Ich war überrascht. Einmal über die Tatsache, das Tom mir den Brief geschrieben hatte und noch mehr über die Art, wie er ihn geschrieben hatte. Ich las ihn noch einmal, bevor ich in den Salon zu Selina und Fanni ging.
"Du hast Tommys Brief gefunden!" Selina sah mich fragend an. Ich nickte. "Nun sag schon!" Ich hob die Schultern. "Weißt du Sel, meine Gefühlswelt ist heute irgendwie auf eine Achterbahn geraten! Der Junge ist viel reifer, als es den Anschein hatte und es scheint ihm auch so zu gehn. Wie lange muss er denn noch im Krankenhaus bleiben." - "Wenn du das willst, können wir ihn heute schon holen. Ich meine hierher, seine Oma ist ja auch da." - "Du musst ihn holen, Selina. Ich werde in meinem Arbeitszimmer sein, damit er alleine auf mich treffen kann, wenn er das will, aber ich denke, es ist Zeit! Hast du ihm wirklich eine gescheuert?, Sel?" Selina errötete, was eher selten war. "Zwei! Hat er das auch geschrieben?" - "Ja, er hat sich aber nicht darüber beschwert! Es klingt, als hätte er das gebraucht. Zumindest formuliert er es so. Er erwähnt in einem Post Skriptum sogar, ich könne stolz auf dich sein! Sag, die Redewendung, die du meintest...?" - "Als er mich fragte, wie er sich bloß dafür entschuldigen könne, sagte er im Anschluss: "Ich will nicht Alles auf Mama schieben, das wäre mir zu billig!" Ich musste sofort an dich denken. Er hat einen ganz ähnlichen Gerechtigkeitssinn wie du. Er steht zu seiner eigenen Schuld und schützt seine Mutter! Ich finde das schön!" - "Ich möchte, dass du ihn holst, Liebling, es ist Zeit für eine Konfrontation. Hast du den Brief hingelegt?" - "Er hat ihn mir gestern Abend mitgegeben, zusammen mit dem kleinen Porsche. Den hat er sich von Oma bringen lassen. Er hat ihr das schon beim ersten Telefonat aufgetragen, ihn mit zu nehmen, wenn sie zu Hause ihre Sachen holen würde. Gestern bat er mich dann, Dir den Brief hinzulegen und das Auto als Briefbeschwerer darauf zu stellen. Du wüsstest dann schon, was dich erwartet..." - "Er hat eine sehr charmante Art, findest du nicht?" - "Jahh, er hat ein sehr gewinnendes Wesen und er ist ein hübsches Kerlchen, Ich hole ihn lieber aus der Klinik, bevor er die Herzen der Lernschwestern bricht...!"
Der Security kam mit den Medikamenten für Maria. Selina setzte Maria sofort eine Infusion. Der junge Mann war erst zwei Wochen bei uns und hatte in der letzten Woche gleich richtig Action erlebt. "Kommen sie! Setzen sie sich und trinken sie einen Kaffee mit mir!" - "Sehr gerne, Herr Montar!" - "Und? Kann man schon was sagen? Gefällt es ihnen bei uns?" - "Oh Ja, Herr Montar. Herr Schmeisser ist ein guter Lehrer! Unter ihm zu arbeiten zu dürfen, das Glück hat nicht jeder. Und langweilig ist es auch nicht bei ihnen!" - "So extrem wie diese Woche ist es sonst aber nicht, Gerhard. Ich freue mich, wenn ihnen ihre Arbeit hier gefällt. Für uns ist es sehr wichtig, dass unser Personal gerne für uns arbeitet. Deshalb geht es bei uns etwas familiärer zu, als in anderen Firmen. Wer gern in die Arbeit geht, macht seine Sache gut und man kann sich auf ihn verlassen." - "Das können sie, Herr Montar."
Für ihn war es ein Erlebnis gewesen, mit dem Stiftungsleiter persönlich einen Kaffee zu trinken. Es machte seinen Sonntagsdienst zu etwas Besonderem. Mir gefiel seine ehrliche Art. Max hatte ein gutes Händchen, was die Rekrutierung unserer Sicherheitsleute betraf.
Selina kam zurück. "Jetzt hätte ich die Medikamente selbst holen können, vorher wollte ich mit Fanni Tom nur besuchen, jetzt bleib ich ja nicht lange fort." - "Fährst du jetzt schon?" - "Worauf möchtest du warten, Michael? Du bist ganz schön nervös, was?" - "Ich weiß Einen, dem es auch gleich so geht!" - "Da hast du allerdings Recht! Er weiß noch nichts davon, Dass er dir noch heute Vormittag gegenüber steht..."