Eine neue Familie
Als ich zu den anderen Trauergästen stieß, schossen alle Köpfe zu mir.
Sofort sah ich nach unten, um die Flecken zu verstecken und ihren
nervenden Blicken auszuweichen. Keiner sprach ein Wort. Es lag ein
unheimliches Schweigen in der Luft. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich
Lindas Schritte hinter mir hörte. Ich schaute nicht auf.
Die
Fahrt zurück zum Institut war mir ewig vorgekommen, als ob die Zeit
stehen geblieben wäre. Wie bei der Hinfahrt hatte ich mit Jamie und
Olivia in einem Auto gesessen. Mein Onkel war in Gedanken versunken
gewesen und hatte nur aus dem Fenster gesehen. Olivia war zu meinem Pech
alles andere als ruhig gewesen. Ständig hatte sie über belanglose
Dinge, wie das Wetter oder die anderen Gäste geredet. Ich hatte kaum
zugehört, nur hin und wieder hatte ich einen Satz aufgefangen. Das
einzige Mal hatte ich mit ihr gesprochen, als sie mich wieder einmal
fragte, wie es mir ging.
„Super,
Olivia. Der Tag war traumhaft schön“, hatte ich sarkastisch geantwortet
und auf meine Hände gestarrt. Danach war auch sie still geworden.
Der
Leichenschmaus war genauso schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Das Büfett sah zwar gut aus, aber ich hatte keinen Hunger. Auch wenn ich
welchen gehabt hätte und beinahe verhungert wäre, hätte ich niemals
einen Bissen genommen.
Als ich sah, wie die Anderen ihre Teller beluden und aßen, wurde mir speiübel.
Ich
setzte mich auf einen Stuhl, von dem aus ich das Essen nicht sehen
konnte. Sogleich ging es mir wieder besser, doch die mitleidigen Blicke
wollten einfach nicht aufhören. Ich konnte sie zwar nicht sehen, weil
ich immer noch den Kopf gesenkt hatte, aber ich konnte sie spüren. Jeden
Einzelnen.
Hin
und wieder kamen Vanessa und Zack vorbei, um mir zur Seite zu stehen,
doch ich reagierte auf gar nichts; auf keine Frage, keine Berührung und
kein aufmunterndes Wort. Ich war froh, dass Linda bis jetzt nicht
versucht hatte mit mir ein Gespräch über meine blauen Flecken
anzufangen. Ich befürchtete jedoch, dass sie es bei ihr zu Hause
versuchen würde, wenn wir alleine waren.
Starr
wie eine Salzsäure hockte ich einfach weiter auf dem Stuhl und musste
mich, trotz zunehmender Nackenschmerzen, zwingen den Kopf nicht zu
heben. Um mich hörte ich das Gemurmel der Gäste. Langsam, aber sicher,
ging es mir auf die Nerven. Ich war kurz davor sie alle unter lautem
Geschrei hinauszuwerfen, aber das hier war ein Bestattungsinstitut und
nicht mein Zuhause. Daher blieb ich ruhig, doch der aufgekommene Zorn
ließ sich nicht vertreiben und vernebelte meinen Verstand. Ich saß noch
eine Weile unverändert auf meinem Platz, als mein Onkel Jamie zu mir
kam.
„Fahr mit Linda und ihrer Familie zurück, Holly“, krächzte er. Ich konnte hören, wie schwer dieser Tag auch für ihn war.
„Wirklich?“ fragte ich zur Sicherheit nach.
„Ja. Ich sehe, wie schlecht es dir geht und wie genervt du von allen bist. Olivia inklusive.“
Ich bekam auf einmal ein schlechtes Gewissen, weil ich so zickig und unverschämt zu seiner Frau gewesen war.
„Ich
weiß, dass sie nur das Beste für mich will, aber ich kann ihre
Besorgnis langsam nicht mehr ertragen. Ich fühle mich bedrängt.“ Ich
wagte einen kurzen, scheuen Blick zu meinem Onkel. Sein Gesicht zeigte
einen Anflug von einem Lächeln.
„Mir
geht es nicht anders, aber sag ihr das bloß nicht.“ Er zwinkerte mir
zu. Dieser Satz brachte mich zum ersten Mal an diesem Tag zum Lachen.
„Du kannst ruhig gehen, Holly.“
Trotz der Gefahr, dass er meine Wunden am Hals entdeckte, drehte ich mich zu ihm und umarmte ihn so fest ich konnte.
„Danke, Jamie. Danke, danke, danke.“ Er löste sich aus der Umarmung.
„Kein
Problem und jetzt geh“, befahl er und schubste mich Richtung Tür. Das
ließ ich mir nicht zweimal sagen. Schnell huschte ich an den Gästen
vorbei, öffnete die dunkle Tür und verließ das Institut.
Ich
war unendlich froh und erleichtert, als ich mich auf Lindas weiches
Bett fallen ließ. Ich gähnte ausgiebig und schloss meine müden Augen.
Die Fahrt mit Lindas Familie war eigentlich ganz in Ordnung gewesen.
Niemand hatte versucht mit mir zu reden oder mich in den Arm zu nehmen.
Selbst Lindas Mutter hatte sich zusammengerissen. Ich vermutete, dass
alle mitbekommen hatten, wie wenig Lust ich auf eine Konversation hatte.
Nun lag ich
hier. Allein. Ohne Ruhestörungen. Laut hörbar atmete ich ein und aus.
Ich hatte die Beerdigung meiner Eltern mehr oder weniger gut
überstanden.
Gut
war, dass ich weniger geweint und traurig gewesen war, als ich
befürchtet hatte. Schlecht war der Haufen von Gästen gewesen, dabei
musste ich mir die Schuld zuweisen, da ich diejenige gewesen war, die
sie alle eingeladen hatte. Und nicht zu vergessen Ophelia. Auf einmal
fröstelte ich. Ich nahm die dünne Tagesdecke und warf sie mir über meine
Schultern.
Hoffentlich
würde ich ihr nie wieder begegnen. Dafür würde James sicherlich sorgen,
schließlich hatte er mir geschworen ständig auf mich Acht zu geben.
Er
hat schon viel versprochen, aber wie viele Versprechen hat er auch
gehalten? Nach meiner Rechnung noch kein Einziges oder siehst du das
anders? Die kleine Stimme in meinem Kopf, die so lange still gewesen
war, versuchte mich wieder einmal von James abgrundtief böser Seele zu
überzeugen.
„Verschwinde“, keifte ich zurück und schlug mir gegen den Kopf, um die Stimme zu vertreiben.
„Holly?“ Linda stand in der Tür. Verwundert hatte sie eine Augenbraue in die Höhe gezogen.
„Alles okay?“ Sie schloss die Tür und kam zu mir herüber geschlendert.
„Ja, ja.“ Ich senkte den Blick und spielte an der weichen Decke. Derweil setzte sie sich neben mich.
„Willst
du mir jetzt erzählen, woher diese Male kommen?“ Sie versuchte gar
nicht erst ihren angespannten und leicht genervten Unterton in ihrer
Stimme vor mir zu verbergen.
„Und ich will nicht wieder hören, dass nichts passiert ist, Holly. Ich bin nicht blöd.“
Grob packte sie mich an der linken Schulter und drehte mich in ihre Richtung. Ihre Augen wanderten sofort zu meinem Hals.
„Falls
es dir noch nicht aufgefallen ist, Linda, ich hatte heute einen harten
Tag und ich habe momentan keine Lust mit irgendjemandem zu reden. Vor
allem mit niemandem, der versucht mich auszuquetschen.“
Vor Wut kniff ich meine Augen zu Schlitzen.
„Du…“, setzte Linda empört an, doch ich unterbrach sie einfach.
„Ich
werde nicht mit dir reden. Erstens, weil ich nicht in der Stimmung bin
und zweitens, weil ich es dir nicht sagen will und kann.“
Ohne
es zu wollen, klang ich verunsichert und ängstlich. Kein Wunder,
schließlich wollte ich Linda nicht unnötig in Gefahr bringen. Je weniger
sie wusste, desto besser war es für sie. Ihr Gesichtsausdruck wechselte
blitzschnell von Verärgerung zu Panik.
„Hat
James etwas damit zu tun?“ Nervös klemmte sie sich die blonden Haare
hinter die Ohren. Linda fixierte mich mit ihren braunen Augen, die ihre
unglaubliche Furcht widerspiegelten. Dieser Blick schaffte die
Gewissheit, dass ich ihr niemals alles hätte sagen dürfen. Das war ein
großer Fehler, den ich nicht mehr gut machen konnte. Jetzt musste sie,
wie ich, mit diesem schrecklichen Geheimnis leben.
„Hab ich Recht?“, flüsterte sie.
