Es ist nun eine ganze Woche her, dass Emilia mich hat sitzenlassen. Sie ignoriert mich komplett. Wir reden gar nicht mehr oder nur das mindeste. Ihre Distanz schmerzt. Sie weiß es! Manchmal, da ist es noch wie früher. Wir beide sehen uns für einen Augenblick an und sehen dann beide wieder befangen weg. Dann muss ich immer lächeln, weil ich ihr verhalten so süß finde. Ich habe vor ein paar Tagen zu ihr gesagt, dass sie wunderhübsch aussieht, aber sie hat sich nur weggedreht. Sie hat nun die Haare ein wenig kürzer. Es steht ihr. Alles steht ihr! Mittlerweile trägt sie sehr oft Nagellack auf. Oft roten. Ich habe ihr, das ist schon eine ganze Weile her, mal gesagt, dass ich die Farbe rot unglaublich sexy finde. Besonders bei Nagellack. Ob sie mir irgendetwas sagen möchte? Ich möchte es jedenfalls, doch mir sind die Hände gebunden...
An diesem Tag betrete ich mit Koffern den Klassenraum. Die meisten meiner Mitschüler sind bereits da. Ich blende, wie so oft in den letzten Tagen alles um mich heraus. Interessiert ja eh keinen... Im Hintergrund ist das Getuschel meiner Klassenkameraden, im Vordergrund meine Gedanken. Ich lasse mich auf meinem Platz nieder und denke. Mein Blick schweift nach draußen. Wie so oft in den letzten Tagen bewegen sich die Blätter im Wind. Wo der Wind sie wohl hintreiben würde, wenn sie nicht von dem Baum festgehalten werden würden? Ein lautes Knattern holt mich aus meinen Gedanken. Die anderen gehen an das Fenster, um zu schauen, was da ist. Ich bleibe sitzen. Was kann das sein? Getuschel kommt auf. Nur wenige Minuten später geht die Tür auf. Hannah Ricken betritt den Raum. Ein merkwürdiges Gefühl macht sich in mir breit. Alles in meinem Körper kribbelt. Mir wird heiß und kalt zugleich. Aufregung kommt auf und auf meinen Lippen zeichnet sich ein ausgelassenes Lächeln ab. Ich freue mich. Sie trägt eine schwarze Lederjacke, auf dessen Schulter Prajetten platziert sind. Wieder ihr rote Nagellack. Ihr schönes, goldenes Haar ist zu einem strengen Zopf gebunden. Hinten hängt eine kleine Strähne heraus. Sie trägt dunkelroten Lippenstift auf. Bestimmt wieder mit Erdbeergeschmack... Ich erinnere mich an die Zeit zurück, in der ich ihren Erbeergeschmack-Lippenstift schmecken durfte. Dann haben ihre Finger sich ganz sanft an meiner Taille festgekrallt und wir standen eine halbe Ewigkeit einfach nur so da. Was war das für ein einmaliges Gefühl... Ich bekomme Gänsehaut und... ich muss aufhören! Neben ihr steht ein Mann, den ich nicht auf den ersten Blick erkenne. Er hat dunkelbraune Haare, braune Augen. Sein Körper ist durchtrainiert und seine Anziehsachen schick. Sie küssen sich. Natürlich! Es ist ihr (Ex-) Freund! Ich erstarre, als ich das sehe. Alles in mir dreht sich. Ich bekomme Kopfschmerzen. Wieso muss Liebe nur so sehr wehtun? Lea setzt sich neben mich und sieht mich direkt an.
„Hey... Alles gut? Du bist ganz blass!“, bemerkt sie. Ich nicke kurz und abwesend. Mein Blick klammert sich nach wie vor an Hannah, welche meiner Selbst keinerlei Beachtung schenkt. Sie kann ihre Zunge nicht aus dem Hals des Mannes lassen. Ob sie mich ärgern möchte?
Lele stößt einen Merkwürdigen Laut aus, den ich nicht ganz zu deuten weiß. Sie grinst wissen und sagt: „Jetzt weiß ich, was hier los ist! Warte mal...“. Mit diesen Worten verschwindet sie aus meinem Blickfeld und geht zu.... Emilia Adams. Ich erstarre und möchte sie aufhalten, aber, wenn ich hinterherrenne, wirkt es komisch. Ich bleibe sitzen und sehe schnell weg, als würde mich das alles nicht interessieren.
„Julia....“, höre ich und stehe auf. Nun stehe ich direkt vor Emilia Adams. Etwas provozierend nahe, merke ich.
„Ich habe gehört, dir geht es nicht so gut. Was ist denn?“, fragt sie beinahe genervt, dass ich sie jetzt tatsächlich nerve, beim Rumknutschen. Es kostet mich viel Beherrschung, so ruhig zu bleiben. Ich atme ganz tief ein und strahle gespielt.
„Ich denke, das weißt du ziemlich genau, Emilia!“, antworte ich. Ziemlich bewusst duze ich sie nach wie vor, denn das kann mir niemand nehmen, das ist die einzige Verbindung, die mir noch verbleibt.
Ich möchte den Raum verlassen, aber sie zieht mich sanft zurück und fügt hinzu: „ Du setzt dich bitte wieder auf deinen Platz, Julia“. Ich funkle sie frech an, aber besonders einschüchtern ist das nicht gerade.
„Wenn du mich zwingst, hier zu bleiben, dann lass wenigstens deine Zunge aus dem Mund dieses... Mannes!“, entgegne mich und muss mich bemühen, nichts fieseres zu sagen. Sie lacht auf und grinst mich dann an, als könne sie gar nicht verstehen, warum mich das Verhalten nervt.
„Ich zwinge dich zu gar nichts, Julia. Trotzdem habe ich die Verantwortung für dich. Dir kann man ja nicht vertrauen. Kaum lässt man dich eine Sekunde aus den Augen, schlitzt du dir den halben Arm auf.“, bemerkt sie und trifft mit ihren Worten wieder genau meinen Schwachpunkt. Das habe ich wohl verdient“
„Außerdem hast du mir nicht zu sagen, wann ich meinen Freund zu küssen habe.“; fügt sie genervt hinzu. Ich grinse frech und merke an: „Ach..., dein Freund? Deshalb hast du so schnell Schluss gemacht! Hat er sich wieder richtig bei dir in den Schmutz geworfen oder was?“. Sie schüttelt erschöpft den Kopf und wendet sich von mir ab. Ich setze mich auf den Platz, schweigend und sehe aus dem Fenster, bis wir die Klasse verlassen und uns auf den Weg in die wohlverdiente Abschlussfahrt machen.