Es war einmal vor langer Zeit, da lebte bei uns im Garten eine Feen-Familie. Sie half im Frühling, die jungen Triebe zu schützen, wenn es einen späten Wintereinbruch gab; kümmerte sich im Sommer um die gleichmäßige Versorgung der Pflanzen mit Wasser und Sonne und sorgte im Herbst dafür, dass wir rechtzeitig vor dem ersten Frost die Bäume und Sträucher abernteten. Das war damals ein ruhiges Leben im Garten. Alles gedieh wie von selbst, gleich ob es heiß und trocken war oder nass und stürmisch.
Doch eines Tages fegte ein eisiger Nordostwind reichlich vor dem eigentlich zu erwartenden Wintereinbruch durch das Land. Und nach all den lauen Wintern zuvor hatten auch die Feen noch nicht mit Eis und Schnee gerechnet. So kam es, dass einige von ihnen beim Bemühen um die letzten Rosenknospen erwischt wurden. Und so gefroren sie gerade in der Haltung, die sie zu Beginn des Eissturmes eingenommen hatten. Dem Uneingeweihten, der nicht an Feen und dergleichen Geschöpfe glauben mag, werden sie wie besonders filigrane Gebilde aus Raureif und Schnee erschienen sein.
Auch wir, mein Mann, meine Tochter und ich, hielten sie zuerst für Raureif-Skulpturen. Allerdings nicht lange – denn als wir uns gerade zu Tisch setzen wollten, prasselte ein sanfter Hagel an unsere Terrassentür. Ich dachte mir nichts dabei, aber Philie, unser Labrador-Beagle-Mischling, sprang darauf zu und begann, mit den Pfoten zu scharren. „Lass das, aus“, wollte ich ihn zurecht weisen, als er ohnehin schon eine Pause machte.
Als ich das Gemüse, das ich gerade in der Hand hielt, auf den Tisch stellen wollte, hörte ich es erneut: Prrrrrrrssssssssssst, prrrrrrrrrst!
Philie wedelte nun mit dem Schwanz und jaulte leise.
Prrrrrrrrrssssst, prrrrrrst!
Zum dritten Mal, das kann kein Zufall sein, dachte ich, stellte den Gemüseteller ab und öffnete vorsichtig die Terrassentür. Philie hielt ich mit den Knien davon ab, nach draußen zu stürzen. Nur – da schien niemand zu sein! Schon wollte ich wieder schließen, als mir der Hund jaulwedelnd nach draußen entwischte...
Zielstrebig war er auf die Rosenbüsche zugestürzt und blieb wie hypnotisiert davor stehen.
„Bitte, junge Frau, schaut...“
Die Stimme klang hell und klar, aber es dauerte etwas, bevor ich die durchscheinenden Wesen vor mir erkannte. Die Feen! Nur einmal zuvor hatte ich sie erblickt und das war gleich nach unserem Einzug gewesen. Lange her. Sie hatten sich vorgestellt, um Ruhe rund um einen bestimmten Platz auf dem Grundstück gebeten und dass wir den Hollerbusch nicht schneiden dürften, wenn wir wollten, dass sie weiter ihrer Arbeit mit den Pflanzen nachgehen. Ich war so erstaunt über die Begegnung, dass ich es sogleich versprach. Und daran hielten wir uns auch, Jahr für Jahr, obwohl es einige Zeit dauerte, meinen Mann zu überzeugen. Doch schließlich musste er zugeben, dass wir besonders wenig Arbeit mit den Büschen und Blumen hatten, und sie umso prächtiger gediehen, ganz ohne unser Zutun. Mit der Zeit stellten sich auch immer mehr Singvögel ein und selbst Eichhörnchen, Reh und Eichelhäher gesellten sich friedlich zu uns. Das gefiel ihm sehr, da er es liebte, Tiere zu beobachten, und so ebbten unsere Diskussionen ab und der Hollerbusch blühte Jahr für Jahr und versorgte uns mit Beeren.