Ich
biss mir kräftig auf die Unterlippe und dachte angestrengt nach. Ich
wollte Linda vor weiteren Details aus meinem verkorksten Leben schützen,
aber ich wusste, dass sie unbedingt erfahren wollte, was mit mir
geschehen war. Auch wenn sie mich heute gnädigerweise in Ruhe ließ,
würde sie mich mit Sicherheit jeden Tag danach fragen, bis ich ihr
wirklich alles sagte. Ich hatte also keine andere Wahl.
„Ja, er hat was damit zu tun.“ Diese Worte waren mir äußerst schwer über die Lippen gekommen. Schwerer, als gedacht.
„Erzähl mir alles.“ Die Entschlossenheit in ihrem Gesicht war genauso schnell aufgetaucht, wie vorher die Panik.
„Also gut.“ Ich legte die Decke beiseite und setzte mich im Schneidersitz in die Mitte des Bettes.
„Als
ich alleine beim Grab meiner El…Eltern war, tauchte wie aus dem Nichts
eine Frau namens Ophelia auf. Ich habe sie vor einer Woche in meinem
Haus gesehen, weil sie eine Killerin ist.“ Ich spürte, wie mein Herz zu
rasen begann und sich schmerzhaft gegen meine Brust drückte. Linda
schnappte hörbar nach Luft.
„Zuerst
habe ich geglaubt, dass sie mich tö…töten würde, aber sie wollte nur
wissen, wo James ist.“ Beim Wort töten war sie heftig zusammengezuckt
und das Blut aus ihrem Gesicht gewichen.
„Aber du hast doch keine Ahnung, wo er ist. Hast du ihr das gesagt?“ Ich verdrehte die Augen.
„Das
habe ich, aber es war etwas schwierig mit einer Killerin zu reden,
besonders, wenn sie völlig durchgeknallt und wahnsinnig ist. Außerdem
hat sie mir sowieso nicht geglaubt. Sie dachte, ich würde lügen, um
James zu schützen.“ Mechanisch schüttelte Linda fassungslos den Kopf.
„Du hast mit James aber gar nichts mehr zu tun.“
„Das hat sie nicht interessiert“, giftete ich sie an. Beschwichtigend hob sie die Hände.
„Ach,
es tut mir leid, Linda. Mich macht diese Geschichte nur so fertig.“ Ich
fuhr mir durch die Haare, wobei ich mir das Haargummi herauszog.
„Offensichtlich.“ Sie rückte näher an mich heran und streichelte meinen rechten Handrücken.
„Na
egal, zurück zu meiner Erzählung. Diese Killerin wollte mit allen
Mitteln herausfinden, wo er ist. Und mit allen Mitteln meine ich
Gewalt.“ Während ich meiner besten Freundin alles offenbarte, liefen
parallel die dazugehörigen Bilder in meinem Kopf ab. Vor mir sah ich
diese unvergleichliche Frau, die ihre zarten Hände um meinen Hals legte
und gewissenlos zudrückte und versuchte mir das Leben zu nehmen.
„Hat sie dir das angetan?“, fragte Linda entsetzt. Zur Antwort nickte ich.
„Sie
hätte mich umgebracht, wenn James nicht aufgetaucht wäre und mich
gerettet hätte.“ Hektisch und etwas unbeholfen zupfte ich am Kragen
meiner Bluse herum.
„Er
ist einfach aufgetaucht, obwohl du ihn weggeschickt hast? Nach allem,
was er dir angetan hat? Was ist das denn für ein selbstsüchtiger Idiot?“
Sie schnaubte und stemmte die Hände in die Hüften.
„Anfangs
war ich auch nicht gerade begeistert, aber ich habe gemerkt, dass ich
James brauche und deshalb habe ich ihm verziehen“, gab ich kleinlaut zu.
Ich schaute sogleich aus dem Fenster, um Lindas vorwurfsvollem Blick zu
entgehen.
„DU
HAST WAS?“, kreischte sie mit hysterischer Stimme. Ich versuchte sie zu
ignorieren, indem ich mich auf den Baum direkt vor Lindas Fenster
konzentrierte, aber sie kam mir in die Quere. Linda robbte quer über das
Bett und setzte sich direkt vor mich. Ich konnte ihr ansehen, dass sie
verwundert war. Kein Zweifel, sie konnte nicht verstehen, dass ich James
zurückgenommen hatte.
„Hast
du den Verstand verloren, Holly?“ Und als ob sie mich dazu bringen
wollte meine Entscheidung von jetzt auf gleich zu ändern, rüttelte sie
heftig an meinen Schultern. Ich wurde ordentlich durchgeschüttelt.
„Hör auf“, befahl ich dann nach einer Minute, da mir schwummrig wurde.
„Sorry,
aber das musste sein.“ Ihre Miene war ernst, gleichzeitig aber auch
besorgt. Glaubte sie wirklich, dass ich nicht mehr alle Tassen im
Schrank hatte?
„Mir
ist klar, dass du mich für bescheuert hälst, Linda, aber ich habe mir
das gründlich überlegt. Ich liebe diesen Mann über alles und kann ihn
nicht so einfach aus meinem Leben streichen, dass ist mir bewusst
geworden, als er mir das Leben gerettet und mich in seine Arme genommen
hat.“
Die
Gedanken an James kamen plötzlich und gnadenlos. Ich vermisste ihn und
wünschte mir, dass er einfach durch die Tür stürmen und mich küssen
würde. Verträumt und voller Hoffnung sah ich an Linda vorbei und starrte
die weiß lackierte Tür an.
Ich machte mich bereit aufzuspringen, wenn sie sich öffnete. Linda folgte irritiert meinem Blick und runzelte die Stirn.
„Was ist denn da?“ Ich erwachte aus meiner Trance und zuckte gespielt ahnungslos die Achseln.
„Nichts“, nuschelte ich und winkte ab.
„Ich
kann dich nicht verstehen, Holly. Vor ein paar Tagen hast du ihn noch
abgrundtief gehasst und jetzt? Jetzt soll wieder alles gut sein?“ Ich
schluckte schwer. Linda würde mich nie verstehen. Kein Mensch könnte
meine Entscheidung jemals nachvollziehen.
„Versteh
meinen angespannten Ton nicht falsch. Ich mache mir bloß Sorgen um
dich. Wäre es nicht besser, wenn du dich von James und seinem Umfeld
fernhalten würdest?“ Sie hatte vorsichtig ihren Vorschlag geäußert,
vermutlich, da sie wusste, wie ich darauf reagieren würde.
„Du
tust ja so, als ob ich mich freiwillig mit den Killern abgeben würde
und mich mit ihnen angefreundet hätte. Ich bin ohne mein Wissen in diese
Geschichte von einem Tag auf den Anderen hineingerutscht. Ich habe mir
das nicht ausgesucht.
Na
gut, ich habe mich in einen Mörder verliebt und bin bei ihm geblieben,
doch ich bin nicht daran Schuld, dass ich jetzt von irren Killern
verfolgt werde. Ich könnte mir auch etwas Besseres vorstellen, als
ständig Angst haben zu müssen, getötet zu werden. Von nun an muss ich
aufpassen, wo ich hingehe und wer in meiner Nähe ist. Mein Leben hat
sich völlig verändert, Linda. James ist mir dabei eine große Stütze. Ich
wüsste nicht, was ich ohne ihn tun würde. Er beschützt mich.“
Nach
meiner Rede war es still zwischen uns. Jede von uns hing ihren eigenen
Gedanken nach. Ich konnte Linda laut neben mir atmen hören.
„Er
ist doch Schuld daran, dass du jetzt von diesen Verrückten verfolgt
wirst“, brüllte sie. „Warum hast du ihn zurückgenommen? Weil du ihn
liebst? Macht das alles wieder gut? Ich finde nicht. Er ist Schuld am
Tod deiner Eltern. Hast du das schon wieder vergessen?“ Augenblicklich
liefen mir Tränen die Wangen hinab. Meine Eltern waren ein heikles
Thema. Das würde es von nun an immer sein.
„Denkst
du, ich weiß das nicht? Ich habe aber beschlossen ihm nicht die ganze
Schuld zu geben. Er hat einen Fehler gemacht, als er einer Kollegin
alles erzählt hat, aber er hat versucht meine Eltern und mich in dieser
Nacht zu retten. Dabei hat er sein eigenes Leben riskiert“, sagte ich
eindringlich und laut. Ich hatte keine Lust mir ihre Vorwürfe weiterhin
anzuhören.
„Holly,
ich weiß nicht, was ich mit dir machen soll.“ Lindas Miene verriet ihre
Überforderung mit dieser Situation. Ich kam mir vor wie ein Kind, das
sie versuchte zu disziplinieren.
