"Mir ist langweilig", Celles streckte sich und legte kurzerhand die Füße, die in dreckigen Stiefeln steckten, auf den Tisch.
"Dann mach was dagegen", ein Mädchen, Celles wie aus dem Gesicht geschnitten, grinste zu ihr herüber. Blaue Augen trafen die feurig roten ihrer Schwester. Es war doch immer amüsant. Sie sahen so gleich und doch so unterschiedlich aus. Celles hatte feuerrotes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengerafft hatte. Auf Saphiras Kopf thronte ein eisblauer Dutt.
Sie schob die Füße ihrer Schwester beiseite, damit der getrocknete Schlamm, der an den Schuhsohlen klebte, auf ihre Unterlagen bröckelte.
"Wie kann dir nur langweilig sein? Du darfst Leute rumschicken, übers Feld jagen und dazu zwingen, auch bei Regen den Ball übers Netz zu werfen."
"Nach einer Weile verliert das einfach an Charme", Celles streifte die Stiefel ab und stieß sie über den Tisch auf Saphiras Seite hinüber, die die Schuhe mit dem Ellenbogen weiter Richtung Boden beförderte, während sie mit einer Feder auf einem Pergament zeichnete.
"Was verliert an Charme?", die Tür wurde aufgestoßen und Ladira schob sich ins Zimmer der Mädchen. Sofort fiel ihr die Dreckspur von Celles' Stiefeln, der Stapel Schmutzwäsche und der Berg zerknüllten Pergaments am Boden auf. "Wie alt seid ihr beide eigentlich?", grummelte sie und stellte ein Tablett mit Tee und Kuchen auf einem Bücherstapel ab. "Und euch soll ich das Haus anvertrauen, wenn ich weggehe?"
Saphira blickte auf und strich eine verirrte Strähne hinters Ohr. "Mama, jetzt reg dich nicht auf. Wir machen das schon. Weißt du, wie anstrengend es ist, eine Horde Kinder zu beschäftigen? Tante Pyra und du, ihr seid nicht die Einzigen, die damit zu tun haben. Wir müssen ja auch ein Auge auf Fin werfen. Da bleibt nicht viel Zeit fürs Zimmer aufräumen."
"Wenn ihr schon von ihm sprecht, wo ist er überhaupt? Es war den ganzen Tag so ruhig", Ladira kippte einen Korb mit Spielzeug aufs große Bett und begann die dreckige Wäsche in den Korb zu werfen.
Celles stand auf, bereit ihrer Mutter zu helfen, warf jedoch bei der Frage einen unsicheren Blick auf ihre Schwester. Saphira biss nervös auf die Feder und machte sofort ein angewidertes Gesicht, da die Fasern der Feder an ihrer Zunge kleben blieben.
"Was habt ihr überhaupt noch in eurem Schrank?", es war bereits ein zweiter Korb zum Einsatz gekommen. "Ihr habt heute auf jeden Fall Arbeit in der Waschküche." Sie näherte sich nun dem gemeinsamen Kleiderschrank ihrer Töchter, neugierig, einen Blick hineinzuwerfen.
"NEIN!" Saphira und Celles stürmten heran und schoben sich zwischen Ladira und den Schrank. "Ähm, wir meinen, bitte nicht. Wir müssen den erst aufräumen", stammelte Celles.
"Ja. Genau. Wir müssen ... aufräumen und aussortieren. Du weißt schon, damit die Kinder ein paar neue Sachen zum Anziehen haben", stimmte Saphira eifrig zu.
Ladiras Augenbrauen wanderten verwundert nach oben. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass die beiden nicht die Wahrheit sagten.
Allein die Tatsache, dass im nächsten Moment Pyroferas Stimme von unten heraufdrang und "Neuzugang!" schrie, ließ zu, dass sie ihre Kinder, nach einem warnenden Blick, wieder allein ließ und die Treppe nach unten eilte. Es musste wirklich furchtbar zugehen in dem Land, in dem sie sich einst sogar Zuhause gefühlt hatte.
"Puh", Celles sank an der Schranktür entlang zu Boden, "Das war knapp."
"Viel zu knapp", die Blauhaarige gesellte sich zu ihr.
Aus dem Schrank ertönte ein Klopfen und das Geräusch, das eine Person machte, wenn ein Knebel um den Mund gelegt worden war.
Saphira schlug mit der Faust auf die Tür und abrupt verstummte das Klopfen.
"Wir brauchen einen besseren Platz für ihn." "Maris Zimmer?" "Nein. Mum hat gesagt, sie ist älter als wir." "Sieht nur mehr aus wie ein Kind als wir." Saphira zuckte mit den Schultern.
