Es war später Nachmittag, als die Brüder mit wohlig gefüllten Bäuchen durch das Eingangsportal der schützenden Burg schritten. Kaum das sie die Schatten der Tore hinter sich ließen, empfingen sie die zugigen Winde des östlichen Meeres und Veyeds blondes Haar tanzte ihm vor dem Gesicht.
Kayden sah mit erhobener Braue zu, wie sein Bruder vergeblich versuchte, sich der wehenden Strähnen zu erwehren. »Schneid sie dir endlich, ich habe das Problem nicht.« Er nestelte in den seinen herum und wackelte mit dem Kopf. »Siehst du?«
»Mhm. Aellin ...«
»Ha ...« Er hob den Finger und deutete auf ihn. »... du findest sie also doch toll.«
Entrüstet hielt sein Bruder inne und wendete mit den Händen im Haar den Blick. »Häh? Neee, wie kommst du darauf?«
»Och, nur so.« Kayden schaute zu seinen Füßen und hoffte, dass seine rollenden Augen unbemerkt blieben. »Was findest du dann an der frechen Göre?«
»Sie ist keine freche Göre. Außerdem scheint sie kurze Haare zu mögen.«
Nun war es an Kayden, verblüfft dreinzuschauen. »Sagt sie das, ja?«
»Ich werde sie mir schneiden ... so wie du.« Er trat vor und blickte sich um. Langsam drehte er sich im Kreis und blähte die Wangen. »Sieh dir das an Kay.«
Beide begutachteten den hoch aufragenden Bau, der weit in den Berg hineingebaut sein musste, denn das, was sie zu sehen bekamen, konnte nur Fassade sein. Bisweilen dachten sie, alle Burgen würden aussehen und gebaut, wie jene, in welcher der Verräter hauste. Diese hier jedoch ... errichtet nicht vor, sondern vielmehr in das Massiv hinein. Es sei denn, und dies schien wahrlich die unwahrscheinlichste Möglichkeit zu sein ... der Berg wuchs um Falkenhorst herum.
Sechs Türme thronten hoch hinaus, zwei davon rechts und links zum Eingangsportal. Die Übrigen verteilten sich wie auch immer wahllos über die Gebirgswand. Kayden sah stirnrunzelnd in die Höhe und versuchte sich zu orientieren. Die Aufbauten wuchsen augenscheinlich aus diesem heraus, mussten jedoch an ihnen unbekannten Stellen mit der Burg verbunden sein, denn in einem dieser befand sich schließlich seine Kammer.
Sie standen auf einem mit einer mannshohen Brustwehr umfriedeten Platz oder Vorhof. Dessen Erbauer schienen einst keinerlei Mühen gescheut haben, um diesen mit Steinplatten vollends auszulegen. Keine dieser maß an seinen Längen weniger als ein Fuß.
Um den Hof zum Portal der Burg hin betreten zu können, war die Wehr zur rechten wie zu linken Seite hin durchbrochen. Er vermutete, dass zwei Karren diese nebeneinander bequem durchfahren konnten, doch nichts deutete darauf hin, wozu diese Fläche wohl genutzt wurde. Nirgends standen Handelsbuden, Waffengestelle noch Zierrat. Lediglich eine kreisrunde Erhöhung, etwa mittig dieses ... Hofes?
Wie an der Burg selber hatte man in der Vergangenheit auch hier Bruchstellen ausgebessert und vermutlich nicht dem Ursprung nach wieder hergerichtet.
Gemeinsam reckten sie ihre Hälse, um der Brustwehr hinabblicken zu können, und schätzten die Entfernung bis zum Boden auf sagenhafte vier Ellen. Flache Rampen führten zu beiden Seiten der Mauer entlang und endeten in einem weiteren mit hohem Wall umgebenen Hof. Zweifelsfrei dem Zwinger.
Kylion hatte ihnen umfassend von den ersten Heimatvertriebenen berichtet. Jenen, die all ihren Mut zusammennahmen und die Kraft der Verzweiflung nutzten, den ›flüsternden Wald‹ nicht nur zu betreten, sondern vollends zu durchqueren. Anfangs blieb es bei noch wenigen Leuten, die die Ebenen diesseits des Waldes betraten, doch nach und nach trieb die Not Weitere des Weges.
