Jana wachte schon vor fünf Uhr auf. Sie konnte noch schlafen, doch sie fand keine Ruhe. Immer wieder sah sie das Kind vor ihren Augen. Selbst im Traum hatte es sie verfolgt. Sie musste wissen, was mit der Kleinen passiert war, wie es ihr jetzt ging. Vielleicht konnte sie später mit ihrer Großmutter sprechen. Da es nichts brachte allein im Zimmer zu bleiben, beschloss sie etwas früher anzufangen.
Die Nachtschwester war dabei den Aufenthaltsraum einzudecken. Bis Dienstbeginn hatten sie gemeinsam alles für das Frühstück vorbereitet und einen Teil der bettlägerigen Bewohner versorgt.
Eine Helferin meldete sich krank und die andere kam nicht. Jana war dankbar, dass die Nachtschwester trotz ihrer Müdigkeit bis fast neun Uhr blieb.
Danach war allein und versuchte den Betrieb allein aufrecht zu halten. Im Bereich zwei war auch nur eine Pflegerin.
Gegen elf kam der Zwischendienst.
»Kannst du länger bleiben? Ich schaff das nicht.« Die ältere Kollegin sah sie bittend an. Jana schluckte. Die Frau hatte die letzten zwei Tage frei gehabt. Auch jetzt war sie zehn Minuten zu spät erschienen. »Ich helf dir das Essen zu verteilen und anzureichen, dann gehe ich. Die Verbände hab ich schon alle erneuert. Gegen vier kommt der Spätdienst. Ich habe jetzt drei Wochen durchgearbeitet. Ich bin seit sechs Uhr ohne jede Pause hier. Um ein Uhr gehe ich. Ich muss heute abend auch wieder einspringen, mehr geht echt nicht. «
»Wie soll ich das nur schaffen? Überall klingelt es. Die Leute ...«
Jana hörte ihr nicht mehr zu. Sie kümmerte sich um die Medikamente, verteilte Getränke und Essen. Dann ging sie, den anklagenden Blick der Kollegin im Nacken. Ich könnte rund um die Uhr bleiben und es würde nicht langen, dachte sie frustriert. In ihrem Zimmer schaltete sie das Handy aus, duschte und zog sich dann um, bevor sie ihr Rad aus dem Keller holte. Auf dem Parkplatz standen nur wenige Fahrzeuge. Zwei Drittel der Belegschaft hatten sich krank gemeldet. Die letzte Woche hatten sie einige Bewohner ins Krankenhaus verlegen müssen, Grippe. Bis jetzt lebten nur noch zwei von ihnen. Keiner glaubte, dass sie es schaffen würden. Sie hatte versucht wegen der Enkelin der Bewohnerin anzurufen, doch weder bei ihren Eltern, noch im Krankenhaus ging jemand ans Telefon.
Es war warm für November. Sie nahm den Weg durch den Wald. Er war etwas länger, doch sie brauchte die Natur, um endlich zu entspannen. Was, wenn es weiterging wie bisher. Konnte sie im Februar hier weg, wenn die Situation so blieb? In Gedanken versunken, hätte sie beinahe die Abzweigung, die zu dem Hof führte, übersehen. Am Feldrand schreckte sie eine Gruppe Rehe auf.
Die Koppel war leer, der Hof wirkte verlassen. Sie lehnte ihr Rad an einen Zaun und schaute in den Stall. Fast alle Boxen waren offen. Ganz hinten standen zwei Pferde. Sie wieherten aufgeregt, als sie Jana bemerkten. Die Tiere hatten weder Wasser noch Heu. Was war mit den anderen passiert?
Seufzend führte sie die Tiere in freie Boxen, gab ihnen Wasser und Heu und überlegte, ob sie sie auf die Koppel bringen sollte, als Paul, der junge Bauer in den Stall humpelte.
»Jana, ich dachte schon, du willst nichts mehr von uns wissen. Wir haben dich vermisst.«
»Tut mir leid. Ich habe seit drei Wochen jeden Tag mehr als zehn Stunden gearbeitet. Fast zwei Drittel der Belegschaft ist ausgefallen. Grippe.«
»Ja, schlimm. Meine Eltern sind auch krank. Ich hatte einen Unfall, kann mich nicht um alles kümmern.«
»Was ist mit den Pferden, wieso sind nur noch zwei da?«
»Mein Bruder hat fünf auf seinen Hof geholt. Er kann sich besser um sie kümmern. Die anderen waren Pensionstiere, ihre Besitzer haben sie vor Tagen mitgenommen, ich fürchte, sie haben mir nicht mehr vertraut.« Er lachte bitter.