"Shans Zimmer?", Celles löste das Haarband und ihre rote Mähne fiel über ihre Schultern und den Rücken. "Obwohl ... Lieber nicht. Sie würde ihn sofort freilassen."
"Genau und dann haben wir wieder keine ruhige Minute."
"Was machen wir, wenn Mum weg ist?"
"Pyrofera anlügen."
Ladira lief die hölzerne Treppe nach unten. "Was heißt hier Neuzugang?", rief sie in Richtung der Haustür, zu der sie eilte.
Pyrofera lehnte mit dem Rücken zur Wand, gekleidet in alte Hosen, ein übergroßes Hemd und ein graues T-Shirt. Sie deutete nur hinaus und Ladira blieb wie angewurzelt stehen, als sie die Haustür erreicht hatte.
"Oh nein." Vor der Tür standen rund fünfzehn Kinder verschiedenen Alters, alle in relativ bemitleidenswertem Zustand: Schmutzig und durchnässt von der Überfahrt auf die Insel, sichtlich hungrig und verweint.
Sie wandte sich Pyrofera zu. "Wer hat uns die denn alle beschert?", fragte sie leise.
"Ich hab sie mitgenommen", beantwortete eine Stimme hinter ihr die Frage.
Mari stand vor den Kindern. Sie war sichtlich gewachsen in den vergangenen Tagen und ihr Haar war am Ansatz leuchtend grün geworden. Sie trug ihr übliches braunes Kleid, war barfuß und ihre Augen waren lebendiger denn je.
Was Ladira und Pyrofera jedoch am meisten überraschte, war ihre Stimme. Sie klang nicht mehr wie das kleine Kind, das sie im Wald gefunden hatten, sondern erwachsen.
"Mari, du?", Ladira beugte sich zu ihr hinunter. Noch waren sie nicht auf einer Augenhöhe.
Mari nickte und nahm eines der Kinder bei der Hand, zog es zu Ladira hin. "Das ist Scarlette. Sie hat Fieber. Tom dort hinten hat sich den Arm gebrochen und Jon hat eine Wunde, die behandelt gehört."
"Ahja?", Ladira war noch immer verblüfft und sah nur zu, wie Mari an ihr vorbei ins Haus ging und die Kinder ihr hineinfolgten.
Dieses Mädchen war wirklich außergewöhnlich. Odins letzter Besuch hatte ihnen nur bestätigt, was sie bereits vermutet hatten. Mari war älter. Aber warum sie so jung aussah und woher sie kam, hatte sie noch keinem verraten.
Ladira hatte seit sie den Namen kannte, versucht sich schlau zu machen und eine Nachricht zur Tempelbibliothekarin Tee geschickt. Obwohl die Antwort so ausfiel, wie man es von Tee erwartete, die nämlich keinen Sinn hatte für derartige Anfragen und eigentlich nur die ausgeliehenen Bücher zurückhaben wollte, gab es dennoch einen neuen Hinweis. Laut ihr gibt es in Elensar nämlich nur eine Familie, die den Namen "Mondenschein" trägt: Die Familie des Ratsherrn Taurnil Mondenschein von Elensar. Dieser hatte auch eine Tochter, nur wohnte die mit ihrer Mutter auf seinem Anwesen.
Der Nachmittag verlief wie einer der zahlreichen bereits vergangenen Tage: Die angekommenen Kinder wurden begrüßt, auf Verletzungen untersucht, behandelt, dann in Gruppen von Celles und Saphira ins Badehaus gescheucht, wo sie sich waschen konnten und frische Kleidung bekamen.
Pyrofera hatte sich in die Küche begeben und gleich mehrere Töpfe vorbereitet, um Eintopf für alle hungrigen Mäuler zu kochen, während Ladira in der Waschküche begann Gewänder zu waschen.
Auch Mari half tüchtig mit. Sie lenkte die Kinder ab, die nach ihren Eltern riefen und zeigte denen, die in besserem Zustand waren, wie sie die anderen unterstützen konnten.
Später wurde ein großes Matratzenlager im Wohnzimmer eingerichtet. Shanora brach beinahe unter einem Berg Decken, den sie nach unten schleppte, zusammen. Sogar Vanessa beteiligte sich und warf Kissen übers Treppengeländer. Sie scheute sich aber, nach unten zu kommen. Im Gegensatz zu Mari und Shanora wich sie Celles und Saphira aus, seitdem sie deren Tagebuch gelesen hatte und erwischt wurde. Sie verbrachte die meiste Zeit in ihrem Zimmer direkt unter dem Dach, das sie mit Mari teilte und kam nur zum Essen und Waschen nach unten. Nur von Fin fehlte an diesem Tag jede Spur.
