"Existiert dein Kräutergarten noch?"
Die beinahe nachlässig geäußerte Frage war das erste, was das Schweigen der drei Männer am Frühstückstisch unterbrach. Überrascht blickte Hermine, die zusammen mit Ginny an ihrem gewohnten Platz an der Stirnseite des Speisesaals stand, zu Snape hinüber. Sie hatte nicht gewusst, dass das Anwesen der Malfoys auch einen Kräutergarten umfasste - es passte irgendwie gar nicht zu dem herrschaftlichen Habitus der Familie.
"Natürlich. Narzissa legt sehr viel wert darauf, dass unser Gewächshaus stets die seltensten Pflanzen beherbergt, das ist dir doch bekannt. Ich habe zwar nie verstanden wozu das gut sein soll, da hier niemand die Kunst des Tränkebrauens versteht, aber er befindet sich trotzdem nach wie vor in tadellosem Zustand."
Die überraschend ausführliche Antwort von Lucius Malfoy wurde von Snape lediglich mit einem Nicken quittiert und er schien den erwartungsvollen Blick seines Gastgebers absichtlich zu ignorieren. Nachdem dieser einige Minuten vergeblich auf eine Erklärung für die Frage gewartet hatte, bohrte er schließlich selbst nach: "Aus welchem Anlass fragst du?"
"Ganz offensichtlich aus professionellen Gründen. Ich würde gerne einen Blick auf die Pflanzen werfen, vielleicht ist etwas dabei, was ich für meine eigenen Vorräte gebrauchen kann!", erwiderte Snape mit einem Hauch Verachtung in seiner Stimme. Hermine lief es kalt den Rücken hinunter: Die Unstimmigkeit zwischen beiden Männern war nach dem Vortag noch immer noch aus dem Weg geräumt, doch in einer altertümlich anmutenden schweigenden Übereinkunft schienen beide zu akzeptieren, dass der Frühstückstisch nicht der Ort für ernste Diskussionen war. Je länger Hermine im Hause Malfoy lebte, umso mehr kam sie zu der Feststellung, dass die reinblütigen Zaubererfamilien in vielen Dingen noch im achtzehnten Jahrhundert festzuhängen schienen. Die geheuchelte Höflichkeit ließ sie die Anspannung zwischen Snape und Malfoy nur umso deutlicher spüren.
"Wenn sie nicht anderweitig gebunden ist, würde ich gerne deine Sklavin mitnehmen, damit sie mir zur Hand gehen kann."
"Seit wann lässt du jemand anderen deine wertvollen Vorräte zusammen stellen?", erkundigte Lucius sich misstrauisch, doch Snape erwiderte gelassen: "Seit es möglich ist, dies in menschliche Hände zu verlagern. Hauselfen würde ich nicht zutrauen, Pflanzen korrekt beschneiden zu können, aber menschliche Sklaven sind dazu unter Anleitung gewiss in der Lage."
Hermine konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Interesse am Kräutergarten nur vorgeschoben war und Snapes eigentliche Absicht war, erneut mit ihr alleine und ungestört sein zu können. Ein Blick auf das Gesicht ihres Herrn zeigte ihr, dass auch er einen ähnlichen Verdacht hatte. Da es sich jedoch offenbar nicht schickte, dies auszusprechen, und Lucius darüberhinaus in keiner Position war, Snape zu kritisieren, nickte er nur mit zusammen gepressten Lippen und widmete sich wieder seinem Kaffee.
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Ausgestattet mit einem Korb für die zu pflückenden Pflanzen folgte Hermine Snape auf einem unscheinbaren, aber sehr ordentlich angelegtem Steinpfad zum äußersten südlichen Rand des malfoy'schen Anwesens. Der einsetzende November zeigte sich von seiner freundlichen Seite und fegte statt eisigem Regen nur weiße Wolken über den Himmel, doch der Wind biss ihr trotzdem kalt in die kaum bedeckte Haut. Der knielange Umhang, den ein Hauself ihr gereicht hatte, schützte sie kaum vor der Kälte. Zitternd vergrub sie ihren freien Arm in den Falten des dünnen Stück Stoffes, als plötzlich der Wind schlagartig erlosch. Überrascht schaute Hermine auf und bemerkte gerade noch, wie Snape seinen Zauberstab zurück in seinen Umhang schob. Genervt blieb sie stehen und stemmte beide Hände in die Hüften: "Es reicht jetzt!"
