Bis spät in der Nacht war in dem kleinen Bastelzimmer im Dachgeschoss noch Licht. Wie so oft, wenn sie mal einige Tage frei hatte, hatte Emily beschlossen sich ganz ihrem Hobby zu widmen. Um sie herum herrscht ein Chaos aus Schnittmustern, Stoffstücken und anderen Materialien, die sie für ihre absolute Leidenschaft brauchte. Ein leises Piepsen meldete sich aus der Voliere in der Ecke. Ihre beiden Vögel waren die beiden lebendigsten Bewohner dieses Zimmers. Ihr neuestes Projekt nahm langsam Gestalt an und sie war sehr stolz darauf. Mit einem Lächeln betrachtete sie das Regal im hinteren Bereich. Etwas durcheinander standen dort ein Teil ihrer Werke, andere saßen im Wohnzimmer zusammen. Eigentlich konnte man beinahe überall in der Wohnung über die selbst genähten Stofftiere und handgefertigten Miniaturen stolpern.
"Ich muss mir noch überlegen, was ich Melissa schenke." Nachdenklich ließ sie den Blick schweifen. Es gab genug Auswahl und es war nicht das erste Mal, dass sie einige ihrer Werke verschenkte. Seufzend streckte sich Emily, es war spät und es wurde Zeit fürs Bett. "Ich entscheide das morgen und packe dann das Paket, hab ja noch etwas Zeit. Sie wünschte ihren Vögeln eine gute Nacht, löschte das Licht und verließ den Raum.
Es dauerte noch einige Sekunden bis alle sicher waren, dass Emily wirklich die Treppe herunter gegangen war, dann kam Bewegung in den Raum. "Sie will einen von uns wegschicken! Habt ihr dass auch gehört? Ist es nicht schlimm genug gewesen, dass sie mich durch die Gegend geschleppt hat, nur damit ich von Tausenden von Leuten angegafft werde wie ein Affe im Zoo? Jetzt will sie mich auch noch verschicken?" Isabelle schüttelte sich so stark, dass die Glöckchen um ihren Hals leise klingelten. Die junge Ziege mit dem schwarz-weißen Fell und den großen Kulleraugen warf sich theatralisch in Pose.
"Niemand hat gesagt, dass gerade DU verschickt wirst oder?" zwitscherte eines der beiden Osterküken. "Genau," gab das zweite Küken seinen Senf dazu, "außerdem warst du auf einer kleinen Messe im Nirgendwo und hast nicht mal einen Preis gewonnen. Hör endlich auf so zu tun als wärst du etwas Besseres als wir!" Isabelle antwortete mit einem Meckern und stolzierte davon. Sie war der Star im Regal, mehrfach bei Wettbewerben vorgestellt und veröffentlicht, war sie das Meisterwerk von Emily. Jedenfalls nach ihrem Empfinden.
"Erinnert ihr euch noch, was passiert ist, als sie gemacht wurde? Am Tag vor der Einsendung der Fotos ist ihr der Kopf fast abgefallen." Dusty, ein hübscher aber etwas farbloser Graufuchs lachte und klopfte sich auf den weißen flauschigen Bauch. Aus dem Regal kam von allen Seiten Gekicher. Die kleine Ziege war öfter mal Ziel ihres Spots. "Aber sie hat Recht, irgendeiner von uns wird weggeschickt. Wenn ich das richtig verstanden habe zu Melissa", ließ Dusty die anderen wissen. "Wer war das nochmal?" piepste der kleine Igel vom oberen Regalbrett herunter. "Ihre beste Freundin, die wohnt weit weg und hat glaube ich sogar eine Katze. Die war doch schon öfter hier." Dusty begann sie ausführlich zu beschreiben und langsam sickerten Erinnerungen an die Frau durch. "Was habt ihr gegen Katzen?" Eine Riege von Katzen in jeder Größe und Farbe stellte sich wie eine Gang vor dem Regal auf. Ihre Augen blitzten gefährlich.
Die Diskussionen gingen solange weiter, bis die beiden Vögel im Raum sich lautstark zu beschweren begannen. Nur einer hielt sich aus der Diskussion heraus: Hazel, ein kleines braunweißes Häschen, blieb ruhig in seiner Ecke. Er konnte sich noch genau an Melissa erinnern. Schon kurz nachdem er fertig gewesen war, hatte sie ihn bewundert. Hazel war im Gegensatz zu Isabelle eher bescheiden und das obwohl er ebenfalls schon in Magazinen zu sehen gewesen war und an einem Wettbewerb teilgenommen hatte. Außerdem hatte er die Ostergrüße seiner Schöpferin geziert. Immer wieder hatte Emilys beste Freundin ihn in die Hand genommen und die Ohren bewegt oder die Beine. Dank seiner Schöpferin war er sehr gelenkig. Ganz im Gegenteil zu manchen von den kleinen Miniaturen. "Sie wird bestimmt mich auswählen," murmelte Hazel ohne genau zu wissen, ob ihm überhaupt jemand zuhörte. Er konnte sich noch daran erinnern, dass bereits einmal ein Tierchen zu ihr geschickt wurde. Eine der kleinen Katzen hatte ihnen manchmal noch geschrieben. Aber noch war ja nichts entschieden.