„Du kannst mich nicht umstimmen. Ich habe meine Entscheidung endgültig gefällt.“
Um
meine Worte zu unterstreichen, verschränkte ich die Arme vor der Brust
und schaute sie entschlossen an. Linda schien innerlich mit sich zu
kämpfen.
Sie
wollte nicht nachgeben, denn sie wollte mich auf den richtigen Pfad
führen; auf den Pfad der Vernunft, doch zu meiner Verwunderung blieb sie
stumm.
„Ich
würde mich gerne hinlegen“, äußerte ich nach einer halben Ewigkeit. Ich
hatte ein komisches Gefühl Linda aus ihrem eigenen Zimmer zu werfen,
aber ich brauchte Ruhe.
„Ich geh dann.“ Sie erhob sich und ging zur Tür. Bevor sie hinausging, warf sie mir noch einen merkwürdigen Blick zu.
Als
ich endlich alleine war, stöhnte ich vor Erleichterung auf. Ich nahm
mir vor heute mit niemandem auch nur noch ein Sterbenswörtchen zu reden.
Ich hatte genug. Eindeutig. Kaum war Linda gegangen, da wurde ich müde
und meine Augen fielen mir augenblicklich zu.
Noch
immer war es warm und die Sonne schien unaufhörlich. Am Liebsten hätte
ich das Fenster geöffnet, doch ich war zu faul um aufzustehen. Daher
blieb ich liegen und versuchte einzuschlafen. Das gestaltete sich jedoch
schwieriger, als erwartet. Zuerst war mir viel zu heiß, darum zog ich
die Hose und die Bluse aus und legte mich in Unterwäsche ins Bett. Dann
hatte ich unheimlichen Durst. Darum stand ich auf, ging ins Badzimmer
und trank aus dem Wasserhahn.
Da
ich schon im Bad war, wusch ich mir gleich das schweißnasse Gesicht.
Danach ging es mir etwas besser, doch es dauerte noch zwei weitere
Stunden, bis ich endlich einschlief.
Ein
leises, undefinierbares Geräusch weckte mich. Als ich meine Augen
öffnete, war es dunkel im Zimmer. Langsam richtete ich mich auf und
gähnte. Es musste mitten in der Nacht sein. Ich fragte mich, ob dieses
Geräusch wirklich existierte oder ob ich es mir nur eingebildet hatte.
Verwirrt kratzte ich mich am Kopf. Neben mir lag Linda und schlief tief
und fest. Sie hatte also nichts gehört. Ich stieg aus dem Bett und
lauschte. Nichts.
Verärgert
brummte ich, weil ich mich geirrt hatte. Es war still um mich herum. Es
gab kein merkwürdiges Geräusch. Ich wollte gerade zurück ins Bett, als
ich es erneut hörte. Es kam vom Fenster. Verunsichert blieb ich auf der
Stelle stehen.
Was
war das? War jemand draußen und wartete nur darauf, dass ich mich
zeigte? Sofort vermutete ich die Killer dahinter. Sie hatten mich
gefunden und nun würden alle Menschen in diesem Haus so enden, wie meine
Eltern. Mich befiel auf einmal eine Gänsehaut und ich bekam keine Luft
mehr.
Verängstigt
sah ich zur friedlich schlafenden Linda. Sie durfte nicht sterben. Sie
hatte nichts mit alledem zu tun. Erschrocken zuckte ich zusammen, als
ich das Geräusch noch einmal hörte.
Und
es kam wieder. Wieder und wieder. Das reichte. Wenn es die Killer
waren, dann würde ich sie aufhalten. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie
ich das anstellen sollte, doch ich wollte nicht untätig sein und
unschuldige Menschen sterben lassen. Mit all dem Mut, den ich aufbringen
konnte, ging ich zum Fenster, riss den Vorhang zur Seite und schaute
hinaus.
Es war
jedoch so finster, dass ich nichts erkennen konnte. Nicht einmal der
Mond schien so hell, dass sich sein Licht durch die Bäume kämpfen
konnte. Ich mochte die Dunkelheit nicht, da sich jeder ohne große
Schwierigkeiten verbergen konnte, besonders gefährliche Menschen.
Dennoch musste ich wissen, wer dieses nervtötende Geräusch verursachte.
Ich
schluckte meine aufkommende Angst herunter und öffnete das Fenster.
Kalte Luft kam mir entgegen und strömte ins Zimmer. Ich wunderte mich,
dass sich das Wetter so schnell abgekühlt hatte. Angestrengt sah ich
nach unten und versuchte irgendetwas zu erkennen. Viel war es aber
nicht. Alles war pechschwarz.
„Holly?“ Von unten hörte ich James´ raue Stimme. Es war also kein gefährlicher Killer, sondern einfach nur James.
„Ja, ich bin´s. Was machst du denn hier?“
„Ich habe dir gesagt, dass ich in deiner Nähe bleibe.“ Leicht lächelte ich.
„Nein,
das habe ich nicht gemeint. Ich will wissen, warum du mitten in der
Nacht unter dem Fenster stehst.“ Ich meinte ihn lachen zu hören.
„Ach
so. Ich muss mit dir reden. Ich wusste nicht, wie ich dich sonst aus
dem Bett kriegen soll.“ Darauf hörte ich tatsächlich schallendes
Gelächter. Schnell schaute ich zu Linda, weil ich befürchtete, dass
James sie mit seinem lauten Lachen wecken würde.
„Ich komm sofort runter, aber sei gefälligst leiser“, flüsterte ich und hoffte, dass er mich gehört hatte.
„Wie du willst. Ich warte vor dem Haus.“
Daraufhin
vernahm ich leise Schritte im Gras, die sich der Straße näherten. In
kürzester Zeit schloss ich das Fenster und schlich so leise, wie
möglich, aus dem Zimmer und dann die Treppe herunter. Ich ging äußerst
vorsichtig, damit ich in der Dunkelheit nicht hinfiel. Ich traute mich
einfach nicht eine Lampe einzuschalten. Aber trotz meiner Bemühungen
verpasste ich auf der Treppe die letzte Stufe und knickte um.
„Aua“,
fluchte ich lauter, als beabsichtigt und landete unsanft auf dem Boden.
Mit beiden Händen rieb ich mir den rechten Knöchel.
Verdammt,
warum musste mir ständig sowas Idiotisches passieren? Zum Glück
schmerzte der Knöchel nur leicht, also stützte ich mich am Boden ab und
stand auf. Humpelnd durchquerte ich den Flur und trat dann hinaus auf
die Veranda. Draußen war es fürchterlich kalt. Das Holz unter meinen
Füßen fühlte sich an wie Eis. Meine Zähne fingen an zu klappern und
meine Hände waren taub. Die einzige Lichtquelle waren zwei
Straßenlaternen, die ihr helles Licht in die Umgebung streuten.
„James?“,
fragte ich leise in die Dunkelheit. Ich hörte nichts, außer meinen
eigenen Herzschlag. Dann tauchte er plötzlich vor der Veranda auf. Mit
Leichtigkeit überwand er die drei Stufen und blieb direkt vor mir
stehen.
„Hi“, hauchte ich.
„Hi“, entgegnete er und grinste breit.
„Netter
Aufzug.“ James musterte mich von oben bis unten mit blitzenden Augen.
Erst durch seine Anspielung wurde mir klar, dass ich mir in der Eile
nichts übergezogen hatte und bloß in Unterwäsche vor ihm stand. Und
sofort verwandelte sich dieser Augenblick in den Peinlichsten in meinem
ganzen Leben. Das Blut schoss in Höchstgeschwindigkeit in meinen Kopf.
Ich war froh, dass es dunkel war, so konnte er zumindest mein knallrotes
Gesicht nicht sehen.
„Da…danke“, stotterte ich und kam mir total dämlich vor. Ich schämte mich. Gerne wäre ich direkt im Erdboden versunken.
„Ist dir nicht kalt?“ Besorgnis trat in seine Augen.
„Ich
habe nicht gerade geplant so knapp bekleidet hier aufzutauchen. Ich
habe vergessen mir was überzuziehen und ja, mir ist kalt.“ Ich rieb
meine Hände aneinander, um sie zu wärmen. Natürlich war es lachhaft zu
glauben, dass dies etwas nützte.
„Komm
her“, flüsterte er und zog mich an sich. Mit seinem rechten Arm
umfasste er meine Taille und presste mich an seinen Körper.