Es wart den Vertriebenen vorbehalten, die Baumgrenze unbeschadet und lebend zu durchwandern, einigen gleichfalls mutigen Invasoren hingegen blieb dieses verwehrt. Niemand vermochte zu sagen gar zu erklären noch zu beweisen, wer oder was den Wald schütze.
Nachdem die Anzahl der Heimatlosen anwuchs, musste ein Beschluss gefasst werden.
Ihr und das Leben all jener, die denselben Weg gehen würden wie sie selbst, hing von ihrem künftigen Verhalten ab. In kleinen Gruppen durchstreiften sie das nahe Umland, um von Tag zu Tag den Radius ihres neuen Lebensbereiches zu erweitern. Erkrankte, Entkräftete, Alte und Verletzte durften gemeinsam mit den Jüngsten auf den wenig vorhandenen Karren ruhen. Die Übrigen hingegen schliefen unter notdürftig hergerichteten Zelten und auf nacktem und zu weilen kalten Boden. Eifrig schichteten sie Hölzer für Kochfeuer, gingen zur Jagd und sammelten Früchte.
Die Zuversicht vieler neigte sich einer gefährlichen Wende und nicht minder Wenige sprachen von ihrem unvermeidlich bevorstehendem Ende. Anstatt zur Axt, Säge und Hammer zu greifen, lullte sich der Großteil in Selbstmitleid. Ihnen fehlte es an allem, allem voran an Haltung und Antrieb. Zu tief saßen die Schrecken vergangener Tage und Nächte.
Erst als sich zur späten Nachmittagszeit unerwartet eine der ausgesandten Gruppen lachend und johlend nährte, keimte in einigen etwas, was ihnen bisweilen verloren ging - Neugierde. Eine Eigenart sich aus dem endlosen Rad nutzloser Zeit und Trübsal zu befreien.
Die eingetroffenen Männer berichteten von ihrer Entdeckung und ernteten unbegreifliche wie fragwürdige Blicke.
»Bewegt euch Leute und kommt mit uns, haben sie gerufen. Kommt mit und ihr werdet sehen, dass wir nicht lügen.« Kylion hatte ihnen nicht nur dasitzend erklärt, wie es einst gewesen sein musste, er wanderte in der Bücherei auf und ab und wedelte bühnenreif mit den Armen.
Angeblich habe die Gruppe dem Anschein nach eine verlassene Siedlung, beinahe stadtgleich erkundet, in deren Hintergrund eine gewaltige Felsenburg thronte. Das Unglaubwürdigste jedoch waren Behauptungen, dass an den Hängen unzählige Greifvögel bis hin zu mächtigen Adlern nisteten.
»Ihr seid des Wahns anheimgefallen.«
»Schämt euch, uns auf solch unbedarfter List Mut einreden zu wollen.«
»Lügenbande.«
Und vielerlei anderweitige Zurufe sollen die Boten geerntet haben, die nichts weiter verkündeten als die Wahrheit. Niemand schenkte ihnen Glauben, hielten sie für Tagträumer, gar als Feiglinge und Lügner.
Dennoch, einige der Zuhörer, darunter Männer, Frauen und Kinder nickten und munterten sie auf, ihrer Worte Beweise hinzuzufügen.
Wortlos marschierten sie und ein jeder schwelgte in eigenen Gedanken. Was wäre wenn ...
Stetig näherten sie sich dem von weitem sichtbaren Gebirge und auch wenn noch fern ihres Zieles, blieb ihnen nicht der Blick auf die unzähligen Vögel, die im Strom der Winde dahin schwebten, verwehrt. Je näher sie gingen, umso mehr Einzelheiten boten sich da. Erst gewahrten sie nur unbestimmbare Schemen, kaum als das zu erkennen, was es wahrhaftig war. Mit jedem getanen Schritt jedoch verdichtete sich deren Gewissheit.
Die führende Gruppe blieb auf einer Anhöhe stehen und die folgenden taten es ihnen gleich. »Wir haben nicht gelogen.«
Allen stand staunend der Mund offen. Männern wie Frauen traten Tränen in die Augen und sie lagen sich freudig in den Armen. Die ungezügelte Neugierde der Kinder jedoch mussten sie zurückhalten. Niemand wusste auszuschließen, ob dass, was sich vor ihnen auftat, auch wahrlich so verlassen war, wie es dem Ansinnen nach zu sein schien. Der Funke der Hoffnung glomm in manchem Blick und so schickten sie nach den Zurückgebliebenen. Es galt herausfinden, ob in der Siedlung noch jemand lebte und ihre Entdeckung ihnen ein stetes Heim bieten konnte.