Jetzt waren die Feen wieder da! Ich war etwas verlegen, weil ich nicht wusste, wie ich sie behandeln sollte. Konnte ich sie einladen, an unserem Abendbrot teilzunehmen? Sollte ich ihnen einen Tee hier draußen servieren? Oder war es besser, einfach nur zu lauschen?
Mitten in meine Gedanken hinein erklang wieder die Stimme. Dabei konnte ich nicht sagen, welche von ihnen gesprochen hatte. Als sie weiter sprach, erkannte ich auch, warum: Keine von den fünfen öffnete den Mund!
Nun war ich wirklich erstaunt, da kicherte es vielstimmig. Auch das natürlich ohne Mundbewegung. „Danke für Speis und Tee“, hörte ich, noch erstaunter als zuvor. Während die Feen mir erklärten, dass meine Gedanken für sie so hörbar waren, wie ihre Stimmen für mich...
„Nein, nein, auch du hörst unsere Gedanken, wir sprechen nicht...“
… also da erinnerte ich mich, dass sie damals zu siebt aufgetreten waren. Sieben, hatten sie gesagt, war ihre magische Zahl, und nur zu siebt konnten sie die Pflanzen und Tiere bei uns schützen und pflegen. „Wo sind...“
„Gut, dass du es merkst. Denn nur, wenn die Menschen uns vermissen, können sie uns helfen, wenn wir einmal in der Klemme sind“, dacht-sagte die größte der Feen. Sie schilderte mir nun das Unglück, das ihren beiden Schwestern widerfahren war.
Sieh an, dachte ich, Philie scheint sie schon gefunden zu haben. Der Hund schnupperte, fiepte, sprang auf und drehte sich im Kreis. Und das wiederholte er ununterbrochen.
„Hunde sind feine Wesen, aber ein Mensch muss sie befreien, sollen sie weiter leben.“
„Oh, und wie mache ich das?“ Ich konnte beim besten Willen nichts Feenhaftes an dem Schnee bedeckten Rosenbusch erkennen. Selbst wenn ich die beiden Feen – Hillie und Silvie – in ihrer gefrorenen Statur entdecken sollte – wie konnte ich sie wiederbeleben? Mikrowelle war bestimmt nicht die richtige Antwort.
Erst als sich die fünf Feen abwenden wollten, merkte ich, wie sehr mein Gedanke sie gekränkt hatte. Und so beeilte ich mich, mich sehr tief zu entschuldigen. „Es ist meine Verzweiflung, die da sprach“, sagte ich dann laut, „weil ich keinen blassen Schimmer habe, was ich tun kann!“
Eine der fünf wendete sich wieder um: „Nun, nur ein Mensch, der eine Fee liebt und sie vermisst, kann sie wieder beleben – so lehrt es Frau Holle zu jeder rauhen Nacht. Doch mehr zu sagen, ist nicht erlaubt, ohne dass sie in deren Reich erwacht.“
Erstaunt dachte ich: „Haben Feen keine Zauberkraft?“
Die Fee sah nun sehr traurig aus. „Wenn wir nicht zusammen sind, erlischt auch unsere Zauberkraft.“ Sie eilte den anderen nach, die Richtung Hollerbusch verschwanden.
Fröstelnd näherte ich mich Philie und dem Rosenbusch. Im Dunkeln konnte ich kaum etwas erkennen. So hatte es eindeutig keinen Zweck. Ich beschloss, nach einer Taschenlampe zu suchen und mir einen warmen Mantel zu holen. Den Hund musste ich am Nackenfell hinter mir her ziehen. Glatte Befehlsverweigerung.
Sally, meine Tochter, war mittlerweile nach Hause gekommen. Sie überraschte mich bei der Suche nach der Taschenlampe im überfüllten Vorratsraum. Die Feengeschichte glaubte sie mir erst, als sie Philies Spuren im Schnee begutachtete. „Wieso hast du mir nie erzählt, dass wir Feen haben“, empörte sie sich.
