Selina war eben losgefahren, als ich wieder in mein Abeitszimmer ging. Nachdenklich saß ich in dem gemütlichen eingerichtetn Raum. Wieder nahm ich den Kleinen Targa in die Hand. Als wäre es gestern erst gewesen, erinnerte ich mich an diesen Tag. Es war der Tag gewesen, an dem ich das erste Mal zu Silvie fuhr. Ich war überraschend in der Nacht die zweihundert Kilometer zu ihr gefahren, um sie wiederzusehen. Ich hatte das am Tag schon geplant gehabt und das kleine Modell für Tommy und Blumen für Silvie besorgt. Ich bat sie am Telefon um einen Kuss und als sie mir den versprochen hatte, fuhr ich einfach zu ihr. Mitten in der Nacht. Mit meinem weißen Porsche. Es war eine sehr schöne Nacht geworden und ich verließ die beiden erst am nächsten Morgen. Beinahe, wären wir eine wunderbare kleine Familie geworden, doch das Leben hatte etwas Anderes mit uns vorgehabt...
Das Leben geht oft seltsame Wege. Nach einigen traurigen Jahren, in denen ich nie wieder an eine Beziehung gedacht hatte, fand ich in Selina doch noch die Liebe meines Lebens. Indirekt zwar, aber ursächlich durch Silvie. Und auch Tommy war auf diese Weise zwar nur am Rande, aber doch, wieder in mein Leben getreten. Wie mochte das jetzt weitergehen? Gedankenversunken stellte ich das Modellauto wieder hin. Silvies Brief lag da noch. Ich legte ihn zusammen mit Tommys Brief in meine Schublade am Schreibtisch. Ich würde Silvies Brief nie mehr lesen. Einmal war genug! Ich hatte ihn auch heute nicht angeschaut. Ich hatte ihn einmal gelesen, als ich noch auf der Intensivstation gelegen hatte und hatte daraufhin jeden Lebenswillen verloren. Branka und Bertie hatten alle Hände voll zu tun gehabt, mir das Leben wieder schmackhaft zu machen.
Selinas GTI. Ich fühlte mehr als ich es hörte, dass sie zurückgekehrt war. Es fällt mir schwer, das Gefühl in Worte zu fassen, dass mich beschlich. Ich freute mich auf unser Wiedersehen, aber ich wusste nicht, was jetzt wirklich auf mich zukam. Ich glaube es war für uns beide gleichermaßen schwer . Was sollte ich ihm sagen? Was würde er sagen. Würden wir lange reden oder...
Es klopfte! "Herein!" Die Tür ging auf, Selina stand in der Tür. "Ich habe dir Besuch mitgebracht, Liebling!" Sie bugsierte Tom ins Zimmer und verließ es mit den Worten: "Ich lass euch besser allein!"
Ein stattlicher junger Mann stand da, er wirkte keinesfalls wie ein Fühnfzehn-Sechzehnjähriger. Wäre er nicht so unsicher gewesen in diesem Moment, hätte ich fast glauben können, er sei es gar nicht. Seit ich ihn das letzte Mal mit vielleicht elf Jahren gesehen hatte, hatte er sich prächtig entwickelt, Er machte ein paar unsichere Schritte auf mich zu und ich stand auf, hinter meinem Schreibtisch. "Mi... Michael, ich... " begann er, aber die Stimme versagte ihm und seine Augen füllten sich mit Tränen. Ebenfalls zutiefst gerührt nahm ich ihn einfach in den Arm. Lange standen wir so da. "Ich wollte dir soviel sagen, aber ich kanns nicht!" presste er hervor, ohne aufzusehen. "Bist du jetzt endlich dort, wo du hingehörst, Tommy? Bist du jetzt endlich angekommen? Daheim?" - "Ja Paps, schluchzte er. "Daheim!" Er löste sich von mir und sah mir endlich in die Augen. "Es tut mir unendlich leid, Michael, was ich dir angetan habe." - "Ich weiß, Tom, aber du hattest keine Schuld. Ich hätte darauf bestehen sollen, dass du die Wahrheit erfährst, damals, als ich dich zu uns holen wollte! Aber ich brachte es nicht fertig. Meine Mutter war eine einzige Katastrophe gewesen, deine einer Göttin gleich! Sollte ich dir das zerstören, nur um selbst besser dazustehen? Das konnte ich nicht. Aber ich hätte euch beide nie verlassen Tom! Niemals. Als ich damals aus dem Koma erwacht war und diesen Brief las, wollte ich nicht mehr leben! Ich hatte mich so darauf gefreut, dich als meinen Sohn groß zu ziehen. Und ich habe deine Mutter über alles geliebt, Tom, das kannst du mir glauben."
"Ich soll dich darum bitten, dass du ihr verzeihst, hat sie mir auf dem Sterbebett gesagt. Und dass sie dich geliebt hat, bis zum letzten Atemzug! Das waren ihre letzten Worte an mich. Wenn es soweit ist, dann würde ich es verstehen, sagte sie. Und bei Gott, sie hat dich wirklich geliebt, bis ihr Herz stehen blieb, Michael, keiner weiß das so genau wie ich!"
"Sie hat auch heute noch ihren Platz in meinem Herzen, Tom. Auch deshalb habe ich ihr Andenken schützen wollen. Sie hat als Mutter eine Entscheidung getroffen, um dich zu schützen. Leider war diese Entscheidung falsch. Die Konsequenz ihrer Entscheidung, hatten wir alle drei zu tragen! Trotzdem wird sie für immer als meine erste große Liebe in meiner Erinnerung und in meinem Herzen bleiben."
"Du bist noch immer der großzügige Mensch, den meine Mutter so geliebt hat!" - "Das kommt wohl daher, weil ich durch großzügige Menschen so geworden bin. Einen davon, werden wir kommende Woche zu Grabe tragen müssen. Horst war wie ein Vater zu mir, den ich so wie du, nie hatte! Ich war etwa so alt wie du jetzt, als ich zu ihm kam. Er war mein Mentor!" - "So wie du meiner bist?" - "So, wie ich deiner bin, Tom!"
Es klopfte. Selina streckte den Kopf herein. "Lebt ihr noch?" - "Ja!" - "Beide?" - "Beide!" - "Dann putzt euch die Nasen und kommt essen, ihr Luschen!" Sie schüttelte gespielt den Kopf. "Pff, Männer..."