Das Fallgitter des Tores trotzte der sturen Neugierde der neuen Bewohner Falkenaus und blieb ungetrübt gesenkt. Auch die Ummauerung verblieb trotz des anzunehmenden Alters allen Versuchen gegenüber, diese zu erklimmen, unberührt. Weder breite und kräftige noch kurze und zarte Klingen gruben sich tief genug in die Fugen und keine noch so zierliche Hand oder Fuß fand ausreichend Halt an der viel zu glatten Außenwand.
Dennoch schien dieses Gemäuer ebenso verweist wie die Bebauungen davor und so entschieden man, vorerst keinerlei weiteren Energien in die Erkundung derer zu investieren.
Vögel verschiedenster Gattung flogen durch gähnende Öffnungen, die einst Fenster und Türen verschlossen hielten.
Auch wenn viele Jahre gar Jahrzehnte vergangen sein mussten, dass eines der verfallenen Gebäude ein Lebewesen beherbergte, war der Ort eindrucksvoll und versprach den Vertrieben eine Heimstatt zu werden. Auf den weitflächigen Ebenen vermochte man sich zuvor ausladender Felder nicht nur vorzustellen. Vielerorts gedieh wildes Getreide, welches den neuen Bewohnern erlaubte und kurzer Zeit neue Feldgrenzen anzulegen, wie zu bestellen.
Einige wenige Gebäude waren insoweit noch nutzbar, dass sie den Neuankömmlingen ein Mindestmaß an Schutz vor Wind und Wetter boten.
Es bedurfte der Bewältigung vielerlei Arbeiten. Holz musste geschlagen und verarbeitet werden. Lehmgruben gesucht und ausgehoben. Allen voran benötigten sie frisches Wasser und ausreichend Lebensmittel, so zumindest für die ersten Wochen und Monate.
Ein jeder fühlte sich einem Großen und Ganzen zugehörig. Ihr Werken durfte nur einem Ziel dienen und so maßen Stand und Umstand ihrer Herkunft keinerlei Bedeutung. Das Blut des Adels wog ebenso viel auf, wie das eines einfachen Landarbeiters, Schreiners, Soldaten oder anderweitigen Berufsstandes. Auch Frauen, welche ausschließlich für das leibliche Wohl sorgten, galten nicht minder bedeutsam. Im Gegenteil, ihr derzeitiger Wert blieb unschätzbar, unaufwiegbar und äußerst wertvoll. Wären es nicht sie gewesen, die aus allerlei Beschaffungen nahrhafte Mahlzeiten zubereiteten, ginge selbst der kräftigste Mann eines Tages zugrunde.
Bewaffnete bestreiften das Umland und hielten Ausschau nach etwaigen Gefahren. Allein die Mutigsten wagten sich bis tief hinein in den geheimnisumwitterten Wald, der ihnen in der höchsten Not erlaubte, ihn unbehelligt zu passieren. Es waren wahrlich nicht viele, die sich zurück in die Schatten jenes begaben und oftmals über mehrere Stunden hinweg aufhielten.
Es blieb ein steter Verlauf und eben dieser wurde für einen jeden offenkundig wie dienlich. Männer wie Frauen wechselten schwere und laut schlagende Rüstungen gegen deutlich leichteres und bequemeres Leder. Griffen zu Bogen statt zu Schwertern und lernten sich leiser und anmutiger zu bewegen als jemals zuvor.
Ausgerechnet einem Jüngling, gerade einmal im jetzigen Alter von Veyed oder Kayden, verdankten sie ihren Namen - Schattenjäger.
Sie bewegten sich nahezu geräuschlos, schlichen in jedem sich bietenden Schatten und blieben so vielerorts unentdeckt. Sie sorgten für ausreichend Fleisch und übernahmen jegliche Führungen durch den ›flüsternden Wald‹. Sie fanden Wege und Pfade, auf welchen sie und die ihren sich gefahrlos bewegen konnten. Auch waren sie es, die von der Neugierde getriebene nötigten Abstand zu halten und somit für allerlei Täuschung Verantwortung trugen. Sie verursachten beängstigende Geräusche und hielten unvorsichtige wie Übermütige vom Überqueren des grenzbezeichnenden Baches fern. Schürten Furcht und Gerüchte mit todbringender Warnung.