„An die hättest du nicht mehr geglaubt als an den Weihnachtsmann!“
Der Weihnachtsmann! Die Rauhnächte... Frau Holle. Gleich nach Weihnachten musste eine Chance sein, sie zu sprechen. Sie erscheint immer in den Tagen zwischen den Jahren.
„Bis dahin sind Hillie und Silvie längst erfroren“, unkte meine Tochter nicht sehr ermutigend.
Wenn ich sie wenigstens schon mal erkennen könnte... Wir beleuchteten den Rosenbusch ergebnislos.
Das musste auch Ulf denken, als er nach Hause kam und sich zu uns gesellte. „Macht ihr hier schon mal Weihnachtsbeleuchtungsprobe?“ Er nahm uns beide in den Arm und schaute ebenfalls ganz gebannt auf den Schnee bedeckten Busch. „Also Feen, ja? Zwei Stück?“ Und dann blickte er nur noch stumm und schien ganz geistesabwesend. Es dauerte einige Minuten, dann zeigte er auf die Umrisse. Sie waren nicht sehr groß. „Kälte zieht zusammen“, erklärte er selbstbewusst auf meinen Einwand, dass die Umrisse viel kleiner seien als die anderen Feen gewesen waren.
Ich stimmte ihm zu, nur um irgendetwas zu tun, und weil ich mir nicht eingestehen wollte, dass ich keine Ahnung hatte, wie das Rätsel gelöst werden konnte.
„Gut, wir haben sie entdeckt, nun essen wir“, bestimmte Ulf den nächsten Schritt. Meine Einwände, wir könnten Hillie und Silvie nicht alleine lassen, ließ er nicht gelten. „Du brauchst Energie, um sie zu befreien.“
Ich ließ mich überzeugen. Eigentlich war es mir ganz recht, ins Warme zu kommen.
Es dauerte eine Weile, bis wir redeten. Sally tippte die ganze Zeit auf ihrem Phone rum. Was auch immer sie da machte...
„Es wird eine Lösung geben“, versuchte Ulf mich zu trösten und streichelte meinen Arm, „es gibt immer eine Lösung“.
Ich sparte mir den sarkastischen Hinweis, dass die Lösung im schlimmsten Fall bedeutete, dass zwei Feen starben – und die anderen uns ebenfalls verlassen würden.
„Sterben?“ Sally schaute mich an. „Feen sterben nicht.“
„Das hat mir aber die Oberfee gesagt“, wollte ich protestieren, als mir einfiel, dass sie nur von einem Wechsel in Frau Holles Reich gesprochen hatte.
„Und zu Frau Holles Reich gehören alle Feen sowieso“, jubelte meine Tochter nun. Sie hielt mir ihr Phone unter die Nase. Da stand es: Feen leben bei Frau Holle. Ganzjährig, immer. Sie sterben nicht.
Was in diesen Wikis nicht alles zu erfahren ist! Ich bedankte mich für die Info.
„Dann ist es ja wohl klar, wo du nachforschen kannst“, sagte mein Mann.
Wieso?
„Na, beim Hollerbusch – Frau Holles Busch!“
Während ich noch über die Findigkeit meiner Tochter staunte, bemerkte ich, dass sie mir ebenso auf reine Gedanken geantwortet hatte, wie die Feen. Doch ich kam nicht mehr dazu, sie danach zu fragen.
Sie war aufgesprungen und zur Terrassentür hinaus gestürmt. Ich holte ihren und meinen Mantel und folgte ihr in die Tiefen unseres Gartens bis zum Holunder, der ebenso unter Schnee begraben war wie die Rosen. Sally beleuchtete den Busch und begann, ihn vom Schnee zu befreien, indem sie an einem der Zweige rüttelte.
