Kayden lauschte den Worten des Falkners nur beiläufig, der Großteil seiner Aufmerksamkeit galt Agbar.
»Kremir?«
Angesprochener hob fragend die Brauen und stockte in seinem Redefluss. »Bin ich zu schnell?«
Der Junge winkte verneinend ab. »Sei mir nicht Böse, aber all diese Dinge weiß ich bereits. Kylion hat uns umfangreich ...« Er konnte sich ein Grunzen nicht verkneifen, als er sich an die theatralischen Darbietungen erinnerte. »... berichtet.«
»Hm, dachte ich es mir. So will ich dir erzählen, was Kylion gewiss für sich behalten hat.«
Kayden haderte, es war bereits spät und der Falke war im Augenblick weit interessanter, als irgendwelchen langatmigen Erklärungen nachzuhängen. Jedoch besaß er je zwei Augen und Ohren, eines für den Vogel und eines für den Beizjäger.
»Weißt du, jene die diese Burg ...«. Er tippte mit seiner flachen Hand auf den Wall. »... diese Stadt. Ach was rede ich. Das gesamte Land hier einst bewohnten, waren anders als wir.«
»Äh, wie das?«
»Schau dir einmal die Häuser genau an. Diese Brustwehr hier und auch die hoch liegenden Fenster der Burg. Alles ist größer und höher, als wir es jemals gebaut hätten oder je würden.«
Es war ersichtlich, dass die Gedanken des Jungen auf Abwegen gerieten, schien er sich die hiesigen Gewerke mit jenen bekannter Herkunft zu vergleichen. Ihm waren die hohen Aufbauten wie Fenster, Türen und natürlich auch die Brustwehr aufgefallen, fand diese jedoch nicht weiter überlegenswert. Es habe seine Bedeutung, und wenn eines der für ihn hoch gelegenen Fenstern bei einem ausgewachsenen Mann auf Höhe der Brust begann ... nun ja, dann war dem eben so. Was wusste er denn schon.
»Glaube mir mein Junge, jene, die hier einst lebten, waren mindestens einen Fuß größer als wir und niemand weiß, wo sie geblieben sind.«
»Ist das wichtig?«
Kremir schien verunsichert und schüttelte unschlüssig den Kopf. »Wichtig?«
»Ja. Waren sie denn schlechter als wir? Ich meine, haben sie es nicht verdient zu leben, nur weil sie anders sind als wir? Vielleicht sogar anders reden und aussehen?«
»Darüber habe ich ... Nie nachgedacht. Vermutlich hast du recht. Über sie zu urteilen, obwohl sie uns vollkommen unbekannt sind, ist falsch.«
»Mhm, wer weiß, wo sie jetzt gerade sind«, flüsterte Kayden, dessen Augen wieder nur dem Vogel anhefteten.
Der Falkner war guter Hoffnung und berichtete weiter. Sicherlich, einiges von dem wusste der Junge mit seinem mit unter seltsam erwachsenem Benehmen, anderes wiederum noch nicht.
Falkenhorst war mittlerweile nicht mehr die einzige Ansiedlung diesseits des Waldes. Eine weitere befand sich unweit des Zuganges zum Meer, welcher für die Schifffahrt als unpassierbar galt. Riffe, so spitz und scharf, dass diese die Planken eines jeden Schiffes zum Bersten brachten, säumte das gesamte Gebiet weiträumig und in Gänze. Gar der beste Seemann vermochte den schmalen Küstenstreifen nicht als das Erkennen, was er dennoch war. Vor vielen Jahren jedoch fand ein kleines und wendiges Boot der Seebarbaren den Weg vom Meer bis zum Landstreifen.