Die Vertriebenen benannten die neue Heimat nach den Leittieren der sieben Reiche - Falkenau. Auch wenn ihnen das Herz ihres Zuhauses derer Tage noch den Zutritt verwehrte, gaben sie diesem einen ebenso prägenden Namen - Falkenhorst.
Die beiden Brüder erfuhren gleichfalls von einem jungen aufstrebenden Mann, der einst unter den Handelsgeschlechtern sein Handwerk erlernte. Dieser war zugleich auch jener, der nach und nach die innigste Blutlinie und Verbundenheiten zu einflussreichen Familienbanden verriet. Er interessierte sich gemeinhin nur für eigene Belange und zum Geheiß des persönlichen Vorteils. Ihm blieb es zu verdanken, dass das gesamte Geschlecht der Berengar ausgerottet wurde.
Jedwedem Gerücht zur Ergreifung eines Berengar wurde mit Nachdruck nachgegangen und einem Obristen zum Verhör vorgetragen.
Es war Kayden, der sich für die Burg jener Familie interessierte und vermutete, dass Lord Bestlin der rechtmäßige Erbe sei. Kylion hingegen runzelte die Brauen und verengte die Augen. Er haderte mit Worten und seine aufeinander mahlenden Zähne waren mehr als nur zu erahnen. Seine Schläfen pulsierten in deren Einklang.
»Es hat niemals ein Adelsgeschlecht mit dem Namen Bestlin gegeben. Dieser niederträchtige Bastart ist nichts weiter als ein Verräter. Als Sohn des damaligen Stallknechtes nahmen sich die Berengar diesem Knaben an und lehrten ihn das Geschäft des Handels. Sie gewährten ihm sogar Adoption.« Er nickte und knetete mit der Rechten seine linke Faust.
Abermals eine Gemeinsamkeit, die er mit Pa' zu haben schien, dachte der Jüngere der beiden Jungs. Auch er war unbestreitbar Linkshänder.
»Bestlin war es, der die Berengar hinterging und verriet, was zu verraten war. Ebenso diesen Landtitel ... Lord ... hat es zu keiner Zeit gegeben.«
Kylion erklärte, dass Obliegenheiten und Rechtsabhandlungen eines Lords dem eines landesüblichen Barons gleichkämen, war sich dessen jedoch nicht zweifelsfrei sicher. Die Häscher Thules führten diesen seltsamen Begriff unter ihresgleichen ein und behaupteten, dies sei eine Anerkennung für jene, die über Land und Leute Herrschaft ausübten. Mit anderen Worten, sie urteilten, wer leben und sterben sollte.
»Träumst du schon wieder?« Veyed stupste seinen Bruder mit der Hüfte an und zeigte den Berghang hinauf.
»Ich? Nein, wie kommst du nur immer darauf?«
Veyed verzog besseren Wissens die Mundwinkel. »Schau nur die vielen Vögel. Falken, Adler und was weiß ich noch.«
Kayden zuckte mit den Schultern und sah erneut der Mauer hinab. »Ich habe gar nicht geträumt.«
»Ich weiß. Du hast nur nachgedacht. Kylions Geschichte?«
Der Jüngere beobachtete einen grünbraun gekleideten Mann, der an seiner linken Hand einen für seinen Geschmack zu großen Handschuh trug. In der Rechten hielt er ... ja was? Aus der Entfernung würde er meinen, es könne ein Fleischklumpen sein?
Als sie den Hof betraten und sich umsahen, haben sie zwar die kreisrunde Struktur mittig des Platzes begutachtet aber die zur rechten wie linken Seite leicht erhobenen Plattformen außer Acht gelassen. Von der Fläche her maß ein jeder dieser Anbauten drei Ellen. Von der Rechten, von jener sich der Mann ihnen mittlerweile winkend nährte, standen mehrere ständerartige Gebilde. Kurze farbige Bänder tanzten in Harmonie des Windes.
»Hallo ihr Zwei. Ihr müsst die beiden Neuen sein. Die die Ron und seine Jungs durch den Wald geführt haben.«
Veyed musterte den Sprecher mit eigenwilligem Blick, war es doch wohl mehr als offensichtlich. Kayden hingegen war wie immer Vertrauensvoller und lächelte auch noch. »Ja. So ist es.« Sein Daumen deutete von sich. »Das ist Veyed. Er ist mein großer Bruder.«
»Demnach musst du Kayden sein.«
»Scheint sich ja schnell herumgesprochen zu haben.« Veyed räusperte sich und verzog nebst Mundwinkel auch die Brauen.
