Markus half noch das Mittagessen zu verteilen, bevor er zurück zum Personaltrakt in das Nachbargebäude ging. Janas Augen waren halb geöffnet. Sie atmete flach, auf ihrer Stirn glitzerten Schweißtropfen. Die Infusion vom Morgen war bis auf wenige Milliliter durchgelaufen.
»Hast du mir die Infusion gelegt, Markus?«, krächzte sie mühsam.
Er nickte. »Das ist schon die vierte NaCl und gleich bekommst du das dritte Mal Antibiotika. Hast uns einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Zum Glück bin ich gegen Grippe geimpft.«
»Ich bin auch geimpft. Das ist nicht die neue Grippe. Trotzdem fühle ich mich total beschissen. Hilfst du mir in die Dusche? Ich muss auch auf Toilette.«
Markus schraubte einen Verschluss auf die Braunüle und stützte Jana auf dem Weg in ihr kleines Bad.
»Soll ich helfen?«, fragte er besorgt.
»Es geht schon, du kannst mich allein lassen. Ich bin nur schlapp und stehen fällt mir schwer, aber jetzt komme ich allein zurecht.« Jana wartete, bis er die Tür von außen schloß, und setzte sich dann auf Toilette. Ihre Beine zitterten, aber sie konnte sich halten. Ihre Gedanken kreisten nur um eins: Sie musste zu Kräften kommen, so schnell wie möglich. Während sie im Bad war, drehte Markus die Matratze um, holte frische Bettwäsche und tauschte Kissen und Decke aus.
Jana saß inzwischen auf dem Hocker in der Dusche und ließ warmes Wasser über ihren Körper laufen. »Hier kann ich wenigstens atmen«, stöhnte sie, als er ihr später heraushalf. Dankbar nahm sie den Jogginganzug und zog ihn über. »Ich bleibe noch eine Weile am Fenster sitzen, du kannst mir die Infusion hier geben«, sie deutete auf die kleine Flasche mit dem Antibiotika.
Markus nickte. »Ich komme in einer Stunde wieder, bis dahin ist sie durch. Wenn du vorher ins Bett willst, warte besser, bis ich wieder da bin.«
Jana nickte, schloss die Augen und lehnte sich im Sessel zurück, während Markus eine Wolldecke um sie legte. Er war schon immer sehr fürsorglich gewesen, wenn sie krank war. Sie überlegte, ob es noch eine Chance für sie beide gab. Doch außer Dankbarkeit empfand sie nichts für ihn. Er war der perfekte Mann, nur leider nicht monogam veranlagt.
Im Büro versuchte Markus die Heimleitung zu erreichen. Als er die Stellvertreterin endlich erwischte, nannte sie ihm die Zahlenkombination für ihren Safe im Dienstzimmer und erteilte den Auftrag, die Angehörigen der verstorbenen und der infizierten Bewohner zu informieren. Sie selbst könne nicht kommen, da sie selbst erkrankt sei, wolle sich aber dafür einsetzen, dass die Verstorbenen und Infizierten baldmöglichst abgeholt würden.
Er ging zurück zu Jana, half ihr ins Bett und hängte eine neue Infusion an. Vorsichtshalber schloss er das Zimmer auf ihren Wunsch hin ab, als er zurück zum Heim ging.
Herr Baier war zum Spätdienst erschienen. Die junge Frau vom Frühdienst, die auch erst vor kurzem angefangen hatte, verabschiedete sich. Sylvia übernahm mit einer Aushilfe, die sich noch nicht im Haus auskannte.
Gemeinsam mit Herrn Baier ging Markus nach oben, bettete die Verstorbenen auf Rollliegen im Verbandsraum. Es gelang ihnen zwei Angehörige zu erreichen. Kommen wollte keiner von ihnen. Die von der Leitung beauftragte Pietät, mit der das Heim seit Jahren zusammenarbeitete, versprach, die Leichen am nächsten Tag abzuholen.
Der Mann im Rollstuhl saß immer noch genauso da, wie sie ihn am Morgen platziert hatten. Er zappelte aufgeregt, als er die beiden Pfleger wahrnahm. Herr Baier bereitete das Bett vor, Markus steckte dem Infizierten einen Keil in den Mund, wusch und kleidete ihn an, bevor er ihn mit Hilfe von Herrn Baier in das Bett legte, an dessen Seite schon Fixiergurte angebracht waren. Der Mann versuchte vergeblich, sich zu befreien. Als Markus den Keil aus seinem Mund zog, schnappte er nach dem Pfleger. Seine Mundhöhle war rot und rissig. Markus versuchte sie mit einem Mundstäbchen anzufeuchten, unterließ es aber, da der Alte sich mit seinem zahnlosen Kiefer festbeißen wollte. Das Gebiss legten sie in eine Schale an das Fußende des Bettes, bevor sie ihn in den vom Hausmeister leergeräumten Frühstücksraum schoben.
»Jetzt müssen wir die anderem aus dem Bad holen. Am besten einen nach dem anderen«, seufzte Baier.
Sie stellten das erste Bett neben die Badtür. Die Lederfixiergurte waren angebracht. Den Keil hielt Markus in der Hand, der dazu gerufene Hausmeister hatte einen Beißschutz vom Hundetraining über seine Unterarme gezogen. Vorsichtig öffneten sie die Tür, bereit, sie gleich wieder zuzuschlagen. Acht bleiche Gesichter wandten sich ihnen zu. Der Hausmeister ging beherzt ein paar Schritte in den Raum und zog einen der Alten hinaus. Der versuchte gerade eine ungeschützte Stelle zu finden, als Markus ihm den Keil zielsicher in den Mund schob, während Baier die Tür schloss. Keine Sekunde zu spät. Von innen kratzte und schabte es am Holz. Der Mann, den sie erwischt hatten, röchelte. Gemeinsam legten sie ihn aufs Bett und fixierten den Zappelnden.