Obwohl er sichtlich Desinteresse vorgab, waren seine Ohren gespitzt. »Seebarbaren?«
»Na sieh einer an. Du bist ja doch noch hier.« Kremir lachte verhalten. »Man nannte sie auch Räuber der See. Die Häscher Thules nahmen uns alles und so auch ... diese.«
»Versteh ich nicht.«
»Die Seebarbaren leben fernab auf den sieben Inseln. Eine jede beherbergt einen Clan, eine Art große Familie mit Männern, Frauen, Kindern und natürlich Kriegern, die sie beschützen. Sie fuhren einst mit ihren Schiffen und Booten raus aufs Meer und überfielen ganze Handelsfahrten.«
»Aha und jetzt nicht mehr?«
»Nein, gewiss nicht.«
Zum wiederholten Male verhielt sich der junge Bursche sonderbar erwachsen und schaffte es in den fragwürdigsten Momenten sein Umfeld in Erstaunen zu versetzen. »Wenn dem so natürlich ist, dann verrate mir eines ...« Gelassen lehnte er sich mit dem Rücken an die Mauer, hob sein linkes Knie und stützte sich mit dem Fuß. »... was bitte tun sie jetzt und unter welchen Umständen tun sie es jetzt nicht mehr?«
Kremir schluckte und ging die Art wie dieser Knirps sich hin und wieder zu äußern wusste einige Male im Geiste durch. Es dauerte, bis er fähig war zu antworten.
»Nun?«
»Als die Invasion begann, kam der Feind nicht nur zu Land.«
»Auch auf dem Seeweg. Dass weiß ich von Pa' und Onkel Alric.«
»Gut. Wenn du das alles schon weißt, dann kannst du dir sicherlich vorstellen, was sie mit den Seebarbaren taten.«
Kayden überlegte, verzog die Lippen zu einem Schmollmund und nickte zustimmend. »Aus dieser Sicht habe ich es noch gar nicht betrachtet. Es macht Sinn. Wenn sie unsere See-Einheiten vernichten, dieses auch mit jenen dieser ... Piraten zu handhaben.«
Agbar spreizte die Flügel und krächzte ungehalten, als der Falkner begann loszuprusten und laut aufzulachen. »Junge, du bist mir einer. Du bist ein Dreikäsehoch und könntest mit deinem Geschwafel jedem Obristen vom Thron schubsen. Ich geb auf.«
»Jetzt redest du schon wie der Müller.«
»Welcher Müller?«
»Eben jener, der Pas´ Getreide verarbeitet und Ma' daraus leckere Dinge backt.« Er hob den Kopf und seine Gedanken erhoben sich in die Ferne - er dachte an zu Hause. »Erzählst du bitte weiter? Wenn ich jetzt noch länger nachdenke, fang ich an zu weinen.«
Kremir zauderte nicht und führte ohne Umschweife mit seiner Darlegung fort.
Eine weitere Siedlung befand sich südlich, nahe des Waldes und unterhalb eines verfallenen Turmes. Dieser musste einst weit über die Wipfel der höchsten Bäume hinausgeragt haben, denn an der Sohle dieses Gemäuers betrug dessen Durchmesser mehr als zwanzig Schritte. Die dritte Erschließung, die jüngste seiner Art, wurde beinahe mittig des Landes gegründet. Umschlossen von weitläufigen Ackerflächen und Mühlen, war diese das Zuhause von vielen Landarbeitern und Müllern.
Kayden erfuhr, dass erst nach Monaten der Erschließung Falkenhorsts die Vertriebenen einen Weg fanden, die Burg zu betreten. Neugierig was sich hinter den hohen Mauern finden lassen würde, kursierten abenteuerlichste Geschichten und Mutmaßungen.
Angesichts der Sicherstellung, das bevorstehende Jahr unbeschadet, mit Hungerleiden zwar, überstehen zu können, überwanden sich die Leute, das wenige Was sie sich trauten zu fällen in lange Leitern zu investieren.
Nachdem die Burg scheinbar ewige Zeiten leer stand und den Vögeln ein Rückzugsort bot, zogen nach ungezählten Generationen wieder aufrecht gehende Zweibeiner in das Bauwerk.