»Tut mir leid, mein Bruder benimmt sich manchmal so.«
Ihr Gegenüber schmunzelte und sah zurück, als sich ein silbrig weiß gefiederter Vogel krächzend nährte. Dieser ließ sich mit ausladenden Schwingen auf einem der bereitgestellten Ständergewerke nieder und tapste auf diesem von der einen zur anderen Seite.
Es schien derselbe Vogel, wie bei der Mühle, erinnerte sich Kayden.
Das war doch genau so ein Vogel, der noch vor wenigen Nächten auf dem Vordach saß und ihm direkt in die Augen blicke, überlegte Veyed. Gedankenverloren griff er sich unter das Oberteil, um kurz darauf die Hand leer wieder hervor zu holen. Dort wo er die Feder glaubte, war sie längst nicht mehr.
»Oh, schaut. Wisst ihr, was ein Falke ist?«
Beide nickten, schwiegen sich jedoch aus.
»Gewiss tut ihr das. Nach allem, was ich hörte, hat euch Alric viel gelehrt.«
Der Mann schien zu überlegen, als er die Augen verdrehte, sie die flache Hand an die Stirn legte und mit der Zunge schnalzte. »Nun habe ich doch glatt vergessen, mich vorzustellen.«
Mit den Zähnen zog er sich den gefütterten Handschuh von der Rechten und griff mit Zeigefinger und Daumen seiner Linken nach einer an diesem baumelnden Lederbändchen.
Er reichte beiden nacheinander die Hand und bedeutete ihnen, ihm zu folgen.
»Ich bin Kremir und kümmere mich um die Vögel hier.« Er schnaubte amüsiert und hob den Blick. »Ich kann euch sagen, es sind viele ... verdammt viele. Zum Glück jedoch brauche ich mich nur um jene zu sorgen, die sich umsorgen lassen wollen.«
Sie befanden sich nur einen Schritt von den Gewerken entfernt, als der weiße Falke seinen kleinen Kopf hob und die Ankömmlinge musterte. Einen nach dem andern.
»Das meine Lieben ist Agbar. Ein wahrlich stolzes Tier nicht wahr?« Er holte tief Luft und Ehrgefühl schwang in seinen Worten. Er erklärte den beiden, dass dieser Vogel lange Zeit fortblieb und erst eines späten Abends, wie im Sturzflug aus dem Wald schoss. Im Anschluss seiner Ausflüge käme dieser stets zuerst zu ihm und verlangte seinen Lohn. Einen happen frisches Fleisch, wie jene, die in einem Eimer neben den Gewerken stand und Kremir nunmehr nach langte. Pfeilschnell griff der Falke nach dem rohen Stück, welches er ihm zuwarf.
Er schwieg einen Moment, so als suche er nach den richtigen Worten.
»An besagtem Abend jedoch umkreiste er aufgebracht den oberen Burghof und stob in die obersten Horste der Adler, den ›Majestäten der Lüfte‹. Es hieße, dass wenn sich einer der Sucher zu ihnen hinauf wage, sie einen geeigneten Anwärter präsentierten. Einen, der das Banner der Freiheit erneut hissen würde.« Er musterte auffordernd erst Veyed dann Kayden. Ihm schien es eine Herzensangelegenheit, dass beide verstanden, was er ihnen mitzuteilen versuchte. »Es kam äußerst selten vor und manch einer der Tiere blieb mehrere Wochen lang fern, um nach einer kurzen Erholung hier auf Falkenhorst abermals fortzufliegen. Wisst ihr, Agbar war einer der jüngsten seiner Art und sehr aufgeschlossen. Eines Tages nährte sich einer der größeren Steinadler, die ihre Nester ... Ihren Horst ... weit oben in den Spalten des Berges bauten. An Größe bleiben diesem nur noch die Seeadler mit ihren weißen Köpfen überlegen.«
»Und was hat dieser Steinadler gewollt?«, erklang Veyeds gelangweilte Stimme. Nur Kaydens Blick verriet Neugierde und so ging Kremir auf die Provokation nicht ein. Er führte seinen Monolog, im Interesse des Jüngeren, einfach fort.
