Plumps!
Benommen reibt sich der kleine Tropfen die Augen. Eben ist er doch tatsächlich auf die Erde gefallen und dabei recht unsanft gelandet. Sein Kopf brummt.
Einen Moment lang bleibt er sitzen und versucht sich zu erinnern. Woher kam er denn überhaupt?
Er weiss es nicht mehr. Wie durch einen Nebel meint er zu wissen, dass sie viele, ja unzählige waren, die zumindest äusserlich gleich aussahen wie er. Aber dann – nein, alle anderen Erinnerungen sind wie weggeblasen. Nur die unsanfte Landung von eben, die ist mehr als klar, die ist Tatsache.
Der kleine Tropfen öffnet die Augen. Helles Licht blendet ihn. Er blinzelt. Doch bald gewöhnt er sich an die Helligkeit. Verwundert schaut er um sich. Wo ist er denn da gelandet? Auf allen Seiten erheben sich hohe Berge, schneebedeckt, gleissend im Sonnenlicht. Darüber wölbt sich der blaue Himmel. Spielerisch verträumt hängt eine weisse Wolke gerade über ihm. Sehnsüchtig blickt der kleine Tropfen hinauf. Er weiss nicht warum, aber es dünkt ihn, er möchte ihr etwas zurufen. Oder sie ihm? Doch langsam segelt sie davon, über die Berge hinweg, ins unendliche Blau des Himmels hinaus.
Der kleine Tropfen seufzt und blickt sich um. Er sitzt auf einem grossen Stein inmitten vieler anderer Steine. Über, um und durch alle diese Steine springt fröhlich ein Bach. Übermütig spritzt er all die Steine an. Dem kleinen Tropfen ruft er zu: „Komm mit! Komm mit! Ich gehe weit!“
Warum nicht? So eine kleine Reise wäre doch eine willkommene Abwechslung. Und in diesem Bach hat es ja noch viele Kameraden. So springt der kleine Tropfen ins Wasser und lässt sich mitnehmen.
Staunend beobachtet er, wie sich die Landschaft langsam verändert. Wo er eben noch nur Steine und hohe Berge gesehen hat, erblickt er nun grüne Weiden. Ziegen und Schafe grasen dort; genüsslich verzehren sie die saftigen Kräuter. Später entdeckt er auch weidende Kühe. „Die Tiere werden ja immer grösser“, wundert er sich.
Die Wiesen werden immer satter, Blumen blühen, Schmetterlinge gaukeln im Sonnenschein – oh, wie ist es hier schön! Der kleine Tropfen bleibt sitzen, schaut sich freudig um.
„Weiter, weiter! Bleib nicht stehen!“
Doch der kleine Tropfen mag nicht so stürmisch dahineilen. Was nützt es denn, an all dem Schönen vorbeizuhasten?
Er sitzt da, geniesst die Wärme der Sonne, lauscht. Er hört ganz neue, unbekannte Geräusche, welche das Rauschen des Baches übertönen. Vögel singen und zwitschern in den Bäumen, die den Bach säumen. Es dünkt dies den kleinen Tropfen eine wunderbare Musik. Andächtig hört er zu.
Eine Welle spült den Tropfen vom warmen Stein, auf dem er eingenickt ist. „Komm mit!“ ruft das Wasser. „Bleib nicht stehen!“
Der kleine Tropfen reist wieder mit dem Bach. In seiner Erinnerung behält er das Gezwitscher der Vögel, das Gaukeln der Schmetterlinge über den Wiesen, die friedlich weidenden Kühe, Schafe und Ziegen. Gerne hätte er sie kennen gelernt. Doch die Reise geht weiter.
Die Berge treten zurück, das Tal weitet sich. Der kleine Tropfen entdeckt zuerst kleine Weiler, später gross und grösser werdende Dörfer. Sie haben alle verschiedene Gesichter. Während jene oben im Tal eher trotzig aussehen mit ihren braun gebrannten Holzkleidern, werden sie talabwärts immer heller, freundlicher, scheinen gar zu lächeln.
Der Bach ist hier nun breiter, längst nicht mehr so übermütig wie oben im Gebirge. An den Ufern ist er nur wenig tief. Da entdeckt der kleine Tropfen Kinder, die am Wasser spielen. Und ehe er sich’s versieht, ist er gefangen. Gefangen in einem kleinen, roten Plastikeimer. Er erschrickt. Ist seine Reise bereits hier zu Ende?
Fröhlich schwenkt das Kind den roten Eimer hin und her. Dem kleinen Tropfen wird es ganz schwindelig. Dann giesst das Kind den Inhalt seines Eimers in den kleinen Stausee, den es mit seinen Geschwistern gebaut hat. Gleich fühlt sich der kleine Tropfen wieder wohl. Freudig schwimmt er im Wasser umher. Die Kinder plantschen in ihrem See, spritzen sich an, rufen, lachen. Das gefällt dem kleinen Tropfen. Voller Übermut beteiligt er sich an ihrem ausgelassenen Spiel, kitzelt sie am nackten Rücken, an den geröteten Wangen.