Emily hatte tatsächlich länger darüber nachgedacht und war von Regal zu Regal gewandert. Manche ihrer Kreationen hatte sie speziell für einige Leute gemacht. Nach Foto oder Beschreibung waren Katzen, Hunde und Giraffen entstanden. Einige hatte sie sogar schon verkaufen können. Manchmal kamen sie ihr vor, als wären sie lebendig. Liebevoll streichelte sie über das Fell von Ebony. Ihr braunes Einhorn war eines ihrer neueren Stücke. Für die wilde Mähne mit den Locken würden einige Frauen ihr letztes Hemd geben. Jedes Tier war ein Unikat und sie hatte sich entschlossen. Es würde tatsächlich Hazel werden.
Die Nachricht verbreitete sich in der kommenden Nacht wie ein Lauffeuer unter den Tieren. Überall wurde durcheinander geredet und das arme Häschen wurde furchtbar bedrängt. Alle schienen Mitleid mit ihm zu haben. Genervt von den anderen, zog er sich zurück um nachzudenken. Einige Zeit hatte er auch seine Ruhe, bis Takeo zu ihm kam. Verwundert zuckte er mit dem Näschen. Es war selten, dass der weiße Löwe mit dem goldenen Horn zu ihnen kam, war er doch so etwas wie ihr Herrscher. "Machst du dir Sorgen Kleiner?" brummte der Löwe sanft. Hazel schüttelte den Kopf. "Ich bin aufgeregt, aber ich habe keine Angst. Natürlich werde ich alle vermissen, aber ich bin Melissa ja schon begegnet. Sie hatte leuchtende Augen, wenn sie mich ansah." Takeo setzte sich neben ihn und nickte. "Unsere Schöpferin ist etwas Besonderes und wird dich nicht ohne Grund ausgewählt haben. Außerdem kann sie dich da immer besuchen." Ein Lächeln zog sich über das Gesicht des kleinen Häschens. "Ja manchmal ist ein Umzug vielleicht gar nicht so schlecht. Ich danke euch."
Bald kam der Tag des Abschieds. Da er nicht einfach Dinge mitnehmen konnte, denn in dem Päckchen war kein Platz für viel Gepäck, nahm er vor allem viele Wünsche und Grüße mit. Er wurde noch einmal geknuddelt und sogar Isabelle verabschiedete sich herzlich von ihm. Emily gab sich große Mühe es ihm so bequem wie möglich zu machen und zusammen mit einem liebevollen Brief ging es auf die Reise in die Großstadt.
Der große Tag war da. Er war bereits einen Tag früher eingetroffen und konnte es gar nicht erwarten. Hazel konnte die aufgeregte Stimme von draußen gedämpft hören, wusste aber auch, dass er sich noch bis Mitternacht gedulden musste. Die letzten Stunden verbrachte er im Halbschlaf, bevor er hörte, wie der Karton geöffnet wurde. Das helle Licht stach ihn zuerst in die Augen, doch dann fand er sich Angesicht zu Angesicht mit Melissa wieder. Die Frau sah auf ihn hinab, nahm ihn sanft und vorsichtig heraus und drückte ihn fest an ihre Brust. Hazel konnte hören und fühlen, dass sie vor Rührung weinte. Das war der Moment, in dem er Stolz und Freude darüber empfand, als ein so besonderes Geschenk ausgewählt worden zu sein. Er war in seinem neuen Zuhause.
Es vergingen einige Wochen, bis er sich richtig eingefunden hatte. Doch bald lernte er auch Samira kennen, die kleine Miniaturkatze, die neben ihm auf dem Regal saß. Sie verstanden sich gut und hatten begonnen, sich gegen die echte Katze zu verbünden. Manchmal war es merkwürdig, da es die echte Samira war und somit das Ebenbild der Kleinen, doch es machte ihnen Spaß. Den Blick über das Wohnzimmer genoss er sehr und ab und an wurde er sogar herzlich geknuddelt. Hazel war glücklich und tatsächlich kam seine Schöpferin zu Besuch, wie Takeo es prophezeit hatte. Was konnte man mehr von seinem neuen Zuhause erwarten?