»Kaum das die Schneeschmelze einsetzte und die Vögel begannen sich zu erheben, flog Agbar von dannen. Zweimal fand er den Weg zurück auf die Gestelle, das dritte Mal besann er sich und flog hinauf.« Sein Blick deutete weit nach oben, dort wo es nichts weiter zu sehen gab als die felsigen Nasen des Gebirges.
»Als dieser anstatt seines brocken Fleisches einzufordern mit einem der Adler davonflog, war dies für Kylion und den Schattenjäger das Zeichen zum Handeln. Kylion wies die Jäger an, am Waldrand Stellung zu beziehen, und übersandte Nachrichten.«
»Nachrichten? An wen und wohin?«
Der Falkner beugte sich herab, um den Jungs in die Augen sehen zu können. »Unsere Verbündeten mussten erfahren, dass ein Adler sich erhob, um einen Anwärter zu prüfen.«
Veyeds Interesse schien nun doch geweckt, da verschiedensten Ausführungen nach er persönlich betroffen war. »Was ist das für eine ... Prüfung?«
Kremir zuckte indes mit der Schulter und schnaufte. »Das, mein Junge, kann dir leider niemand sagen. Auch wissen wir nicht, ob es sich um eine Prüfung im herkömmlichen Sinne handelt.«
Es stünde nirgends geschrieben, noch wurde es überliefert. Berichten von Beobachtern zu urteilen, müsse es sich jedoch um eine solche handeln. Ein Falke und ein Adler. Beide beobachteten ein Kind oder junge Heranwachsende. Zumeist Knaben, wohingegen auch von Mädchen die Rede war. Es war demnach nicht ausgeschlossen, dass die Wahl auf eine weibliche Person zutreffen konnte.
Es war Alric, der fortwährend behaupte, den künftigen ›Falken‹ unlängst erkannt und gefunden zu haben. Er fühlte sich diesem eng verbunden und wollte für die Lehren der Grundzüge sorgen, auch ohne das einer der Adler oder ›Majestäten der Lüfte‹, wie wir Falkner sie nennen, diesen segnete. Alric glaubte zwar einerseits an Bestimmungen und Unerklärliches aber in dieser Angelegenheit kochte er sein eigenes Süppchen. Es konnte ja niemand ahnen, dass er mit seiner Vermutung recht hatte.«
»Darf ich ihn streicheln?«
Kremir hob die Brauen und war über die Furchtlosigkeit des Jungen beeindruckt. »Allein der Gedanke, einen Falken berühren zu wollen, wiederstrebt vielen. Du möchtest ihn sogar streicheln?«
»Darf ich?« Mit kindlichem Eifer wartete Kayden auf sein Einverständnis.
Sein Bruder dagegen wirkte verunsichert und spielte sich auf. »Kay bist du von Sinnen? Das erzähle ich Ma' und Pa'.«
Die Mundwinkel des Zurechtgewiesenen zuckten und er blies lässig Luft durch seine Lippen. »Pff. Der Weg ist weit, und wenn du der ›Falke‹ sein wirst ...« er zuckte mit den Schultern. »... ich bin dein Bruder, was soll mir schon passieren?«
Noch bevor Kremir den Vogel für seinen Besuch mit einem weiteren Stück Fleisch belohnen und somit auch beruhigen konnte, war der für seinen Geschmack voreilige Junge heran. Er tat, als wäre es eine Selbstverständlichkeit und mit dem Tier von klein auf aufgewachsen. Ohne erkennbare Furcht hob er seine linke Hand und legte sie Flach auf das wohlig weiche Gefieder. Der Falkner sog scharf Luft ein und schluckte jene Verwünschung herunter, die ihm auf der Zunge lag, als der junge Falke unterwürfig den Kopf senkte.
»Es fühlt sich flauschig an, nicht so struppig wie bei einem Huhn.«
Es war Kremir unverständlich, mit welcher Gelassenheit ein Greifvogel, ein Raubtier wie Agbar, sich dies gefallen ließ.
Veyed wollte seinem kleineren Bruder nicht nachstehen, hob vorsichtig seine Hand und trat auf die gegenüberliegende Seite. Unfassbar aber seine Augen trügten nicht. Zwei nichts ahnende Burschen, die von Tieren dieser Art lediglich das wussten, was man ihnen in Geschichten erzählte, streichelten ein wildes Raubtier. Keinen ausgebildeten Falken, wie sie einst als Wappentiere in mancher Burg gehalten und gezüchtet. Ein Greifvogel, welcher seine Mahlzeiten auf offenem Felde jagte und riss.