»Hast du was dagegen, wenn ich die Tiere auf die Koppel bringe? Ich helf dir am Abend sie wieder reinzubringen, aber sie würden sich gern bewegen.«
»Ist ok. Willst du reiten? Wenn ja, nimm den Wallach.«
»Gern, kommst du mit?«
»Ich muss arbeiten, aber du hilfst mir schon, wenn du die Stute auf die Koppel bringst. Und danke, dass du sie versorgt hast.«
Jana nickte ihm zu. Es war fast halb vier, als sie das Pferd zum Wald lenkte. Sie trabten bis zur Abzweigung auf dem breiten Versorgungsweg, dort ließ sie das Tier galoppieren. Wie hatte sie diese Ausritte vermisst. Sie nahm sich fest vor, egal was im Heim los war, sie würde zweimal in der Woche auf einem freien Nachmittag bestehen. An einem kleinen See hielt sie an. Überall standen Austernseitlinge. Sie band das Pferd an einen Baum, nahm einen Beutel und das Messer aus dem Rucksack. Heute Abend würde es eine leckere Pilzpfanne geben.
Sie hob ihren Kopf und spitzte aufmerksam die Ohren. War da jemand. Sie hörte nichts. Sie wollte gerade den ersten Pilz abschneiden, als sie die Schreie vernahm. Durchdringend und schrill. Sie ließ den Beutel stehen und schwang sich auf das Pferd. Aufmerksam schaute sie sich um. Nicht weit von hier war, wie sie wusste, ein Platz, auf dem Spaziergänger ihre Fahrzeuge parkten. Wieder ertönte ein Schrei. Er kam genau aus dieser Richtung. Sie trieb den Wallach an. Das Messer steckte sie in den Gürtel.
Auf dem Parkplatz stand ein dunkelgrüner SUV. Die Türen standen offen. Direkt davor schaukelte ein Mädchen auf den Knien. Ein Mann, Jana vermutete aufgrund seiner Kleidung, dass es ein Jäger war, kämpfte mit einem Jugendlichen. Ihr Pferd weigerte sich weiterzugehen.
»Was machen Sie mit dem Jungen?!«
»Er hat das Mädchen gebissen, kümmern Sie sich bitte um sie! In meinem Auto ist ein Erste Hilfe Set«
Jana schaute zu der jungen Frau. Sie stieg ab und hängte die Leine an einen Pfosten.
Das Mädchen stand eindeutig unter Schock. Der Ärmel der Jeansjacke war zerissen , die Wunde darunter sah schlimm aus. Jana wollte nicht darüber nachdenken, wie der Arm aussehen würde, wenn das Mädchen die Jacke nicht angehabt hätte. Sie nahm den Verbandskasten aus dem geöffneten Kofferraum, desinfizierte den Unterarm so gut es ging und legte dem weinenden Mädchen einen Verband an.
»Das muss chirurgisch versorgt werden. Sie steht unter Schock, wir müssen einem Krankenwagen rufen. Haben sie ein Handy?«, wand sie sich an den Jäger, der es inzwischen geschafft hatte den Jungen zu verschnüren.
»Ja, aber keinen Empfang. Haben Sie eins?«
»Leider nein.« Sie hatte es auf dem Hof liegenlassen.
Der Jäger stand auf. Sein Hemd war blutverschmiert. Der Gefesselte wand sich auf dem Boden. Seine Augen waren weit aufgerissen, die Sclera gelb. Er schaute jetzt zu Jana und versuchte sich zu ihr zu schlängeln, während er fauchend seine Zähne zeigte.
»Was ist mit dem, hat er diese neue Tollwut?« Der Junge erinnerte sie an das kleine Mädchen im Heim.
»Keine Ahnung. Sieht fast so aus. Die neue oder die alte Art. Ich hab ihn kaum von dem Mädel runterbekommen. Er hat auch versucht, mich zu beißen. « Der Mann kontrollierte seine Hände.
»Hat er Sie erwischt?«
»Zum Glück nicht. Die Kleine wird aber eine Immunisierung brauchen.« Er wies auf den weinenden Teenager.
»Ich bringe sie ins Krankenhaus. Können Sie solange hier bei dem warten?« Er zeigte auf den Jungen, der versuchte, sich aus seinen Fesseln zu befreien. Jana wollte nicht, aber ihr fiel auf die Schnelle keine Ausrede ein.
»Keine Sorge, ich liefere sie ab und bin in spätestens einer Stunde wieder da, ansonsten werde ich versuchen jemanden herschicken.«
Er setzte das schluchzende Mädchen auf den Beifahrersitz und schnallte sie an.