Nach und nach wurden auch die Forstarbeiter mutiger und schlugen emsig das wohl grundbedürftigste Baugut und pflanzten an geeigneten Stellen Setzlinge, die sie im angrenzenden Wald fanden.
Häuser wurden repariert und Mauern mit verarbeitetem Gestein aus dem Gebirge saniert. Um gähnende Löcher ... Fenster, Türen und hungrige Mägen ... zu füllen, ritten Besonnene hinaus ins alte Land. Dort, in gefahrvollen Unterfangen, schafften sie Glas und Nahrungsmittel herbei.
Nachdem Falkenau so sein zweijähriges Bestehen feierte und kein Feind sich Nahe des Waldes wagte, begannen die Leute über weitere Sicherheiten und etwaiger Gegenwehr Gedanken zu machen. Es war die Zeit, als einstige Soldaten zurück zu den Waffen gerufen wurden und taten, was sie bereits vor und während der Invasion taten.
Sie vermittelten ein wachsendes Gefühl von Geborgenheit und hielten die Ordnung aufrecht. Sie gingen und ritten auf Wachstreifen vor und im ›flüsternden Wald‹. Jene, die es wagten, ihre Wachgänge im verwunschenen Hain zu tun, lernten bald jedweden Schatten für sich und ihre Aufgabe zu nutzen.
Kayden lenkte ein und unterbrach den Redner in seinem Bericht. »Ich glaube, diese Stelle können wir überspringen. Kylion hatte uns bereits über die Schattenjäger informiert und wie diese begannen, den natürlichen Schutz der Baumgrenze zu verstärken.«
»So hat er das? Hat er euch auch von dem Wald selbst erzählt?«
Kayden sah verblüfft und unsicher drein. »Pa' und Alric erzählten immer wieder Geschichten darüber, aber ich muss gestehen, dass mir auf dem Weg hier her nichts dergleichen aufgefallen ist.« Ihm war bewusst, dass er log und hoffte von ganzem Herzen, dass er sich nicht durch törichte Gefühlsregungen verriet. Ihn beschlich das Gefühl, das sein Gegenüber sich in seine Augen brennen wollte und nach etwas ganz Bestimmten suchte. Er nickte sodann und öffnete den Mund.
»Dieser Wald ist Alt ... sehr Alt. Niemand kann bestimmen, noch beurteilen, wie Alt die ältesten dieser Bäume sein mögen. Egal wohin du hörst und egal was du liest ...« Die Stimme des Falkners senkte sich zu einem Flüstern, so als wolle er vermeiden gehört zu werden. »... der ›flüsternde Wald‹ war schon da.«
Er stellte sodann zahlreiche Fragen, die sein Gesprächspartner mehr oder minder zu beantworten wusste. So konnte dieser auch bestätigen, dass mittig des Waldes die Bäume nicht nur riesig waren, er beschrieb diese als gewaltig. Kremir behauptete, dass sich in der Bibliothek Aufzeichnungen fänden, die von einem Volk berichteten, welches einst in jenem umherging. Er beugte sich nahe an Kaydens Ohr.
»Dort wo die Bäume am dicksten und am höchsten wachsen, sollten sie gelebt haben. Hoch oben in den Wipfeln und über ausladendes Geäst seien sie gewandelt. Stege und Brücken verbanden Plattformen miteinander, und wenn man genau hinsieht, kann man an so manchem dieser Riesen uralte Reste ihrer Zivilisation erkennen«, raunte er ihm zu. »Was meinst du, Sinnestäuschungen ... oder Wahrheit?«
Er beobachtete die Züge des Knaben. Dieser knabberte auf seiner Unterlippe und nestelte mit seinen Fingern am Hosenbund.
Lange vor der Invasion, zu Zeiten, als die Greifvögel noch frei waren von Jagd und Vernichtung, wagten sich Männer wie Frauen in den Wald, um in diesem Holz zu schlagen. Allesamt berichteten von gespenstischen Geräuschen. Von Stimmen, die ihnen gestatteten, die Grenze des Baches zu überschreiten und an vorherbestimmten Orten ihr Werkzeug anzusetzen.