Die Überraschung, die Snape ins Gesicht geschrieben stand, als er stehen blieb und sich zu ihr umdrehte, verärgerte sie nur noch mehr: "Hören Sie auf damit! Glauben Sie wirklich, ich nehme Ihnen ab, dass Sie überrascht über meine Verwirrung sind? Sie haben alles in Ihrer Macht stehende getan, um mich durcheinander zu bringen, also spielen Sie jetzt nicht den Unwissenden. Und überhaupt - wären Sie wirklich überrascht, würden Sie das gewiss nicht so offen auf Ihrem Gesicht zeigen. Ich hab diese Spielchen satt!"
"Mir war nicht bewusst, dass wir spielen", entgegnete Snape, während er seinen Gesichtsausdruck wieder in eine undurchdringliche Maske zurück verwandelte. Er hatte nur zu gut verstanden, was Hermine hatte ausdrücken wollen, doch die Jahre und die Erfahrung hatten ihn gelehrt, in jeder Situation die Oberhand zu behalten und seinen Gegenüber nicht in seine Karten blicken zu lassen. Der kurze Einblick, den er Hermine am Abend zuvor gewährt hatte, war riskant genug gewesen und er war darauf angewiesen, dass er vorerst ausreichte.
"WAS wollen Sie von mir?", kam die empörte Reaktion auf seine unzureichende Antwort. Statt sofort darauf einzugehen, setzte Snape mit langsamen Schritten seinen Weg fort und zwang Hermine so, ihm zu folgen.
"Haben Sie nachgedacht über das, was ich Ihnen gestern gezeigt habe?"
Seine emotionslose Frage warf die junge Frau neben ihm kurzzeitig aus der Bahn, doch schnell hatte sie sich wieder gefangen und nickte: "Natürlich, ich habe nichts anderes getan."
"Und?"
"Ich weiß, dass jeder Mensch seinen eigenen Patronus hat ... bis auf wenige Ausnahmen, die hier aber nicht zur Anwendung kommen. Ich muss also davon ausgehen, dass Sie es waren, der uns damals im Wald geholfen hat."
"Weiter?"
Er hatte zu keiner Sekunde befürchtet, dass Hermine zu einem anderen Ergebnis als dem eben formulierten kommen würde, doch viel wichtiger als das waren die daran anschließenden Schlussfolgerungen. Bemüht, seine innere Anspannung nicht zu zeigen, starrte er geradeaus, während er geduldig auf weitere Worte der störrischen Gryffindor wartete.
"Das steht im Widerspruch zu allem, was ich bisher über Sie weiß", fuhr sie schließlich langsam fort, "und genau das gestehe ich Ihnen auch zu: dass Sie voller Widersprüche sind."
Die Antwort war unbefriedigend, doch noch wollte Snape nicht aufgeben: "Sie nehmen ernsthaft an, ein einzelner Mensch könne in sich so extreme Widersprüche vereinen?"
"Nein, natürlich nicht. Trotzdem bleiben neben dieser Tat andere Fakten unangetastet. Sie haben Dumbledore ermordet. Sie haben sich für Geld meinen Körper gekauft. Letzteres hat zwar nicht zwingend Auswirkungen darauf, zu welcher Seite ich Sie zuordne, ersteres aber schon. Ihr Patronus ist Beweis dafür, dass Sie Harry geholfen und damit Dumbledores Sache unterstützt haben. Ihr Mord ist Beweis dafür, dass Sie Voldemorts Sache unterstützen."
