Der Geruch. Der Geruch dieses Ortes war das Erste, was Sakura wahrnahm. Es war beinahe, als würde der dumpfe Gestank des Todes sie erstmals seit langer Zeit aus dem furchtbaren Alptraum erwecken, der ihren Geist gefangen gehalten hatte.
Sie spitzte die Ohren und hob den Kopf. Doch die Bewegung war träge und erschöpft, nicht so optimistisch und energisch wie früher.
Der Gestank des Todes hing wie eine Qualmwolke über diesem Ort. Schmierig mischten sich die Aromen von Krankheiten darunter, und die scharfen, stechenden Ausdünstungen der Schmerzen.
Sakura schloss die Augen wieder. War sie also endlich hier angekommen, am Ende.
Der Wagen zog den Anhänger, in dem sich Sakura befand, auf einen kleinen Hof. Sie hörte Schritte, jemand öffnete die Tür und sie wurde am Halfter herausgeführt. Resigniert widersetzte sie sich nicht, sondern ließ sich in das Gebäude führen.
Sie war erstaunt, sich in einem kleinen Stall wieder zu finden. Ein paar Pferde schnaubten neugierig bei ihrem Eintreten, aber Sakura achtete wenig darauf. Sie wurde in eine Box geführt, man löste das Halfter. Sie fragte sich, wie lange sie hier bleiben musste: Umgeben von Elend, Tod und Krankheit, von Gift und Schmerz. Sie wollte das alles hinter sich lassen.
Der Tag verging und Sakura trieb wie auf einer Wolke dahin. Es war eine willkommene, erschöpfte Alternative zu den grauenvollen Alpträumen der letzten Wochen. Wie viel Zeit war schon vergangen? Sakura wusste es nicht, aber sie wusste, dass die Wunde niemals heilen würde.
Den ganzen Tag über geschah nichts. Niemand kam und wollte reiten, es gab keinen Ausflug auf die Weiden, und erst spät am Abend gab es Futter und frisches Heu. Es war friedlich hier, sogar die anderen Pferde waren ruhig. Dieser Ort lag zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein, es war eine Brücke, eine Schwelle, etwas, wo man sich nicht wohnlich einrichtete.
Am Abend wurden auch drei Pferde geholt und abgeführt. Sakura würde sie nie wieder sehen. Der Stute kam es erstmals so vor, als sei sie an diesem Ort hier in Sicherheit. Endlich, endlich konnten ihre müden Gedanken zur Ruhe kommen, hörten auf, unablässig um längst vergangene Tage zu kreisen.
Sie schloss die Augen und legte den Kopf gegen das Holz ihrer Stalltür. Was für ein friedlicher Ort. Trotzdem verspürte sie eine gewisse Anspannung: Sie war auf der Schwelle, noch nicht drüben. Sie wusste, dass sie weiter gehen würde. Bald – aber wann? Diese Ungewissheit nagte an ihr, zuerst nur so schwach wie ein Flohbiss, bald sehr viel beharrlicher.
„Wann? Wann?“, schrie eine innere Stimme immer lauter. Das war eine Stimme voller Angst und voller Ungeduld. Sakura fühlte sich beinahe, als würden unzählige Wesen um die lauteste Stimme streiten: Wesen, die kämpfen wollten, gegen jene, die aufgeben wollten. Und jene Wesen, die schlafen wollten, einfach die Augen schließen, bis alles vorbei wäre.
Einige Wesen schrien auch von der Ungerechtigkeit dieser Welt, in der Sakura einst gelebt hatte, von dem ungerechtfertigten Grund, aus dem sie daraus vertrieben worden war.
Ein paar Stimmen wollten zurück zu dieser Zeit.
Die Stimme, die Sakura war, gehörte zu jenen, die einfach schlafen wollten. Sie wünschte sich Ruhe, ewiges Vergessen, das Ende von Allem.
Sie scharrte mit dem Huf im Stroh und schüttelte den Kopf, als könnte sie die lästigen Stimmen verscheuchen wie Fliegen. Sie wollte fort, weit, weit weg, wollte ihren Frieden und dann alles vergessen, von allen vergessen werden.
Doch die Welt, von der sie gedacht hatte, sie könnte sie nicht mehr erreichen, griff nach Sakura, streckte ihre Tentakel nach ihr aus, um ihre Aufmerksamkeit doch noch zu fesseln.
Sakura hörte ein Geräusch und hob den Kopf. Schritte – da huschte doch etwas durch den Stall! Sie witterte, weil sie mit einem nervösen Menschen rechnete – nervöse Menschen bedeuteten Gefahr.
Doch der Geruch war selbstsicher. Sakura öffnete die Augen und sah eine Gestalt im Stallgang. Leise. Nicht verstohlen, wie sie geglaubt hatte, sondern eben nur leise. Der Mensch ging ruhig zwischen den Pferden hindurch, die bis auf Sakura schliefen. Keines der Pferde wachte auf.
Vor Sakuras Box blieb der Mensch stehen. Sie konnte im Schattendunkel nichts erkennen, kein Gesicht, keine Farben, nichts.
Aber sie spürte, dass dieser Mensch sie ansah, fühlte ihn sie betrachten, empfand seine Aufmerksamkeit, fast, wie sie die Aufmerksamkeit eines Artgenossen empfunden hätte.
Eine leise Stimme flüsterte ein einziges Wort: „Sakura.“
Da wusste sie noch nicht, was geschehen würde. Sie wusste nicht, wer Kyle war, und hatte auch noch nicht Echos Herz donnern gehört. Sie glaubte immer noch, dass es keinen Weg zurück gäbe, keine Heilung für die schreckliche Wunde.
Doch in diesem Moment, da sie mit gespitzten Ohren, doch blind, den Menschen ansah, der ihren Namen sprach, da begann der Weg zurück.