James
war zu meiner Überraschung sehr warm. Ohne nachzudenken, ließ ich meine
eiskalten Hände unter sein schwarzes Hemd gleiten und legte sie auf
seinen starken Rücken. Als die erste Wärme durch meine Haut drang,
begann sie zu kribbeln. Es war ein wohliges Gefühl. Ich legte meinen
Kopf auf seine Brust und schloss die Augen. Die Scham war so schnell
verflogen, wie sie gekommen war. Ich versuchte auch gar nicht mehr an
meinen Fauxpas zu denken. Stattdessen hörte ich seinen Herzschlägen zu.
„Ist dir jetzt warm, Holly?“ Ich nickte geistesabwesend.
„Gut“, sagte er und ich konnte hören, dass er dabei lächelte.
„Worüber wolltest du denn mit mir reden?“ Ich löste mich aus der Umarmung und sah ihm in die Augen.
„Ich
wollte dir nur sagen, dass du im Moment keine Angst vor irgendwelchen
Killern haben musst. Ich bin dir erst zum Bestattungsinstitut gefolgt
und dann später hierher. Die ganze Zeit habe ich niemanden von ihnen
gesehen. Ophelia war wohl die Einzige von ihnen, die Jericho geschickt
hat. Wahrscheinlich hat er geglaubt, dass nur einer reicht, um dich zu
zwingen, ihnen zu verraten, wo ich bin. Also mach dir keine Sorgen. Die
Killer wissen nicht, wo du dich aufhältst.“
Ich konnte Erleichterung in seinem Gesicht erkennen. Fürs Erste waren wir sicher, aber wie lange würde das anhalten?
„Das
hört sich gut an. Sehr gut sogar. Aber…aber wie viele Killer sind jetzt
genau hinter uns her? Und wer ist Jericho?“ Ich versuchte nicht
beunruhigt zu klingen, weil ich diesen schönen Augenblick zwischen uns
nicht zerstören wollte.
„Ach,
Jericho ist mein Boss gewesen. Er ist ein ekliger alter Mann, den ich
noch nie leiden konnte. Aber egal, wenn Jericho alle auf uns angesetzt
hat, dann sind es sechs. Aber ich glaube nicht, dass wirklich alle
hinter uns her sind. Schließlich haben sie noch andere Aufträge.“
Als
ich James´ ernste und bittere Miene sah, bereute ich, dass ich ihm
nicht eine Minute Ruhe vor diesem Thema gönnte. Dabei würde es James
nicht schaden, wenn auch er mal auf andere Gedanken käme. Tag und Nacht
passte er auf mich auf.
„Tut
mir leid, dass ich nachgefragt habe. Es war nicht meine Absicht.“ Ich
lächelte ihn entschuldigend an, ehe ich ihm einen kurzen Kuss auf den
Mund gab.
„Kein
Problem, Holly. Ich weiß, dass dir das alles Angst macht.“ Mit der
rechten Hand klemmte er mir einige Haarsträhnen hinters Ohr.
„Hast
du denn gar keine Angst, James?“ War er tatsächlich so furchtlos, wie
er auf mich wirkte oder konnte er seine Ängste nur gut verbergen? Meine
Frage beantwortete er mit einem verwegenen Grinsen.
„Nein,
ich bin die Gesellschaft von wahnsinnigen Killern jahrelang gewohnt.
Ich war schließlich vor kurzer Zeit selbst noch einer. Jeden Tag musste
ich mit Leuten arbeiten, die ich abgrundtief hasste, ich musste Menschen
töten und zwar unter dem Einsatz meines eigenen Lebens. Glaub mir, ich
habe keine Angst vor ihnen, weil ich sie nun mal kennen. Ich weiß, wie
sie agieren und reagieren.“ Seine Worte beruhigten mich etwas.
„Aber
um ganz ehrlich zu sein, es gibt wirklich etwas, was mir Angst macht
und mich nicht schlafen lässt.“ Auf einmal wirkte er nervös und
unsicher.
„Und
was?“, fragte ich interessiert nach, da ich wissen wollte, was James
Angst einflösste. Durch seine ständige Furchtlosigkeit war er mir schon
beinahe unmenschlich vorgekommen.
„Ich
habe Angst, dass dir etwas passiert; dass ich eine Sekunde nicht
aufmerksam bin und du verletzt wirst.“ Ich spürte, dass sich seine
gesamten Muskeln anspannten. Diese Sache schien ihm sehr zu schaffen zu
machen.
„Ich könnte es mir niemals verzeihen, wenn sie dich in ihre Finger kriegen und…“
Mit einer Hand hielt ich ihm den Mund zu. Abrupt hörte er auf zu reden. Er war perplex und überrascht.
„Red
bitte nicht weiter, James. Ich weiß nicht genau, wie ich dir deine
Angst nehmen soll, außer dir zu versprechen immer sehr vorsichtig zu
sein. Mir ist klar, dass wir nicht vergessen dürfen, welche Gefahr uns
umgibt, aber ich möchte nicht, dass diese Geschichte unsere Beziehung
völlig einnimmt. Wir sollten uns auf die schönen Dinge konzentrieren und
nicht auf unseren möglichen Tod“, appellierte ich.
James küsste mich gegen meine Handfläche, die immer noch auf seinem Mund ruhte. Langsam ließ ich die Hand sinken.
„Du
hast Recht, reden wir nicht mehr darüber.“ Er setzte sein schiefes,
unwiderstehliches James Roddick-Lächeln auf, bevor er sich
herunterbeugte und mich leidenschaftlich küsste. Ich schlang meine Arme
um seinen Nacken und presste mich an seinen Körper. Der Kuss dauerte so
lange, bis ich keine Luft mehr bekam. Atemlos löste ich mich von seinen
Lippen.
„Wo
schläfst du eigentlich?“, fragte ich ihn so plötzlich, dass er
erschrocken zusammenzuckte. Zuerst sagte er nichts, doch dann stöhnte er
gequält auf.
„Versprich mir zu allererst, dass du dich nicht aufregst.“ Ich zuckte gleichgültig mit den Achseln.
„Okay.“ Seine Pupillen huschten hektisch hin und her. Es dauerte etwas, bis er mir antwortete.
„Ich
schlafe draußen, meistens auf einer Holzbank hier in der Nähe, von der
aus ich das Haus sehen kann.“ James schaute mich verunsichert an. Ich
riss dagegen schockiert die Augen auf.
„Denk
daran, was du mir versprochen hast“, erinnerte er mich, weil er wohl
glaubte, dass ich ihm an die Gurgel ging. Ich versuchte möglichst ruhig
zu bleiben, doch es fiel mehr schwerer, als erwartet. Er schlief allen
Ernstes draußen und zwar jede Nacht und nicht in einem bequemen Bett,
sondern auf einer harten Bank.
„Du hast das vermutlich schon öfters von mir gehört, aber du hast einen Knall.“ Verständnislos schüttelte ich den Kopf.
„Du
bist echt bescheuert. Wie kommst du denn bitte auf die Idee in der
Kälte zu schlafen?“ Ich zeigte ihm den Vogel. Er dagegen strahlte über
das ganze Gesicht.
„Es ist August, Holly. Es ist warm.“
„Ja klar, dann sind meine kalten Hände und Füße auch nur Einbildung.“ Er zwinkerte mir zu.
„Genau.“ Ich zog meine jetzt lauwarmen Hände unter seinem Hemd hervor und bedachte ihn mit einem ernsten Blick.
„Hör
auf die Situation schön zu reden. Am Tag mag es vielleicht heiß sein,
aber jetzt ist es kalt und mir gefällt der Gedanke nicht, dass du
alleine auf einer Bank liegst. Für deine verletzte Schulter ist das
bestimmt auch nicht die beste Lösung.“
Ich ließ meinen Blick zu seinem bandagierten linken Arm schweifen.
„Dramatisier doch nicht gleich alles.“
„Ich
will einfach nicht, dass du ständig draußen bist, nur, weil du mich
nicht eine Minute aus den Augen lassen willst. So schnell passiert mir
schon nichts. Du kannst abends nach Hause fahren und schlafen. Sei doch
vernünftig.“ James schnaubte.
„Es ist nicht so einfach, wie du denkst. Ich kann nicht zurück in meine Wohnung.“ Nun verstand ich gar nichts mehr.
„Warum
nicht?“ Anstatt mir zu antworten, nahm er meine linke Hand und setzte
sich auf die Holzbank auf der Veranda. Mich zog er mit einem Ruck neben
sich.
„Ich
kann nicht dorthin, weil ich die Befürchtung habe, dass meine
Ex-Kollegen dort auf mich warten. Ich will es nicht riskieren, dass sie
mich erwischen oder sogar herausfinden, wo du dich aufhältst.“
Ich traute meinen Ohren nicht. All dies hatte er emotionslos, beinahe gelangweilt heruntergerasselt.
Hatte
er denn schon vergessen, wie viel Angst mir das Gerede über den Tod
machte? Vor allem über unseren Tod? Als er nicht mehr in die Ferne
starrte, sondern zu mir, sah er demütig aus.