Erst spät in der Nacht kehrte eine allgemeine Ruhe ein. Erst nachdem alle Tränen getrocknet, gefühlte hundert Geschichten vorgelesen, Spiele gespielt und Lieder gesungen wurden, schlief auch das letzte Kind ein.
Pyrofera schlich als letzte zusammen mit Ladira die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Zu ihrer Überraschung warteten die Mädchen noch oben und folgten Ladira in ihr Zimmer. Es war mit Teppichen ausgelegt und zusammen mit dem Bett machte es einen gemütlichen Eindruck. Ladira ließ sich mit Celles und Saphira auf das Bett sinken – alle drei die Arme umeinandergeschlungen. Mari, Shanora und Vanessa gesellten sich zu Pyrofera auf den weichen Boden.
"Das war wieder mal was", flüsterte Pyrofera und erntete vereintes, erschöpftes Nicken.
Eine längere Stille erfüllte den Raum. Ladira unterbrach diese, in dem sie sich räusperte und dann meinte: "Ich bin stolz auf euch. Auf jeden Einzelnen von euch. Auf dich, Celles, für deine Wasserzauber mit denen du die Kinder zum Lachen bringst und ihre Verletzungen kühlen kannst. Auf dich, Saphi, weil du trotz des gleichen hitz- und dickköpfigen Temperamentes, das du mit deiner Schwester teilst, so liebevoll mit den Jüngsten umgehen kannst. Auch auf dich, Vanessa, weil du deine Scheu überwunden und eifrig mitgeholfen hast und auf dich, Mari, dass du sie gefunden hast und erkannt hast, dass sie unsere Hilfe brauchen." Sie lächelte die Mädchen eines nach der anderen an. "Und du Shani, du erzählst ihnen wunderbare Geschichten, obwohl viele nicht älter sind als du selbst."
"Wir haben eine Neuigkeit für euch drei", Pyrofera strich über Vanessas kurzes, violettes Haar. "Nachdem wir euch so gernhaben und Fin und Shan sowieso schon lange hier bei uns sind, haben wir beschlossen, dass wir euch adoptieren, damit ihr dauerhaft bei uns leben könnt. Wir haben gesehen, dass ihr euch hier wohlfühlt und ihr beide, Mari, Vanessa, ihr habt starke Kräfte, die ihr beherrschen lernen müsst und keiner der alten Meister hat Zeit dafür, seit sich die Zustände verschlimmern und der dunkle König immer mehr Land an sich reißt."
"Ja. Ich würde mich freuen, wenn ihr auch in Zukunft in euren Zimmern in diesem Haus wohnen wollt. Wir haben euch so lange hierbehalten, weil wir keine Familie fanden, die für euch beide geeignet wäre und ...", Ladira lächelte leicht.
"Und wir sind eine Familie, nicht wahr? Wir alle hier, wir sind Schwestern. Das wolltest du doch sagen, oder Mama?", Saphira beendete den Satz, grinste breit und ließ sich nach hinten aufs Bett fallen.
"Genau das. Ihr vier, du, Celles, Mari und Vanessa, ergänzt euch ja auch sehr gut. Ihr habt jeweils eine Affinität für ein Element", Pyrofera nickte bekräftigend.
"Was habe ich?", Shanoras türkise Augen blickten neugierig in die Runde. "Ich kann nicht mit Wasser, Feuer oder Wind spielen. Mit Blumen reden kann ich auch nicht. Also was habe ich? Und was kann mein Bruder?"
Pyrofera fuhr sich verlegen durch die Haare. Ladira atmete tief durch und wechselte rasch das Thema: "Apropos dein Bruder - wo steckt Fin eigentlich? Celles? Saphira?"
Ihr war nicht entgangen, dass ihre Töchter das Gesicht leicht verzogen hatten bei der Frage.
"Öh ... Das ist kompliziert ..."
"Im Schrank?! Ihr habt ihn in den Schrank gesperrt?", Ladira konnte es kaum glauben. Sie stand mit Celles und Saphira in deren Zimmer, genauer - vor dem doppeltürigen Kasten.
Celles kratzte sich verlegen am Ohr und blickte zu Boden. Saphira scharrte mit dem Fuß und druckste ein wenig herum.