»Wir müssen ihn waschen und verbinden«, überlegte Markus, als Herr Baier schon mit dem Verbandswagen kam. Geschickt schnitt er die Kleidung auf und säuberte den Stöhnenden, bevor er dessen verletzte Hände und die Wunde an seinem Bein verband. Der Mann, der mit allen vier Gliedmaßen ans Bett fixiert war, warf den Kopf hilflos von einer in die andere Richtung. Sie schoben das Bett in den Aufenthaltsraum, neben das, in dem schon der aus dem Rollstuhl lag.
»Nummer Zwei ist fertig. Nun das gleiche Spiel mit den restlichen Sieben«, stöhnte Markus.
»Ich brauch eine Pause. Das war anstrengend und wir hatten Glück, dass er uns nicht erwischt hat. Mal ehrlich, warum das ganze Theater, lassen wir sie im Bad, da können sie nicht raus und die Polizei soll sich drum kümmern. Ich bin hier als Hausmeister angestellt, nicht als Wärter!« Der Hausmeister nahm eine Zigarette aus seiner Jacke und steckte sie sich an. Markus überlegte, ihn darauf hinzuweisen, dass Rauchen hier überall verboten war.
»Wir nehmen uns noch vier vor, dann machen wir Pause«, bestimmte Herr Baier. Sein Tonfall duldete keinen Widerspruch. Markus fiel die gelbe Farbe der Sklera seiner Augen auf. Er erinnerte sich, dass Jana ihm erzählt hatte, dass der Kollege vor ein paar Tagen, von einem, vermutlich infiziertem, Kind gebissen wurde.
Den Nächsten holte Baier aus dem Bad. Er riss die Tür auf, zog einen der vorne stehenden Alten heraus und schubste die Anderen zurück. Die hilflosen Versuche des Greises, ihn zu beißen, ignorierte er. Mit wenigen Griffen hatte er ihn ausgezogen, oberflächlich gesäubert, auf dem Bett fixiert und verbunden.
»Wir wären schneller, wenn wir die Dusche im Bad nutzen können«, wandte er sich dann an Markus. Der Hausmeister schüttelte den Kopf. »Die da drin sind wie Tiere, das ist ein viel zu großes Risiko!«
»Ich dränge sie mit einem Gitterbett in die Ecke, Sie müssen gar nichts machen. Ich hole sie dann einzeln raus, dusche sie ab und ziehe ihnen ein Flügelhemd an. Verbunden werden sie erst, wenn sie fixiert auf dem Bett liegen.«
Markus schluckte. So hatte er sich den Job im Heim nicht vorgestellt. Der Hausmeister bereitete die Betten mit den Fixiergurten vor. Herr Baier stieß die Tür auf und schob das Gitterbett in den Raum. Markus half ihm, indem er mithilfe eines Stuhles die nach ihm greifenden Alten zurückdrängte. Einer hatte sich an der Seite vorbeigedrängt. Herr Baier schnappte ihn, bevor er Markus am Arm erwischte, und schob einen Keil in den geöffneten Mund. Unter der Dusche schnitt er die blutverkrustete Kleidung auf. Nackt wirkte der Betagte noch widerwärtiger. Die Haut war marmoriert, an der Seite fehlte Fleisch, man sah auf faserige Muskelstränge, doch es blutete nicht. Nicht mehr, denn das getrocknete Blut war mit der Unterwäsche, die er noch anhatte, verklebt. Hinter dem Gitterbett rüttelten die anderen an dessen Stäben. Ihr Stöhnen ging Markus durch Mark und Bein. Herrn Baier schien es nicht zu stören. Er hatte den Alten unter die Brause gezerrt und spritzte ihn mit hartem Strahl ab. Durch das warme Wasser löste sich die Unterwäsche von der Haut. Das Vorgehen war brutal. Markus, der einiges gewohnt war, schluckte. Er rubbelte den Alten trocken, der sich im festen Griff des Pflegers wand. Über die wirklich schlimm aussehenden Wunden klebte er Verbandsmull. Desinfektion war, laut Baier, nicht erforderlich. Die Leute sollten nur eins, oberflächlich ordentlich aussehen. Erst als der Mann im Bett festgegurtet war, entfernte Baier den Keil. Prompt versuchte der Alte, nach dem Pfleger zu schnappen.
Das Ganze hatte keine zwanzig Minuten gedauert. Der Hausmeister schob das Bett zu den anderen, während Baier den nächsten hinter dem Gitterbett hervor zerrte. Diesmal eine Frau. Er verfuhr mit ihr genauso brutal. Er ging mit einer kaltblütigen Effizienz vor, die Markus Bewunderung abnötigte. Bald stand der Aufenthaltsraum voller Betten, in denen sich die Infizierten hilflos wanden. Sie hatten keine Chancen. Mühsam hoben sie die Köpfe und versuchten, nach allem zu schnappen, was in ihre Nähe kam.
»Ich werde die Männer noch rasieren und den Frauen die Haare kämmen.« Baier schaute auf seine Uhr. »Markus, sie können inzwischen in die Zimmer gehen und Koffer mit den persönlichen Sachen packen. Außen kleben sie einfach die Zimmernummer dran, dann weiß ich, was zu wem gehört. »Ich werde jedem ein Namensschild ans Handgelenk binden und ein Schild ans Fußende des Bettes«, überlegte er.
Markus nickte. Er schaute auf die Namenschilder am Bett und ging dann in die einzelnen Zimmer um Koffer zu packen. Nicht alles, denn offiziell waren sie noch Bewohner des Domizils.