Jene, die den Grenzverlauf uneingeladen übertraten, flohen wie von einer Meute Wölfe gehetzt. Andere wiederum kamen nicht wieder und wurden wenn überhaupt geschunden und tot aufgefunden.
Kayden schnaubte und winkte ab. »Geistergeschichten.«
»Mhm. Bist du dir sicher oder vermutest du es?« Seine Brauen hoben und senkten sich wie die Wellen des Meeres. »Es gibt Dinge, die nicht zu erklären sind und viele dieser, die in diesem Gehölz geschehen, gehören dazu. Andere wiederum sind verursacht und erdacht von den Schattenjägern.«
»Na bitte, ich wusste es.« Kayden klopfte sich siegessicher auf die Oberschenkel und griente breit.
»So. Tust du das?«
»Ja, ich habe es gewusst.«
Abermals beugte er sich herab und senkte die Stimme. »Mhm. Als du die Einladung des Waldes hörtest. Ich meine an jenem Abend, als Ron euch herbrachte ...« Sein Blick wurde eisern und ernst. Er griff an Kaydens Schultern und rüttelte sie vorsichtig. Er schüttelte verneinend den Kopf. »... das waren nicht wir.«
Der Mund stand ihm offen und der Hals wurde ihm unangenehm trocken. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch und geweiteten Augen blickte er hinüber zur kaum noch erkennbaren Waldgrenze. Ihm war, als würden Tausende kleiner Nadeln seinen Rücken spicken. Fröstelnd begann er zu schaudern und der Klang seiner Worte glich einem Hauch. »Veyed konnte es nicht hören. Wir würden Schutz in seiner Umarmung finden, hat die Stimme gesagt.«
»Und? Hat sie recht behalten«, verlangte Kremir unnötigerweise zu erfahren. Er wollte, dass der Junge nicht in sich kehrte, sondern von seinem Empfinden berichtete. Es war äußerst selten, dass der Wald oder was auch immer zu jemandem sprach.
»Uns ist niemand gefolgt und wir sind hier - lebendig.« Sein Blick heftete sich auf das Gesicht des Falkners. Nun war es an ihm etwas in seinen Zügen zu suchen. Er bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Agbar nicht von seiner Seite gewichen war und nach wie vor auf der Brustwehr saß. Er schien ihn, sie zwei, zu beobachten. Seine Stimme wurde fest und bestimmend, so als gehöre diese zwar zu jenem Kind, welches hier zwischen einem weißen Falken und einem Beizjäger stand, aber sein Wesen gehörte zweifelsohne jemandem anderem.
»Du erzählst mir nicht alles, was du über diesen Wald zu glauben weißt.« Seine jugendliche Hand hob sich und verharrte wenige Herzschläge lang oberhalb des Hauptes des Vogels, senkte sich sodann und streichelte diesen. Abermals und wie aus reinster Selbstverständlichkeit.
»Du magst deine Gründe haben, aber sei dir gewiss ... ich bekomme auch dieses Geheimnis gelüftet.«
In seinem Blick funkelte es und Kremir glaubte gesehen zu haben, dass sich für einen winzigen Moment, dessen Pupillen veränderten. Kaum erkennbar, dennoch hätte er schwören können, dass eine ihm fremde Wesensart aus den Augen des Jungen auf die Welt blickte.
»Es ist schon spät und ich bin müde. Ich gehe jetzt noch nach Veyed schauen. Danke das du mir etwas über ... Falkenau erzählt hast.«
Kremir tätschelte ihm die Schulter und nickte. Er brachte kein vernünftiges Wort heraus, keines was sein derzeitiges Gefühlschaos erklären würde.
Er nährte sich dem Vogel und versuchte ihn zu berühren, wie es der Junge zuvor vormachte. Kaum das er seine Hand hob, sah Agbar auf, krächzte und flog davon.