Die Nacht brach herein und der Himmel färbte sich dunkel. Ein Meer von Sternen zog auf und vertrieb die letzten rosigen Strahlen der Sonne.
Ladira blickte von ihrem Fenster aus hinaus. Es war soweit. All ihre Sachen waren gepackt und sie trug bereits ihr Reisegewand. Ein schwarzes langärmeliges Kleid, in der Mitte von einem ledernen Gürtel zusammengehalten und einen braunen, wetterfesten Umhang.
Es klopfte an der Tür und kurz danach schoben sich zwei Köpfe in den Raum. Der eine mit rotem Haar, der andere blau.
"Mama?", erklang Saphiras fragende Stimme.
Ladira erhob sich vom Fensterbrett, griff mit der einen Hand den schweren Rucksack und ging zur Tür. "Es ist soweit, meine Lieben.", flüsterte sie, als sie schon fast im Gang stand und ihre Mädchen betrachtete. Ein Gefühl von Traurigkeit überkam sie. Wie sollte sie nur ohne ihre Kinder auskommen, an deren Gesellschaft sie nun so lange gewohnt war? Ebenso wie an die vertrauten Gerüche des Hauses und des Waldes, der es umgab.
Ihre Finger zitterten und wurden zu schwach, den Rucksack zu halten. Er glitt zu Boden und sie zog ihre beiden Töchter zu sich, umarmte sie ein letztes Mal. Ihr Herz klopfte hart gegen ihre Brust. Sie war aufgeregt vor der Reise, neugierig, aber eben auch traurig und schon jetzt machte sich eine Sehnsucht breit, die sie erst viel später erwartet hätte.
Sie spürte Saphiras Hand auf ihrem Rücken. Roch den Duft feuchter Erde an Celles und drückte beide eng an sich.
Sie standen nur da, umgeben von einer warmen Stille, denn sie brauchten sich nichts zu sagen. Alle Dinge waren schon gesagt worden und Worte des Abschieds wollte keine der drei aussprechen, denn zu weh tat die Ahnung, dass sich die Umarmung bald lösen würde.
Ladira wusste nicht, wie lang sie so verharrten. Vor ihren Augen waren ihre Mädchen wieder Kinder und sie hielt sie so, wie an dem Tag, an dem sie zum ersten Mal den Wald betraten und dieser ihre neue Heimat wurde. Ihr Zuhause.
"Celles, Saphira...", ihre Stimme war kaum mehr ein Hauch und sie spürte brennend heiße Tränen in ihren Augen aufsteigen. Sie löste die Umarmung, blickte jede liebevoll an und strich ihnen über die Wange. "Ich komme bald wieder.", sie wischte Celles eine Träne von der Wange und küsste Saphira auf die Stirn.
"Pass gut...", begann Saphira und kämpfte gegen die Tränen. Sie wollte doch stark sein wie die Flamme, die in ihr brannte.
"... auf dich auf!", beendete Celles den Satz und schluckte einen Kloß hinunter. Noch nie waren sie länger als ein paar Tage getrennt gewesen. Ihre Mutter war immer da gewesen. Hatte sich um alles gekümmert, sie großgezogen und ihre Ausbildung begonnen.
Stunden später saßen die Schwestern auf dem mütterlichen Bett und blickten zur Decke hinauf. Im Haus war es still. Die anderen schliefen und es waren keine Kinder mehr da, um die sie sich hätten kümmern müssen.
Ihre Mutter war vermutlich nun am anderen Ufer angelangt und auf dem Weg zum Portal nach Irona.
Ihre Tante war auch nicht hier. Es war ein eigenartiges Gefühl, dass kein Vormund im Haus war.
"Jetzt... Jetzt sind wir die, die auf alle aufpassen müssen, oder?", Saphira schluckte bei diesen Worten. Es war unheimlich daran zu denken, dass wenn nun etwas passierte, sie niemanden hatten, der ihnen zeigen konnte, was zu tun war, niemanden, der ihnen die Magie näher brachte oder ihnen mit ihren angeborenen Fähigkeiten weiterhelfen konnte.
Celles streckte sich auf der weichen Decke aus und rollte sich auf die Seite. "Wir sind Flammenkinder. So wie Vanessa und Mari. Jede von uns hat eine Flamme in sich. Wir sind besonders in Elensar.", flüsterte sie, "Wir können all das schaffen."
Saphira seufzte. Flammenkinder... In Elensar konnten manche Einwohner Magie erlernen, wenn sie auch nur einen Funken besaßen, manche wurden mit Flügeln geboren und manche waren Flammenkinder mit einer starken Verbindung zu den vier Elementen. Dass Celles und Saphira Magie können würden, war bereits vor ihrer Geburt klar, denn ihr Vater stammte aus einer der ersten Familien des Landes und war ein Mächtiger. Auch ihre Mutter Ladira beherrschte die Magie zusammen mit ihrer Schwester Pyrofera ausreichend genug, um Hüterinnen des Waldes zu werden.Doch hatten sie es mühevoll erlernt und den Funken in sich fördern müssen.