„Vergiss,
was ich gesagt habe, aber bei deinem Gedächtnis wird das kein Problem
sein.“ Sein eigener Witz brachte ihn zum Lachen.
„Das
war eine böse Bemerkung, James.“ Ich fand es gemein, dass er sich über
meine Schwäche lustig machte, dennoch erwiderte ich sein Lächeln, um
weiteren Streitereien aus dem Weg zu gehen.
„Du kannst bei mir schlafen.“ Ich rutschte näher an ihn heran und fuhr durch seine braunen Haare.
„Danke
für das Angebot, aber ich muss ablehnen. Es wäre keine gute Idee, wenn
ich mich in einem Haus voller Menschen aufhalten würde, die mich gar
nicht kennen. Ich habe dir schon mal gesagt, dass ich nicht den Helden
mimen will.“
Vermutlich hatte er Recht. Linda wäre alles andere als begeistert, wenn ich James in ihr Haus ließe.
„Aber
das kann doch nicht so weitergehen. Ich will nicht, dass du weiterhin
die Nächte draußen verbringst. Ich mache mir Sorgen um dich.“ Ich strich
ihm über die Wange und legte vorsichtig meinen Kopf auf seine linke
Schulter.
„Ist das okay oder tue ich dir weh?“
„Es ist alles in Ordnung. Meine Schulter ist so stark bandagiert, dass ich gar nichts spüre.“ Vergnügt gluckste er.
„Also, was willst du jetzt tun, James?“ Ich schmiegte mich an ihn.
„Gar
nichts, weil ich keine andere Möglichkeit sehe. Ich muss draußen
schlafen, damit mir nichts entgeht. Versteh das bitte.“ Er warf mir
einen kurzen Seitenblick zu. Mir gefiel seine Entscheidung ganz und gar
nicht, genauso wenig wie seine Beharrlichkeit, aber ich kam nun mal
nicht gegen seine Argumente an.
„Ich sage nichts mehr darüber, aber das heißt nicht, dass es mir gefällt.“
„Das hätte mich auch gewundert“, entgegnete er sarkastisch. Ich musste ein Lachen unterdrücken.
„Ich habe trotzdem noch eine Frage, James.“
„Und die wäre?“
„Wo willst du denn duschen, wenn du draußen schläfst?“ Es dauerte einige Zeit, bis er mir antwortete.
„Ehrlich
gesagt habe ich darüber nicht nachgedacht, aber ich finde schon eine
Lösung, Holly.“ Selbstbewusst lächelte er. Mir war dagegen nicht zum
Lachen zumute.
„Ich
mache dir einen Vorschlag. Du kannst ruhig hier duschen, solange ich
bei Linda wohne. Wenn ich dann umziehe, dann kannst du zum Duschen zu
mir nach Hause kommen.“ James bedachte mich mit einem skeptischen Blick.
Ihm schien mein Vorschlag nicht zu gefallen. Aber warum? Tief sah er
mir in die Augen. Er wirkte nachdenklich.
„Ich
werde dein Angebot annehmen, auch wenn ich mir wie ein Schmarotzer
vorkomme. Aber ich werde es erst in Anspruch nehmen, wenn du nicht mehr
hier wohnst. Ich kenne deine Freundin und ihre Eltern nicht. Ich will
mich fremden Menschen nicht aufdrängen.“
Ich
war froh, dass er meinem Vorschlag zugestimmt hatte. Zumindest konnte
ich ihn davon überzeugen, zum Duschen ins Haus zu kommen. Vielleicht
würde ich es irgendwann schaffen, ihn dazu zu überreden bei mir zu
schlafen. Mit genug Härtnäckigkeit würde das bestimmt auch klappen.
Danach herrschte Stille.
Ich
genoss die Nähe zwischen uns, ja sogar das Schweigen. Konzentriert
hörte ich seinen regelmäßigen Atemzügen zu und starrte zur hell
erleuchteten Straße.
Um
das Licht scharten sich die Mücken, die wie kleine fliegende Punkte um
die Lampen schwirrten. Die herrschende Kälte spürte ich schon gar nicht
mehr, dank James´ warmer Haut. An seiner Seite fühlte ich mich wohl und
geborgen. Ich wusste, dass er immer für mich da sein würde, egal, was
passierte.
„Ich liebe dich, James“, murmelte ich, da ich von Minute zu Minute müder wurde.
„Ich
dich auch“, hauchte er, bevor er plötzlich aufstand. Beinahe wäre ich
mit der linken Seite auf die Bank gekippt, wenn James mich nicht mit dem
rechten Arm gestützt hätte.
„Ich schlage vor, dass du ins Bett gehst. Du bist bestimmt müde.“
Vor mir tauchte sein markantes Gesicht mit den grauen Augen auf, die mich so sehr faszinierten und mich in ihren Bann zogen.
„Ist das so offensichtlich?“ Ich versuchte mein anschließendes Gähnen zu verstecken.
„Oh ja.“ Er half mir von der Bank aufzustehen.
„Willst du nicht heute Nacht wenigstens hier schlafen?“, fragte ich verzweifelt und umklammerte seinen gesunden Arm.
„Nein, dass geht wirklich nicht.“ Er küsste mich auf die Stirn.
„Es geht wohl“, jammerte ich und kam mir mehr und mehr wie ein kleines, trotziges Kind vor.
„Ich
werde dich auch vermissen, aber bitte lass mich jetzt los, Holly.“
Ungeduldig trat er von einem Bein aufs Andere. Laut schnaubend gab ich
frustriert auf. Ich ließ seinen Arm los und verschränkte die Arme vor
der Brust.
James
nahm mein Kinn in seine Hand und hob es an, sodass ich ihn ansehen
musste. In diesem Moment fiel sein Blick zum ersten Mal auf meinen Hals.
„Es tut mir
leid, dass sie dir das angetan hat; dass ich nicht früher da war. Ich
bin Schuld daran, weil ich dich in diese Sache hineingezogen habe.“
Er
sah zur Seite und senkte den Kopf. Ich wusste nicht, was ich darauf
erwidern sollte. Erst nach ein paar Minuten fielen mir die richtigen
Worte ein.
„Hör auf dir Vorwürfe zu machen. Es lässt sich nicht mehr ändern, James.“ Ich lächelte zaghaft.
„Außerdem
bist du nicht der Einzige, der zu spät gekommen ist.“ Zärtlich berührte
ich die blauen Flecken, die sein Gesicht übersäten. Sein Blick wanderte
wieder zu mir zurück.
„Dich
trifft keine Schuld, weil ich nicht wollte, dass du mir hilfst. In
Ophelias Nähe war es viel zu gefährlich für dich. Ich kann immer noch
nicht glauben, dass du meine Bitte einfach ignoriert hast.“ Empört
öffnete ich den Mund.
„Das habe ich mir dann wohl von dir abgeguckt.“ Frech streckte ich ihm die Zunge heraus.
„Ich
bin nun mal ein schlechtes Vorbild“, entgegnete James bitter. Ich
lächelte ihn fröhlich an, um ihn aufzumuntern. Dann nahm ich seine Hand,
die noch immer mein Kinn umschloss und hielt sie fest.
„Du
bist kein schlechter Mensch. Du bist nun mal nicht perfekt, aber wer
ist das schon?“ Ich versuchte mit allen Mitteln seine gute Laune
zurückzuholen.
„Du
bist perfekt, Holly.“ Er schenkte mir ein liebevolles Schmunzeln. Ich
wollte schon etwas entgegnen, doch James sprach weiter.
„Ich weiß, dass ich verrückt bin, dass brauchst du mir nicht noch einmal zu sagen.“ Keck zwinkerte er mir zu.
Mich
überraschte es nicht, dass er das ausgesprochen hatte, was ich
eigentlich hatte sagen wollen. James wusste einfach, was in meinem Kopf
vorging. Das hatte seine Vor- und Nachteile.
Ich
fand es in manchen Situationen gut, dass er mich kannte und mich
verstehen konnte, aber manchmal wäre es mir schon lieber, wenn auch ich
etwas vor ihm verheimlich könnte. Es war nicht immer ein schönes Gefühl
ein offenes Buch für ihn zu sein, vor allem, weil er selbst meist
undurchschaubar war.
„Ich werde jetzt verschwinden und du gehst schlafen.“ Sein Befehlston war kaum zu überhören.
„Na
gut. Ich sehe, dass ich dich nicht umstimmen kann.“ Ich ließ seine Hand
los und wandte mich zur Haustür, als er mich am Handgelenk packte, mich
herumwirbelte und stürmisch küsste. Mein Herz schlug mir bis zum Hals
und Hitze stieg mir ins Gesicht. Nach einer gefühlten Ewigkeit löste
sich James von mir.
