Behutsam wickelte Nia die indianische Flöte aus dem sanft raschelnden Seidenpapier. Voller Freude betrachtete sie dieses einmalig schöne Kunstwerk, welches sie sich soeben erworben hatte. Es war aus einem herabgefallenen Ast eines Sumac* hergestellt worden und demzufolge nicht kerzengerade wie die üblichen Flöten, sondern wies ein paar eigenwillige Kurven und Biegungen auf. Das Holz selber war nicht glatt, obwohl es offensichtlich geschliffen worden war. Feine Rillen aus der Zeit als Fallholz waren geblieben und verliehen ihm ein lebendiges Aussehen. Die Blaslöcher waren sauber ausgebohrt. Ein paar bunte Papageienfedern schmückten die neue Errungenschaft, welche Nia immer noch staunend in ihren Händen hielt.
Vorsichtig setzte sie die Flöte nun an die Lippen, ihre Finger suchten die entsprechenden Löcher. Die ersten Töne waren noch unsicher, fanden ihren Weg nur zögernd aus dem Schutz des Holzes.
Nia besann sich und holte weisse Salbei. Bald erfüllte der Duft des verbrennenden heiligen Kräutleins das Zimmer und Nia atmete auf. Auch die Flöte schien sich zu entspannen.
Wieder begann Nia auf der Flöte zu spielen. Sie schloss die Augen und bald fanden ihre Finger wie von alleine die richtigen Löcher. Sie wusste, dass es bei dieser Art Flötenspiel kein "richtig" oder "falsch" gab. Es zählte einzig und allein die Hingabe an den Moment und der Ausdruck dessen, was sie gerade bewegte.
Tief bewegt lauschte Nia dem warmen Klang ihrer Flöte und spürte, wie die Flöte zu erzählen begann...
Vor ihrem inneren Auge tauchte eine Waldlichtung auf. Die Sonne schien hell durch das Laub und zeichnete Sprenkel auf das Dach einer einfachen Hütte. Vor dieser Hütte stand eine Bank. Nia sah sich um und fühlte eine grosse Vertrautheit in sich aufsteigen. Auf einmal trat ein Mann unter die Tür der Hütte. Er trug einen riesigen Hut, der sein Gesicht beinahe ganz verdeckte. Langsam ging er zur Bank, setzte sich und nahm ein langes Stück Holz in die Hand. Mit einem Messer begann er, daran zu arbeiten.
Nia blinzelte. Ob das wohl derselbe Mann war, der auch ihre Flöte hergestellt hatte? Sie merkte auf einmal, dass ihr Herz laut klopfte.
Nachdenklich hörte Nia auf zu spielen. Sie blickte auf die Flöte, die ihr offensichtlich von ihrer Herkunft erzählt hatte.
Leicht verwirrt legte sie das Instrument zur Seite.
* Sumac: "Die Pflanzengattung Rhus gehört zur Familie der Sumachgewächse (Anarchidiaceae) und umfasst ca.150 bis 200 Arten. (...) Das Verbreitungsgebiet sind die gemässigten und subtropischen Zonen vor allem in Südafrika und dem afrikanischen Tropengebirge, in Ostasien und Nordamerika. Viele Arten sind von wirtschaftlicher Bedeutung bei der Herstellung von Gerb- und Färbemitteln." Quelle: Wikipedia