"Na, er war halt so lästig, weißt du? Auf ihn aufpassen ist nicht so lustig. Shan ist viel ruhiger", erklärten sie ihrer Mutter, die mit den Augen rollte und ihnen das Wort mit einer Handbewegung abschnitt: "Eine Woche Waschküche für euch beide. Fin ist genauso alt wie ihr. Ja, er ist ein Chaot und kann einem den letzten Nerv töten, aber in den Schrank einsperren hättet ihr ihn dennoch nicht müssen." Sie öffnete die Schranktüren.
Fins rote Augen blinzelten ins ungewohnte Licht. Sie hatten ihn tatsächlich mit Schals und Schnüren gefesselt und mit zwei Halstüchern geknebelt.
"Ich will gar nicht erst wissen, was er angestellt hat, um das zu verdienen", murmelte sie, als sie begann, ihn los zu binden. Der Junge streckte erleichtert die Glieder und gähnte müde. Als er Saphira und Celles sah, wirkte es für einen Moment so, als wolle er die Schranktüren wieder zuziehen. "Bleibt weg! Haut ab! Ich hab genug Strafe abgesessen oder?", seine Stimme klang rau, da er den ganzen Tag nichts gesagt hatte.
"Wenn du mich fragst, könntest du noch ein paar Tage mehr drinbleiben. Es hat zwei Stunden gedauert bis das Zeug wieder aus meinen Haaren raus war!", knurrte Saphira und öffnete ihre Haare, die wesentlich kürzer waren als ein paar Tage zuvor. "Ich hab einen Großteil abschneiden müssen, nur wegen deiner blöden Experimente."
Ladira begutachtete die fransigen Enden von Saphiras Haaren und seufzte tief. "Wie kann ich euch jemals allein lassen? Ihr fackelt noch das Haus ab", brummte sie missmutig. "Fin - eine Woche Gartenarbeit. OHNE Experimente."
"Wieso? Ich war jetzt die ganze Zeit im Schrank eingesperrt. Warum werde ich auch bestraft?" "Weil ich will, dass ihr darüber nachdenkt, was ihr falsch gemacht habt und euch ab jetzt mit Respekt behandelt. Pyrofera und ich werden bald weg sein und dann müsst ihr euch um das Haus und die Kinder sorgen und dafür müsst ihr lernen, zusammen statt gegeneinander zu arbeiten."
"Pyrofera geht auch?", Celles setzte sich auf ihre Bettkante. Ihre Mutter drehte sich zu ihr um. "Ja. Pyrofera wird auf dem Festland für eine Ratssitzung gebraucht, die ein paar Tage oder auch ein paar Wochen dauern kann."
"Toll. Dann haben wir das ganze Haus!", Saphira strahlte. "Natürlich kümmern wir uns um alles. Fin kann sich ja nützlich machen und die alte Brücke reparieren."
"Klar kann er das", knurrte Fin und streifte die letzten Fesseln ab, "aber vorher geh ich rüber in mein Zimmer und hau mich aufs Ohr." Mit den Worten kletterte er aus dem Kasten und verließ, die Fäuste in die Hosentaschen gebohrt, den Raum.
"Ich hoffe wirklich, ich kann mich auf euch verlassen. Ich weiß nämlich nicht, wie lang ich weg sein werde", Ladira drückte ihre beiden Mädchen nochmal an sich, bevor sie auch ging, um selbst schlafen zu gehen.
Als die Schritte im Gang verklungen waren, drehte sich Celles zu Saphira.
"Wie wäre es mit dem alten Weinkeller für Fin?" "Lieber der Gartenschuppen."
Eintrag 130:
Es ist seltsam, aber ich bin der festen Überzeugung, dass meine Töchter allein klarkommen werden. Mari wirkt plötzlich viel reifer und auch Vanessa traut sich aus ihrem Mauseloch heraus. Allein der Umgang mit Fin bereitet mir Kopfzerbrechen. Er ist der Hahn im Hühnerstall und die Hennen halten geschlossen zusammen.
Pyrofera reist morgen Abend ab, zusammen mit den heute angekommenen Kindern. Danach wird hoffentlich eine Weile Ruhe sein, sodass ich mit gutem Gewissen gehen kann. Von der Ratssitzung verspreche ich mir zwar nicht viel, doch bin ich froh, dass ich nicht dabei sein muss. Nichts ist langweiliger. Sie haben sowieso keine Ahnung, was hier vorgeht oder auf der anderen Seite. All die Jahre des Friedens haben ihre Gedanken vernebelt und sie wollen es noch nicht wirklich wahrhaben.
Ich wünschte, meine Mädchen hätten den Frieden länger gekannt ...
Meine Tasche ist längst gepackt und ich glaube, jetzt ist die Zeit wirklich gekommen. Ich habe diese Reise schon zu lange aufgeschoben.