Innerlich seufzte Snape. Wie oft hatte er mit Dumbledore gestritten, als dieser noch lebte, hatte ihm gesagt, dass er zu viel verlangte? Nicht nur von ihm selbst, sondern von allen, die später involviert sein würden. Und hier ging eines der klügsten Mitglieder des Ordens des Phönix neben ihm und durch alles, was seit dem Mord geschehen war, war es selbst von ihr zu viel verlangt zu verstehen. Wie oft hatte er den alten Narren in Gedanken schon verflucht, hatte damit gehadert, dass in seinem Plan der Tod von Harry nie vorgekommen war, nicht einmal als Möglichkeit. Und nun war er mehr denn je gezwungen, Dinge zu tun, die er nicht tun wollte.
"Ich begrüße es, dass Sie mir unser gemeinsames Erlebnis nicht anlasten", erwiderte er schließlich sarkastisch.
"Erlebnis! Sie ... ich kann gar nicht ausdrücken, was ich ...", stieß Hermine gepresst hervor, während sie sichtlich mit ihrer Wut rang, doch zu Snapes Verwunderung ließ sie schnell wieder von ihrem Zorn ab und erklärte kalt: "Ich sagte nur, dass aus diesem Erlebnis, wie Sie es nennen, keine Seitenzugehörigkeit abzulesen ist. Ein schlechter Mensch kann man auch sein, wenn man auf Harrys Seite steht."
"Sie gestehen also Anhängern des Dunklen Lords zu, gute Menschen sein zu können?", erkundigte Snape sich mit ehrlichem Interesse. Er hatte Hermine Granger immer für eine kluge Schülerin gehalten, das Ausmaß kühler Rationalität, das sie jetzt zeigte, war ihm jedoch neu. Es überraschte ihn, dass sie in der Lage war, nicht nur aus ihrer eigenen Sichtweise und ihrer eigenen Situation heraus zu denken, sondern Handlungen auf einer höheren Ebene einzuordnen, ohne sich von ihren sichtlich heftigen Gefühlen leiten zu lassen. Gegen seinen Willen flößte ihm dieser Charakterzug Respekt ein - und Hoffnung.
"Ich denke schon", unterbrach nach längerem Schweigen schließlich die Stimme von Hermine seine Gedanken, "es kommt auf die Motive an, glaube ich. Wer es nicht besser weiß, weil er wie Draco Malfoy so erzogen wurde, oder wer aus Angst auf der Seite von Voldemort steht, dem kann man vielleicht Dummheit oder Feigheit vorwerfen, aber mehr auch nicht. Wer als erwachsener Mensch die Chance hat, sich auch gegen ihn zu entscheiden, aber trotzdem für ihn ist, den kann ich einfach nicht als guten Menschen bezeichnen."
Inzwischen waren sie vor dem Gewächshaus angekommen, doch statt hineinzugehen, bedeutete Snape Hermine, sie solle sich mit ihm auf die Bank setzen, die neben dem Eingang stand. Windgeschützt und von dem Wärmezauber umgeben konnte man die Sonnenstrahlen, die vielleicht schon die letzten für dieses Jahr sein würden, genießen. Snape spürte, dass die junge Frau neben ihm darauf brannte, das Gespräch fortzusetzen, doch ihr Stolz schien sie davon abzuhalten, erneut als erste das Schweigen zu beenden. Er hatte seine Gründe dafür gehabt, nicht sie sondern Ginny Weasley als Sklavin zu wählen, doch wie schon einige Male zuvor trat erneut die Frage in seine Gedanken, wie es wohl gewesen wäre, mit diesem wachen, einfühlsamen Verstand alleine unter einem Dach zu wohnen. Sicher, auch die junge Weasley war nicht dumm, doch ihr hitziges Temperament verstellte ihr zu oft den Blick auf die Wahrheit. Hätte er mit dem Wissen, das er inzwischen über die beiden jungen Frauen hatte, damals wählen können, und hätte er tatsächlich die Freiheit gehabt, eine andere als Weasley zu nehmen ... Snape unterbrach den Gedankengang. Hätte und Wäre waren keine klugen Berater und es gab zu viele von ihnen in seinem Leben, als dass er noch mehr hinzufügen wollte. Er musste das beste aus den Entscheidungen machen, die er in der Vergangenheit getroffen hatte.
