Außerdem fühlte wo jeder auf seine Weise. Keiner konnte doch wissen, wie sehr einen bestimmte Dinge zusetzten. Niemand konnte das nachvollziehen, wissen wie man sich wirklich fühlte. Selbst dann nicht, wenn man genau das Gleiche erlebt hatte. Und wenn wir mal ehrlich sind, kann doch niemand wirklich erklären, wie man sich fühlt. Ja, vielleicht ansatzweise, vielleicht auch etwas mehr als das, aber doch nicht soweit, dass sich ein anderer den Schmerz vorstellen konnte. Das ging nicht, da war ich mir sicher.
„Du weißt nicht was du da sagst! Du hast keine Ahnung, wie es ist seine Tochter zu verlieren. Das Gefühl, das dich jede Sekunde verfolgt. Das Gefühl, du hast sie im Stich gelassen. Ich habe sie im Stich gelassen, ich hätte ihr helfen müssen.“
„Nein Mum.“
„Doch! Ich verstehe es immer noch nicht. Wie können so wenige Sekunden, einfach das Leben eines so unschuldigen, jungen Mädchens beenden? Wie? Auch wenn es schwachsinnig ist, ich hoffe immer noch, jeden Tag, dass sie eines Tages einfach vor mir steht und ich sie noch ein Mal umarmen kann. Ein einziges Mal. Gott Alex, was würde ich dafür nur alle geben?“
„Du hast Recht, ich weiß nicht, wie du dich fühlst und dir zu sagen, dass das schon alles wieder wird, ist auch Unsinn, aber ich versuche dich zu verstehen. Ich habe sie auch verloren. Nicht als Tochter, aber als Schwester und ich habe sie auch geliebt. Diese Umarmung wünsche ich mir auch, so sehr, mehr als alles andere. Ich muss jeden Tag an sie denken, jede freie Sekunde und ich vermisse sie.“
„Ich mache mir Vorwürfe. Ich war nicht für sie da. Nicht für Mia und für Tomi auch nicht. Was bin ich nur für einen Mutter?” Ich schwieg. Es gab keinen Weg, um sie aufmuntern zu können und ihre miese Laune verdarb auch Meine. Sie dachte an Tom, an Mia, aber nicht an mich. Und anscheinend wollte sie es auch nicht, aber auf ihren Rat und ihren Zuspruch konnte ich getrost verzichten, immerhin hatte ich meine eigene Variante gefunden. Jetzt brauchte ich sie nicht mehr dafür. Vielleicht war es auch meine Aufgabe geworden, ihr zu helfen.
„Aber wir sind doch da und das, was du denkst falsch gemacht zu haben, kannst du ja jetzt anders machen.“ Ich wusste nicht, ob ihr meine Worte geholfen hatten, aber sie waren besser als nichts. Wir umarmten uns noch eine Weile und schwiegen. Dieses Mal war es jedoch kein unangenehmes Schweigen. Es war okay und wir beide wollten wohl für einen kurzen Moment in unseren eigenen Gedanken bleiben. Wir lösten uns erst voneinander, als Leandro die Treppe runter kam und uns verschlafen musterte. Ich konnte ihm kaum in die Augen sehen und verschwand lieber auf mein Zimmer, bevor sie mich mit tausend Fragen löchern würden, auf die ich sowieso keine Antworten hätte.