Mit der Zeit werden sie alle müde. Die Kinder gehen nach Hause, das Wasser im kleinen Stausee beruhigt sich. Zufrieden schläft der kleine Tropfen ein und träumt von lachenden Kindergesichtern.
Am nächsten Morgen ist der Himmel grau und verhangen. Vergeblich wartet der kleine Tropfen auf die Kinder. Den ganzen Tag wartet er, klettert sogar auf einen Stein, um nach ihnen Ausschau zu halten. Aber er kann sie nirgends sehen. Es ist, als hätte sie dieses eintönige Grau verschluckt.
Da beginnt es zu regnen. Zuerst fallen nur einzelne Tropfen, langsam, schwer. Dann folgen sie schnell und immer schneller. Wie freut sich unser kleiner Tropfen! Das sind doch alles Kameraden! Aber sie haben keine Zeit, sich mit ihm zu unterhalten. „Komm mit!“ rufen sie ihm zu. „Wir wollen die Welt kennen lernen!“
Ja, was nützt es, hier noch lange auf die Kinder zu warten? Vermutlich sind auch sie gegangen, die Welt zu entdecken. So hüpft der kleine Tropfen über die Steine des kleinen Stausees und reist weiter mit dem Bach.
Dörfer, Wälder und Wiesen ziehen vorbei. Der Bach weitet sich zu einem Fluss, der langsam und besonnen dahingleitet. Nichts erinnert mehr an die Ausgelassenheit, die er in den Bergen gezeigt hatte. Nein, beschaulich fliesst er dahin, erzählt von den Geheimnissen zwischen Himmel und Erde.
Der kleine Tropfen sitzt auf einem herbstlich gefärbten Blatt. Staunend nimmt er all die Veränderungen um sich herum wahr. Die Häuser, die er nun sieht, sind sehr gross, häufig findet er sie auch hässlich. Meist sind sie grau, haben kein Lächeln mehr auf ihren Gesichtern. Hohe Kamine stossen graue, stinkende Wolken in die Luft. Über den Fluss wölben sich Brücken. Manchmal bleiben Menschen dort drauf stehen und blicken aufs Wasser hinunter. Ihnen winkt der kleine Tropfen zu. „Kommt mit! Wir gehen die Welt entdecken!“ Doch sie hören ihn nicht.
Boote und grosse Schiffe fahren nun auf dem Fluss. Dort drauf sitzen Menschen. Sie freuen sich an der Fahrt, schauen umher, plaudern, lachen. Auch der kleine Tropfen fühlt sich wohl. Immer noch sitzt er auf seinem Herbstblatt. Von hier aus kann er in aller Ruhe die vorbeiziehende Stadt betrachten mit all ihren Merkwürdigkeiten. Besonders die Eile, mit der sich hier alle und alles fortbewegt, fällt ihm auf. Menschen, Autos, Busse – sie alle scheinen dringend bereits an einem andern Ort erwartet zu werden. Das Rauschen des Flusses wird übertönt von Motoren, Hupen und dem gelegentlichen Quietschen von Bremsen. Dem kleinen Tropfen wird es schwindelig und er ist froh um sein sicheres Plätzchen auf dem Herbstblatt.
Weiter geht die Reise! Die grosse Stadt bleibt zurück. Die Landschaft nimmt wieder ihren Platz ein mit grossen, fruchtbaren Feldern. Immer weiter wird das Land.
Der kleine Tropfen ist müde geworden. Eine unbestimmte Sehnsucht beginnt sich in ihm breit zu machen, ergreift bald sein ganzes Wesen. Oh ja, es ist schön, die vorüberziehende Landschaft zu bewundern. Doch er will noch etwas anderes. Mit aller Kraft zieht es ihn einem Ziel entgegen, das er zwar nicht kennt, von dem er aber deutlich spürt, dass es auf ihn wartet. Er legt sich auf den Rücken und träumt mit offenen Augen. Er träumt von einer unendlichen Weite, von Wellen, von Wind.
Lange treibt er so dahin. Endlich entschliesst er sich, seinen Platz auf dem Herbstblatt zu verlassen. Lieber lässt er sich nun wie die andern Tropfen im Fluss dahingleiten.
Da, zuerst bemerkt er es kaum, wird die Welt weit, so weit! Sie dehnt und dehnt sich. Grosse Schiffe liegen vor Anker und tuten vor ihrer Abreise. Seemöwen kreischen. Die süssen Tropfen vermischen sich mit den salzigen.
Ein ungeahntes Glücksgefühl erfüllt den kleinen Tropfen. Mit allen Fasern seines Tropfendaseins weiss er: Ich bin am Ziel!
Tief atmet er ein und gibt sich gleichsam schwerelos hinein in die Unendlichkeit des Ozeans.
Hoch oben segelt eine kleine weisse Wolke ins tiefe Blau des Himmels.