„Wir
sehen uns bald wieder“, flüsterte er mir zu. Dann sprang er über die
drei Stufen hinweg und verschwand in die Nacht. Mir blieb nichts anderes
übrig, als zurück ins Haus zu gehen und zu hoffen, dass es nicht mehr
lange bis zu unserem nächsten Treffen dauerte.
Die
nächsten Tage waren ziemlich unspektakulär, bis auf Mittwoch. An diesem
Tag war die Testamentseröffnung. Meine Eltern hatten vor ihrem Tod ein
Testament aufgesetzt und dieses war meinem Onkel, Olivia und mir am
Mittwochnachmittag von einem Anwalt vorgelesen worden.
Nervös
hatte ich in einem ordentlichen und edlen Büro gesessen und darauf
gewartet, dass der Anwalt endlich hereinkam. Jamie hatte sich leise mit
seiner Frau unterhalten, während ich still auf meinem Stuhl gehockt
hatte. Ich hatte Angst gehabt, denn dieses Testament würde über meine
Zukunft bestimmen. Die ganze Zeit hatte ich einen schweren Kloß im Hals
gehabt. Nach einer quälenden Wartezeit von 15 Minuten war ein dürrer
Mann mit Schnurrbart eingetreten. Sein Blick war ernst und ein wenig
arrogant gewesen. Ich hatte ihn von Anfang an nicht leiden können.
Kaum
hatte er sich hingesetzt, da hatte er mit einer einschläfernden Stimme
angefangen zu reden. Ich hatte gleich auf Durchzug geschaltet. Erst, als
er das Testament selbst in die Hand genommen und seine Brille
aufgesetzt hatte, war ich aufmerksam geworden. Die wichtigsten Punkte
für mich waren gewesen, dass meine Eltern mir ihr gesamtes Vermögen
vererbt hatten, aber ich würde erst an meinem 21. Geburtstag darüber
verfügen dürfen. Mir war es nur recht gewesen.
Auch
das Haus hatten sie mir vererbt, doch ich war mir sicher, dass ich es
verkaufen würde, egal, wie weh es mir auch tat. Der zweite Punkt war die
Festlegung meines Vormundes. Meine Eltern hatten Jamie und Olivia dazu
bestimmt. Sie sollten mich aufnehmen, falls ihnen selbst etwas
passierte. In diesem Moment hatte ich angefangen zu weinen.
Zum
Einen, weil sie mir so sehr fehlten und zum Anderen vor Erleichterung,
weil ich nun wusste, bei wem ich leben würde. Die Ungewissheit war
vorüber. Die Beiden waren nicht wirklich überrascht über diese
Entscheidung gewesen. Vielleicht hatten meine Eltern sie vorher gefragt.
Ich wusste es aber nicht genau.
Nach
dem Termin beim Anwalt hatte ich ihnen sofort gesagt, dass ich am
Liebsten in Saint Berkaine bleiben und nicht nach New York ziehen würde.
Ich war froh, als Jamie mir sagte, dass sie sowieso nicht vorhatten
mich zu ihnen zu nehmen. Ihnen war bewusst, dass ich meine gewohnte
Umgebung, vor allem meine Eltern, nicht verlassen wollte.
Ich hatte beide in meine Arme genommen und geweint, aber diesmal war es vor Freude gewesen.
Nun
waren zwei Wochen vergangen und ich stand in einem hübschen Haus, das
nun mein neues Zuhause sein würde. Ich war erleichtert, als Olivia mir
vor einer Woche erzählt hatte, dass sie bereits ein Haus für uns
gefunden hatte und wir nicht mehr bei Linda wohnen mussten. Sie war zwar
meine beste Freundin, doch durch den mangelnden Platz für so viele
Leute war sie mir langsam auf die Nerven gegangen. Ich glaube, ihr war
es da nicht anders ergangen.
Das
Haus lag eine halbe Stunde von meinem alten Zuhause entfernt. Es war
groß und hatte eine bräunliche Fassade. Auf dem Grundstück wuchsen
Kiefern, die hoch in den Himmel ragten und Schatten in den Vorgarten
warfen.
Die
üppige Veranda lief rund um das Haus herum und hinten schloss eine
Terrasse aus tonfarbenen Steinen an. Dahinter erstreckte sich ein
Garten, der von einem hüfthohen Holzzaun umsäumt wurde. Ich fand alles
wunderschön, auch die Räume des Hauses, doch es würde noch lange dauern,
bis ich mich hier wohlfühlte. Es war nun mal nicht das Haus, in dem ich
aufgewachsen und mit meinem Eltern gelebt hatte.
Ich
setzte mich auf das dunkle Parkett, das im zukünftigen Wohnzimmer lag
und schaute den bestellten Handwerkern und Malern verträumt bei der
Arbeit zu. Meine Gedanken waren bei Olivia, die sich gerade in der
Walnut Street aufhielt. Sie hatte mir vor einer Stunde vorgeschlagen
dorthin zu fahren, um für mich meine Möbel und den anderen Kram aus
meinem alten Zimmer zu holen. Ich war ihr dankbar, dass sie dies tat und
zwar ohne meine Hilfe. Ich wollte nie wieder in mein Haus zurückkehren.
Angespannt knabberte ich an meinen Fingernägeln. Ich hatte Angst um Olivia und daran war James schuld.
Er
war wie aus dem Nichts hier aufgetaucht, als ich alleine durch den
Garten gestreift war. Vermutlich war er mir wiedermal gefolgt. Er hatte
sich von hinten angeschlichen und mich auf den Kopf geküsst. Ich hatte
beinahe einen Herzinfarkt bekommen und war kurz davor gewesen
loszukreischen, aber er hatte mir den Mund zugehalten. Böse hatte ich
ihn angeguckt, weil er mich erschreckt hatte. Er hatte sich schnell
entschuldigt und sogleich gefragt, wo Olivia hinfuhr.
„Zu meinem alten Haus“, hatte ich verwundert geantwortet, da er hektisch auf mich gewirkt hatte.
„Ich
muss ihr hinterher“, hatte er mehr zu sich selbst gesagt, als zu mir.
Danach hatte er sich umgedreht und hatte schon verschwinden wollen, doch
vorher hatte ich es noch geschafft ihn zu fragen, warum er Olivia
hinterher musste.
„Gefahr“, hatte er geknurrt und fünf Sekunden später war er auch schon wieder weg gewesen.
Seitdem
zerbrach ich mir den Kopf, was er genau mit Gefahr gemeint haben
könnte. Mir wollte aber nichts einfallen. Ich hoffte nur, dass es nichts
Schlimmes war. Doch wenn ich ehrlich war, hatte James beunruhigt und
gestresst geklungen. Das war kein gutes Zeichen.
Ich
machte mir sowohl Sorgen um Olivia, als auch um ihn. Stetig wurde ich
unruhiger. Vor Nervosität wiegte ich meinen Oberkörper ständig nach
vorne und nach hinten. Dies brachte mir skeptische Blicke von ein paar
Handwerkern ein, die gerade die Bodendielen im Flur abschleiften. Vor
Scham wurde ich rot.
Ohne
weiter nachzudenken, stürmte ich an den Handwerkern vorbei und rannte
aus dem Haus. Wie auch die letzten Tage war es schwül und die Hitze
unerträglich. Trotz meiner kurzen Shorts und meinem dünnen Top war mir
warm und ich fing an zu schwitzen. Ich schlurfte zu einer Kiefer und
setzte mich in den kühlen Schatten. Ich sah zur Straße und wartete auf
die Ankunft von Olivia.
Ich
wusste nicht, wie lange ich bereits unter dem Baum hockte, aber es
mussten ein paar Stunden sein. Die Hitze nahm ab und die Sonne wanderte
langsam Richtung Horizont.
Irgendwann
kam Jamie von einem Vorstellungsgespräch in der Stadt zurück. In New
York hatte er als Bankangestellter gearbeitet. Heute hatte er sich bei
einer hiesigen Bankfiliale vorgestellt. Als er mich unter dem Baum sah,
kam er zu mir herüber.
Er trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine ebenfalls blaue Krawatte. Im Anzug musste er tierisch schwitzen.
„Wie ist es gelaufen?“, fragte ich ihn, als er in meine Hörweite kam. Er grinste breit.
„Ich hab den Job.“ Ich konnte die Erleichterung in seinem Gesicht ablesen.
„Das ist toll.“ Ich freute mich für ihn, schließlich musste er hier ein völlig neues Leben aufbauen.
„Und wie war dein Tag, Holly?“
„Ganz okay. Ich hab ein bisschen das Haus erkundet und nun warte ich auf Olivia. Sie wollte meine Sachen holen.“ Er nickte.