"Interessante Gedanken", sagte er endlich und lächelte innerlich über das sichtliche Zusammenzucken der Frau neben ihm. Sie hatte offenbar nicht mehr mit einer Antwort gerechnet. Umso motivierter fuhr er fort: "Das ergibt also vier Kategorien von Menschen: Gute und böse Menschen auf der Seite von Potter, gute und böse Menschen auf der Seite vom Dunklen Lord. In welche Kategorie falle ich?"
Snape genoss es, Hermine mit seinen Fragen aus der Fassung zu bringen. Er konnte ihr förmlich im Gesicht ablesen, dass sie verzweifelt versuchte zu verstehen, warum er sich so mit ihr unterhielt - und ob er tatsächlich gerade eine selbstironische Frage gestellt hatte. Schnell rief er sich jedoch wieder zur Ordnung; die Sache war zu ernst, um sich darüber zu amüsieren.
"Rein logisch betrachtet könnten Sie nach meinem jetzigen Wissen in jede der Kategorien fallen."
Die Antwort ließ ihn aufhorchen. Nicht nur, dass sie seine Frage ernst genommen hatte, anstatt seine Motive wieder einmal zu hinterfragen, sie hatte darüber hinaus nicht die offensichtliche Antwort gegeben. Mit einem Nicken bedeutete er ihr fortzufahren.
"Es gibt Dinge, die man so interpretieren kann, dass Sie auf Harrys Seite stehen. Ihre ... Ihre Gewalt an mir wiederum macht Sie aus meiner Perspektive zu einem schlechten Menschen, aber das ist ... subjektiv. Dann wiederum gibt es Dinge, die eindeutig dafür sprechen, dass Sie auf Voldemorts Seite stehen. Sie haben zu Schulzeiten einige Sachen getan, die Sie zu einem guten Menschen machen würden, wenn man nicht nur oberflächlich schaut. Oder zumindest haben Sie den Eindruck erweckt, als ob ..."
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Stumm saß Hermine neben Ginny in der Küche und aß ihr Mittagessen. Sie wusste, dass ihre Freundin darauf brannte zu erfahren, was am Vormittag im Gewächshaus geschehen war, doch sie war selbst noch zu verwirrt, als dass sie irgendetwas hätte erzählen können. Nach ihrer Antwort auf seine merkwürdige Frage, in welche Kategorie von Mensch er fallen würde, war Snape verstummt. Er hatte einfach die Augen geschlossen, die Arme vor der Brust verschränkt und geschwiegen. Erst, als der Himmel sich zuzog und die Sonne verschwand, war er aus seiner starren Position wieder erwacht und hatte sie in das Gewächshaus mitgenommen. Außer den knappen Anweisungen, welche Pflanzen sie beschneiden sollte, hatte er kein Wort gesagt. Auch auf dem Rückweg war sein Mund ein dünner Strich geblieben, seine Haltung drückte Verschlossenheit und Ablehnung aus.
Sie wurde nicht schlau daraus. Sie war weder unhöflich gewesen noch hatte sie ihn beleidigt. Sie hatte sich auf sein Frage-Antwort-Spielchen eingelassen in der Hoffnung, irgendetwas von ihm erfahren zu können, doch statt ihre Offenheit zu honorieren, hatte er sich am Ende völlig verschlossen. Hatte sie mit ihrer Aussage, er könne sowohl ein guter als auch ein schlechter Mensch sein, einen Nerv getroffen? Sie wurde das Gefühl nicht los, einer wichtigen Erkenntnis auf der Spur zu sein, doch mit den paar Brocken, die Snape ihr hinwarf, konnte sie nichts anfangen.
Ein Blick auf die Küchenuhr sagte Hermine, dass es Zeit wurde, sich in die Bibliothek auf zu machen, um an der Katalogisierung der Bücher weiter zu arbeiten. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie vergaß, sich noch einmal zu Ginny umzudrehen - und so bemerkte sie auch den misstrauischen Blick ihrer Freundin nicht, der noch lange, nachdem sie verschwunden war, auf der Küchentür ruhte.