Da kam Leben in den ganzen Busch und er schüttelte und rüttelte sich von ganz alleine, bis keine einzige Schneeflocke mehr auf ihm lag.
Wir drei staunten, als nun ein Licht aus der Erde aufzusteigen schien und den ganzen Garten erhellte. „Wer hat mich gerufen? Wer wagt es, mich außerhalb der Zeit zu sprechen?“ Es war Frau Holle selbst, deren Gestalt niemand außerhalb der Rauhnächte sehen konnte.
„Wie können wir die beiden unglücklichen Feen aus dem Rosenbusch befreien“, fragte Sally sogleich.
„Die Feen befreien, wer fragt, wer fragt mich, wenn er die Feen nicht kennt und nicht benennt!“ Das Licht begann zu verblassen.
„Hillie und Silvie, die beiden Feen, die Rosen und Rotkehlchen geschützt haben, wie kommen sie zurück hierher, dass sie weiter pflegen und leben?“ Nie hätte ich mir zugetraut, so zu sprechen, doch in der Eile hatte ich überhaupt nicht nachgedacht. Die Wahrheit war, ich hatte keine Ahnung, was genau welche der Feen tat. Ich hatte sie nur zwei Mal gesehen, genau genommen, Hillie und Silvie nur einmal. Denn im gefrorenen Zustand mochte ich sie nicht als gesehen zählen. Ihren Namen hatten mir die fünf anderen erst heute genannt. Immerhin hatte ich ihr Fehlen bemerkt...
„Ah!“ Das Licht wurde wieder stärker. „Wer sie vermisst und bekennt, sie in ihrem tiefsten Wesen erkennt, und beim Namen nennt...“ Frau Holles Licht verblasste und verschwand wieder in der Erde.
Ratlos schaute ich von dem Hollerbusch zu Sally und Ulf. Da erkannte ich fünf durchscheinende Gestalten hinter dem Holunder. Sie schienen abzuwarten. Was sollte ich tun? Die fünf Feen taten mir leid – sie hatten so viel für uns getan! Wenn nicht sie, wer dann hatte Anspruch auf ein Wunder? Waren sie ja selbst die wundervollsten Geschöpfe, die auf der Erde weilten. Ich bedauerte nun, da sie uns vermutlich verlassen würden, sehr, dass ich nie versucht hatte, richtig mit ihnen in Kontakt zu treten. Wer weiß, was ich hätte lernen können – und vielleicht hätten wir auch viel Freude zusammen gehabt... Ich wollte ihnen mein Beileid ausdrücken, wusste aber nicht, wie ich es sagen sollte. „Hillie und Silvie“, begann ich den Feen zugewandt, „ich wünschte, ich hätte sie, euch, wunderbaren Wesen besser kennen gelernt...“
Da gab es zwei helle Lichtblitze im Garten. Wir Menschen erschraken sehr, doch die Feen klatschten in die Hände und lachten. Als sie auch noch um uns zu tanzen begannen, rieb ich mir die Augen. Und erst da sah ich die beiden Neuankömmlinge: Gefolgt von Philie hatten sie sich vom Rosenbusch gelöst, eine mächtige Schneewolke aufgewirbelt und unserer Versammlung vor dem Hollunder zugesellt: Hillie und Silvie!
Nun lachte auch meine Tochter. Als sie sich wieder gefasst hatte, erklärte sie mir, wie es mir gelungen war, die beiden zu befreien.
„Genauer hättest du Frau Holles Anweisung nicht befolgen können“, lobte mein Mann. Er ging ins Haus und kam mit einem Tablett voller Schnapsgläser mit heißem Fliederbeersaft wieder. „Hier, zum Wohl! Und nun lasst uns nie wieder so lange in getrennten Welten leben“, sagte er.
Wir feierten und tanzten, bis wir müde waren. Mit den Feen treffen wir uns jetzt und arbeiten gemeinsam im Garten, jeder auf seine Weise. Nur vor Besuchern lassen sie sich nicht sehen.