„Ich
weiß. Ich habe eben mit ihr telefoniert. Sie meinte es würde nicht mehr
lange dauern.“ Plötzlich hockte sich Jamie neben mich und sah mir
direkt in die Augen.
„Wenn
du das Bedürfnis hast zu reden, egal über was, dann kannst du immer zu
mir kommen.“ Ich war dankbar für sein Angebot, doch ich konnte seinen
sorgenvollen Blick, den er mir die letzten Wochen immer wieder
zugeworfen hatte, nicht mehr lange ertragen.
„Ich weiß.“ Ich lächelte ihn an.
„Gut“,
nuschelte er und drückte meine rechte Schulter. Dann hörte ich ein
Auto, das langsam an unserem Haus vorbeifuhr und dann in die Auffahrt
bog. Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf und hastete zum roten
Kombi, aus dem Olivia gerade ausstieg. Das Auto war ein Mietwagen. Ein
anderes Auto hatten wir momentan nicht, weil der Mercedes meines Dads
und mein Ford noch in der Walnut Street waren.
Ich
hatte Olivia gebeten zumindest die Autoschlüssel mitzubringen. Ich kam
mir irgendwie schäbig vor, als ich daran dachte, dass wir den Wagen
meines Dads benutzen würde, obwohl mir meine Eltern laut Testament alles
vermacht hatten. Ich versuchte nicht weiter darüber nachzudenken.
Stattdessen ging ich zu Olivia und half ihr meinen Schreibtischstuhl
auszuladen.
„Danke“,
presste sie atemlos hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Ohne Pause schnappte sie sich ein langes Holzbrett, das zu meinem Bett
gehörte. Laut ächzte sie unter dem Gewicht.
„Lass
das bitte liegen, Schatz. Ich mach das schon.“ Mit einem Ruck zog Jamie
das Brett aus dem Kofferraum und trug es zum Haus.
„Tut
mir leid, aber ich habe nicht alles ins Auto gekriegt. Ich will morgen
noch mal rüber fahren.“ Erschöpft lehnte sie sich ans Auto.
„Macht doch nichts.“ Ich holte eine Topfpflanze aus dem Kofferraum.
„Ach,
bevor ich es vergesse…“ Sie kramte in ihrer Hosentasche und zog die
Autoschlüssel hervor. Sie wollte mir beide in die Hand drücken, doch ich
lehnte ab.
„Behalte
den Schlüssel für den Mercedes. Ich will ihn nicht.“ Ich nahm meinen
eigenen Schlüssel aus ihrer Hand und stopfte ihn in die Hosentasche.
„Wenn
du meinst“, antwortete sie perplex und sah mich überrascht an. Ich wich
ihrem Blick aus und ging zum Haus. Ich stieg die Treppe hinauf und
brachte die Pflanze in mein neues Zimmer.
Dort
gab es zahlreiche Fenster, die eine Menge Sonnenlicht in den Raum
ließen. Die noch weißen Wände würden bald violett sein. Ich stellte die
Pflanze auf die Fensterbank.
Danach lief ich wieder nach draußen und half Jamie und Olivia die restlichen Sachen ins Haus zu schaffen.
Nach
der anstrengenden Schlepperei ließ ich mich völlig entkräftet ins satte
Gras des Vorgartens fallen. Der Schweiß lief mir in Strömen das Gesicht
hinab. Mein ganzer Körper war nass und schwitzig. Ich fühlte mich
dreckig und unwohl. Eine erfrischende Dusche wäre jetzt genau das
Richtige, aber ich wollte noch auf James warten.
Als
ich die Augen öffnete, war die Sonne beinahe verschwunden. Ich musste
wohl eingedöst sein. Meine Uhr verriet mir, dass es 21 Uhr war. Noch
etwas schläfrig rieb ich mir die Augen und sah zur Straße. Immer noch
keine Spur von James. Meine Sorgen um ihn stiegen ins Unermessliche. Ich
versuchte mich zu beruhigen, indem ich mir einredete, dass er bestimmt
schon wieder zurück war und nur nicht zu mir gekommen war, aber das sah
James nicht ähnlich.
Mit
einem komischen Gefühl in der Magengegend stand ich auf und ging zur
Straße. Ich suchte mit meinen Augen die Umgebung ab. Kein Mensch war
weit und breit zu sehen. Mit zittriger Hand fuhr ich mir durch die
Haare. Wo war er nur? War ihm etwas passiert? Ich hatte das Gefühl bald
wahnsinnig zu werden. Als ich zum zweiten Mal die Straße hinauf und
hinab sah, tauchte eine hohe dunkle Gestalt direkt neben mir auf. Über
meine Lippen kam ein erstickender Schrei.
„Ganz
ruhig. Ich bin´s.“ Mit rasendem Herzen sah ich zur Seite. Dort stand
James mit angespanntem Gesicht. Irgendwie sah es aus, als habe er
Schmerzen, aber versuchte es sich nicht anmerken zu lassen.
„Musst
du dich immer so anschleichen?“, fragte ich ihn vorwurfsvoll und
schubste ihn leicht. Darauf geschah etwas, was ich nicht erwartet hätte:
er fiel hin und landete mit dem Hintern auf dem Gras. Überrascht
blinzelte ich. Hatte ich ihn doch stärker geschubst, als gedacht? Ich
kniete mich hin und sah ihn entschuldigend an.
„Sorry.“
„Kein Problem“, entgegnete er hektisch und rutschte ein Stück von mir weg.
„Was ist…“ Mir blieb die Frage im Hals stecken, denn ich roch Blut. Frisches Blut.
„Was
hast du gemacht, James?“ Ich hockte mich aufs Gras und krabbelte zu ihm
herüber. Er wollte noch weiter von mir zurückweichen, aber ich hielt
ihn am linken Bein fest.
„Hör
jetzt mit dem Unsinn auf. Irgendetwas ist passiert und ich will wissen
was. Und versuch ja nicht mich anzulügen“, ermahnte ich ihn. Genervt
verdrehte er die Augen.
„Es ist nichts Weltbewegendes“, murmelte James und vermied es, mich anzusehen.
„Na, dann lass mal hören.“ Ich ließ sein Bein los und setzte mich in den Schneidersitz. Er seufzte.
„Wie du weißt, bin ich der Frau deines Onkels gefolgt.“ Ich nickte.
„Ihr Name ist Olivia. Du hast etwas von Gefahr gesagt.“
„Ja,
ich habe befürchtet, dass ein paar meiner Ex-Kollegen in der Nähe des
Hauses darauf warten würden, dass jemand auftaucht. Darum bin ich so
schnell ich konnte zu deinem alten Haus gerannt und es hat sich
herausgestellt, dass mich mein Instinkt nicht getäuscht hat.“
Mir wurde schlecht, als ich daran dachte, dass die Killer Olivia so nahe gewesen waren.
„Was ist dann passiert?“ Er leckte sich über die Lippen, bevor er fortfuhr.
„Ich
war natürlich später beim Haus und habe sofort den silbernen Porsche
erkannt, der an der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Er gehört
Mickey, dem Typen der damals meinen Motorradunfall verursacht hat.“ An
dieser Stelle füllte sich seine Stimme mit Zorn.
„Zuerst war ich beunruhigt, doch dann erleichtert, weil der Wagen von Olivia noch da war.“ Ich zuckte erschrocken zusammen.
„Wie
konnte das bitte gut sein? Ich kann mich nicht mit dem Gedanken
anfreunden, dass sie ein paar Killern hätte begegnen können, die um
jeden Preis wissen wollen, wo ich bin.“ Durch meine Angst hatte ich so
leise gesprochen, dass ich nicht wusste, ob James auch alles verstanden
hatte. Auf einmal tauchte ein kurzes Lächeln in seinem Gesicht auf.
„Keine
Panik, Holly. Ich wusste, dass sie ihr nichts tun würden, schließlich
sollen sie so unauffällig, wie möglich, arbeiten und auf weitere
Mitwisser, die ihre Gesichter kennen, können sie redlich verzichten. Sie
waren also bloß da, um auf jemanden zu warten, dem sie folgen konnten.
Ihnen war bewusst, dass irgendwann einer auftauchen und sich um die
Möbel und das Haus kümmern würde. Dann wäre es ein leichtes für sie
herauszubekommen, wo du dich momentan aufhältst. Das wollte ich mit
allen Mitteln verhindern.“ Er ballte die rechte Hand zu einer Faust.
„Und was meinst du mit allen Mitteln?“ Ich befürchtete das Schlimmste.