»Haben Sie keine Angst, ich habe ihn gut gefesselt!«, rief er Jana noch zu, dann setzte er sich in sein Auto und fuhr davon. Jana bereute, auf die Schreie reagiert zu haben. Der Junge, der sich wie wild auf dem Boden wand, tat ihr leid, aber sie konnte ihm nicht helfen. Sie setzte sich auf einen Stein neben den Pfahl, an dem sie das Pferd angebunden hatte.
»Willst du was trinken?«, fragte sie den Gefesselten, der versuchte, sich in ihre Richtung zu schlängeln. Sie nahm eine Flasche Wasser aus dem Rucksack und trank einen Schluck. Der Junge beobachtete sie.
»Willst du ?« Sie hielt ihm die Flasche hin. Er warf den Kopf nach oben und versuchte nach ihren Finger zu schnappen. Stattdessen erwischte er den Hals der Plastikflasche, knurrte und zerbiss sie mit den Zähnen, während er weiter versuchte, nach ihr zu beißen. Es zog an ihrem Arm, er hatte ihren Reif erwischt. Sie riss die Hand nach oben und brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit. Ihr Mitleid schwand.
»Tut mir leid, auch wenn du nichts dafür kannst, beißen lasse ich mich nicht.« Sie schaute auf den Rest des Silikonschmucks am Boden. Ein Geschenk ihrer Patin. Er hätte sie erwischt, wenn der Reif nicht gewesen wäre.
Der Junge begann zu röcheln. Wenn er von dem Teil etwas verschluckt hatte, müsste sie seinen Atemwege freimachen, damit er Luft holen konnte. Sie schaute besorgt in seine Richtung. Nein. Verdammt, er machte ihr Angst. Wo blieb nur dieser blöde Jäger. Inzwischen wurde es langsam dunkel. Gerade als sie überlegte, ob sie einfach wegreiten sollte, kam der Mann zurück.
»Tut mir leid, ich bin nicht durchgekommen, habe das Mädchen jetzt bei meiner Frau abgesetzt. Sie kümmert sich um einen Krankenwagen. Wenn Sie mir helfen könnten, den Typ ins Auto zu legen? Ich fahre ihn direkt zur Polizei, sollen die sich um ihn kümmern.«
Auf dem Rücksitz lag eine Plane. Jana vermutete, dass der Jäger damit sein geschossenes Wild transportierte. Sie half ihm, den Mann ins Auto zu legen, während sie sein Röcheln ignorierte.
»Passen Sie auf, dass er nicht beissen kann. Bei mir hat er es versucht.«
»Keine Sorge, das wollte er vorhin schon. Aber ich hab was mitgebracht.«
Er nahm Klebeband und klebte es dem Gefesselten über Mund. Der verdrehte die Augen. Jana schaute weg, stieg auf das Pferd und ritt zurück. Als sie auf den Hof kam, brachte Paul gerade die Stute zurück in den Stall.
»Ich wollte dich schon suchen, du warst lange weg. Alles Okay? Du wirkst angespannt. War was mit dem Wallach?«
Jana nickte. »Nein. Es war alles in Ordnung.«
Sie rieb das Pferd ab und versorgte es.
»Wann kommst du wieder?«
»Kommt auf meinen Dienst an, aber ich werde versuchen, mir ab und an frei zunehmen. Ich kann ja nicht nur arbeiten. Ach und Paul, pass auf dich auf!«
Sie stieg aufs Rad und fuhr den Weg über die Landstraße zurück. Es war inzwischen stockdunkel. Die Begegnung im Wald hatte sie dem Bauer verschwiegen. Ob er den Jäger kannte? Sicher, hier kannte sich jeder. Vielleicht hätte sie davon erzählen sollen. Sie konnte sich kaum auf die Straße konzentrieren. Sie dachte daran, wie brutal der Jäger dem Jungen den Mund zugeklebt hatte. Sie hätte einschreiten müssen. Der Gefesselte könnte ersticken. Trotzdem hatte sie nur zugesehen.
Um diese Zeit fuhr hier selten ein Auto, doch die Straße wirkte anders. Bedrohlicher. Sie fuhr fast auf der Mitte der Fahrbahn. Der dunkle Wald zur Rechten wirkte unheimlich. Sie erhöhte ihr Tempo. Die Strecke kam ihr länger vor als sonst. Es nieselte. Das fahle Licht des Mondes spiegelte sich auf dem feuchten Asphalt. Der Regen wurde stärker. Völlig durchnässt gelangte sie zum Parkplatz hinter dem Nebengebäude des Heimes. Sie schaute auf die Uhr. In zwanzig Minuten begann ihr Dienst. Sie musste sich beeilen.