„Das
muss ich nicht genau erklären. Die Hauptsache ist doch, dass Olivia
nichts passiert ist und die Killer nicht wissen, wo du bist“, druckste
James herum und versuchte so meiner unangenehmen Frage auszuweichen. Ich
starrte ihn missmutig an. Er brauchte nicht zu glauben, dass ich die
Sache auf sich beruhen lassen würde.
„REDE
MIT MIR!“, brüllte ich wütend, weil er mir versuchte etwas zu
verheimlichen und dass konnte ich nicht leiden. James´ Blick war
undefinierbar.
„Ich
habe erstmal nachgesehen, ob jemand im Porsche sitzt, aber da war
natürlich niemand. Daraufhin habe ich das Haus umrundet. Dabei habe ich
Olivia in der Küche entdeckt, aber nicht nur das. Ich habe Mickey und
einen anderen Killer hinterm Haus herumlungern sehen.“ Er wirkte wieder
zornig und hasserfüllt. Automatisch nahm ich seine Hand.
„Sag
mir nicht, dass du versucht hast es alleine und verletzt mit ihnen
aufzunehmen.“ Meine Worte waren überflüssig, denn innerlich wusste ich
genau, dass er es versucht hatte. James wirkte ertappt.
„Ich habe es versucht, aber das war notwendig, um dich vor ihnen zu schützen.“
„Warum musst du dein Leben immer für mich riskieren, James?“ Er streichelte meine Hand, um mich zu beruhigen.
„Es
ist nun mal ein gefährlicher Full-Time-Job dich zu beschützen, aber ich
mache das gerne. Das schulde ich dir.“ Er schaute mir reumütig in die
Augen.
„Erzähl
mir, was du getan hast“, flüsterte ich ehrfürchtig. Ich spürte, wie
sich meine Muskeln anspannten. Auf einer Seite wollte ich unbedingt
erfahren, was bei meinem alten Haus geschehen war, doch auf der anderen
Seite hatte ich Panik vor genauen Details. Wie knapp war er diesmal
seinen Ex-Kollegen entkommen? Hatten sie ihn verletzt? Bei dieser Frage
erinnerte ich mich wieder an den Blutgeruch. Mir schwante Böses.
„Sie
haben mich sofort bemerkt. Zuerst hatte ich gehofft, es trotz meiner
verletzten Schulter mit ihnen aufnehmen zu können, aber als ich dann
eine Waffe in Mickeys Hand gesehen habe, bin ich losgerannt. Ich habe
nicht gewusst, ob beide mich verfolgen würden, doch der zweite Typ mit
dem Namen Brolin ist ein ziemlicher Idiot. Anstatt beim Haus zu bleiben
und notfalls der einzigen Person, die ihnen in diesem Moment den Weg zu
dir hätte zeigen könnte, zu folgen, ist er mir ebenfalls hinterher
gerannt.“
James fing an zu grinsen.
„Die
Verfolgungsjagd dauerte länger, als erwartet. Ich hatte gedacht, dass
Mickey durch seine Wunde am Oberschenkel schneller aufgeben würde, doch
dass war leider nicht so. Dennoch hab ich sie irgendwann abgehängt,
obwohl es gedauert hat, bis sie von mir abließen und bemerkten, dass sie
das Haus aus den Augen gelassen haben. Wie dumm kann man eigentlich
sein?“, fragte er mich amüsiert. Ich konnte nicht darüber lachen.
„Schön,
dass du deine Freude an der Geschichte hast, aber ich frage mich die
ganze Zeit, wo sie dich verletzt haben.“ Ich legte den Kopf schräg und
musterte ihn von oben bis unten mit zusammengepressten Lippen. James
erstarrte im ersten Augenblick, aber dann sah er verunsichert aus.
„Was
meinst du denn? Sie haben mich nicht erwischt.“ Er versuchte alles
abzustreiten. Meiner Meinung nach hatte er in der Vergangenheit schon um
einiges besser gelogen, als jetzt. Seine Mundwinkeln zuckten heftig.
Ich schnaubte.
„Denkst
du, ich rieche das Blut nicht?“ Fragend sah ich ihn an. Verärgert biss
er sich fest auf die Unterlippe. Er hatte wohl geglaubt, dass er mich
mit Leichtigkeit austricksen konnte.
Tut mir leid, James, aber diesmal bist du derjenige, der etwas nicht verbergen kann.
„Mir ist nichts Großartiges passiert, Holly. Es tut gar nicht weh.“ Wieder einmal versuchte er alles herunterzuspielen.
„Wenn
es nicht schlimm ist, dann kannst du mir ja sagen, was los ist.“ Ich
würde nicht locker lassen, bis ich wusste, wo er verletzt war.
„Na gut“, gab er sich geschlagen.
„Bei
meiner Flucht ist Mickey unvorsichtig geworden und hat mehrmals auf
mich geschossen, aber ich war um einiges schneller, als er und deshalb
hat er mich nicht getroffen. Zumindest nicht richtig.“ James verzog auf
merkwürdige Weise das Gesicht.
„Und was heißt das?“ Er seufzte.
„Ich habe einen Streifschuss abgekriegt“, nuschelte er und sah zu Boden.
„WO?“, kreischte ich panisch und betrachtete eingehend seinen Körper.
„Bitte
bleib ruhig, Holly. Ich werde nicht daran sterben.“ Er sah mich
emotionslos an. Ich versuchte mich zu beruhigen, aber mein Puls raste.
Nur bei dem Wort Streifschuss waren die Erinnerungen an die Zeit mit ihm
im Motel schlagartig zurückgekehrt. Ich sah alles vor mir: James´
blasse Haut, das Blut und meine Finger in seiner Wunde. Ich wollte nicht
noch einmal so etwas durchmachen, nur, weil er so leichtsinnig sein
Leben aufs Spiel setzte.
„Ich habe gefragt, wo.“ Meine Miene wurde todernst.
„Ich
lasse dich nicht gehen, bevor du mir deine Verletzung gezeigt hast. Und
glaub ja nicht, dass ich dich heute draußen schlafen lasse, egal, ob es
auf einer Bank, Gras oder Asphalt ist.“ Drohend hob ich den
Zeigefinger.
„Muss
das sein?“, fragte James mit einer unglücklichen Miene. Kurz, aber
bestimmt, nickte ich. Leise murmelte er etwas, was ich nicht verstehen
konnte, als er sich nach vorne beugte und das rechte Hosenbein
hochkrempelte. Sogleich nahm der Blutgeruch stark zu. Ich senkte meinen
Kopf und sah auf sein Bein.
Durch
die aufkommende Dunkelheit konnte ich im ersten Moment nicht viel
entdecken, doch als ich noch näher an ihn heranrückte, hatte ich eine
gute Sicht auf seine Wade. Die Verletzung befand sich am unteren Teil,
oberhalb des Knöchels.
Es
war eine Fleischwunde zu sehen, die einem langen breiten Riss ähnelte.
Zum Glück sah die Wunde nicht allzu tief aus. Dennoch floss jetzt noch
Blut heraus und sein Bein hinab. Seine Socke und der Schuh waren
blutgetränkt. Instinktiv schlug ich mir die rechte Hand vor den Mund.
„Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Glaub mir.“ Aufmunternd lächelte er mich an.
„Ich stehe jetzt auf und dann helfe ich dir ins Haus.“ Mit aller Kraft versuchte ich meine Stimme gelassen klingen zu lassen.
„Du brauchst mir nicht zu helfen. Ich bin alleine hierher gelaufen, dann kann ich auch ohne Hilfe aufstehen.“
Verständnislos schüttelte ich den Kopf.
„Warum
willst du mir immer beweisen, dass du alleine zurecht kommst?“ James
zuckte mit den Achseln, bevor er trotz Schusswunde und verletzter
Schulter galant aufstand. Überheblich grinste er.
„Das liegt wohl an meinem Ego“, antwortete er und zwinkerte mir zu.
„Da hast du Recht“, bestätigte ich ohne Umschweife. James legte seinen rechten Arm um mich.
„Ich soll also bei dir schlafen. Gibt es eine Möglichkeit dieser Option zu entgehen?“ Ich sah ihn beleidigt an.
„Es liegt nicht an dir. Ich bin gerne in deiner Nähe“, setzte er beschwichtigend nach.
„Da hast du aber noch mal die Kurve gekriegt, James.“
Gemeinsam gingen wir auf mein neues Haus zu.
„Versprich
mir, dass ich mich nicht lange mit deinem Onkel und seiner Frau
unterhalten muss. Ich will so wenig lügen, wie möglich.“ Er wirkte
nervös.
„Woher
kommt denn der Sinneswandel? Vorher hattest du kein Problem, die
Polizei oder auch mich zu belügen.“ Ich sah hoch in sein Gesicht.
„Ich will mich ändern, Holly. Ich will mich ändern.“