Celles und Saphira hingegen besaßen von Geburt an eine Affinität zu Feuer und Wasser. Sie waren Flammenkinder und wenn sie ihre Macht zu kontrollieren lernten, konnten sie mächtige Zauber wirken.
Flammenkinder waren selten, aber in diesem Haus lebten mittlerweile vier ihresgleichen, denn Mari und Vanessa trugen auch eine Flamme in sich. Ladira hatte es den Mädchen gesagt, bevor sie ging.
Die Sonne erwachte am Horizont und vertrieb die Wolken am Himmelszelt, als sie zum ersten Mal die Außenwelt betrat. So sah es also aus, dachte sie bei sich.
Sie stand vor den Toren einer Burgruine, die unmittelbar am Fuße eines Berges lag, nur wenige Minuten entfernt befand sich das Dorf Irona. Der Name des Dorfes bezog sich auf die Eisenvorkommen, die man einst am Berg fand und die es ermöglicht hatten, dass ein Burgherr hier seine Feste errichtet hat.
Dies war lange her.
Der Wind blies durch ihr dunkelblaues Haar und sie zog fröstelnd den Reiseumhang enger um sich. Es war kalt in diesem Land.
"Willkommen meine Schülerin!", rief eine vertraute Stimme und sogleich spendete sie Ladiras Herzem neue Wärme.
Sie wandte sich zur Seite und erblickte ihren Meister, der sich auf seinen Wanderstab stützte und zu ihr hinüber lächelte. Ein Rabe hockte auf seiner Schulter und ein zweiter flog zu ihr, setzte sich keck auf ihre Schulter und klackerte mit dem Schnabel.
"Es tut gut Euch zu sehen und dich auch Sol. Verzeih. Munin?", sie strich dem Vogel liebevoll übers Gefieder. Sie würde sich wohl nie daran gewöhnen, dass der Meister ihnen neue Namen gegeben hatte.
Odin schritt mit einem amüsierten Lächeln in seinen Zügen zu seiner einstigen Schülerin. Noch immer sah er sie als solche an, genau wie sie ihn immer als ihren Meister sehen würde. Er nahm ihr den schweren Reiserucksack ab und geleitete sie von der Burgruine weg, ein Stück hinab ins Tal, wo das Dorf war.
Doch noch bevor man das Dorf erreichte, würden sie bei dem vermutlich größten Haus in der Umgebung ankommen. Dem Gasthof zur "Schwarzen Träne", dessen Geschichte schon immer eng verbunden mit der Burg war.
"Dein neues Zuhause. Jedenfalls fürs Erste.", erklärte er ihr und führte sie hinein. Das Gasthaus war erfüllt vom Lärm der Gäste. Ladira schlug der Geruch von Bier, Wein, deftigem Essen und allerlei Düften, die Menschen so an sich trugen, entgegen. Sie erkannte schnell, dass nicht nur Menschen in diesem Hause einkehrten.
Odin schritt schnurstracks zur Theke, wo er den Wirten des Hauses heran winkte und schließlich Ladira mit einer Geste dazu aufforderte, hinzu zu kommen.
Der Wirt, ein alter Mann mit dickem Bauch und einem Schnauter wie ein Walross, stellte einen gut gefüllten Humpen vor Odin und musterte sie von Kopf bis Fuß.
"Bist du sicher, sie kann mit den Leuten hier umgehen?", fragte er, "Sie sieht ein wenig verloren aus, meinst du nicht?"
"Sie wird es lernen. Lass ihr ein paar Tage Zeit."
"Was werde ich lernen?", Ladiras Augen hatten sich misstrauisch verengt und sie bedachte ihren Meister zum ersten Mal in ihrem Leben mit einem Blick, den sonst nur ihre Töchter zu sehen bekamen, wenn sie etwas wirklich Schlimmes ausgefressen hatten. Das Anzünden von Teppichen oder das Überfluten des Badetraktes gehörte nicht dazu.
Ertappt pfiff Odin durch die Zähne und wandte den Blick ab. Der Wirt beugte sich, so weit es seine Körperfülle erlaubte, über die Theke und ergriff Ladiras Hand. "Mein alter Freund hier bot an, dass du mir hier zu Hand gehst, wenn ich dich hier wohnen lasse. Ich bin Ben.", erklärte er.
"Es freut mich sehr Euch kennenzulernen. Ich bin Ladira Dunkler, aber ich nehme an, er hat Euch meinen Namen bereits verraten", Ladira erwiderte den Händedruck mit einem Lächeln, bevor sie einen vernichtenden Blick gegen ihren Meister schickte.
War ihr Auftrag in der Außenwelt, Gäste aller Geschlechts und Rasse zu bedienen? Sie wollte es nicht glauben. Sie wollte es auch noch immer nicht glauben, als der Wirt sie die Treppe hinauf zu ihrem neuen Zimmer führte. Es lag am anderen Ende des Ganges und verfügte sogar über einen Tisch und einen kleinen Balkon, der zum Garten zeigte.
Sie legte ihre Sachen auf einem Korbsessel ab, der neben dem Bett stand und bedankte sich mechanisch bei ihrem neuen Chef, der ihr einschärfte, sie müsse bald wieder hinunter, denn er bräuchte Hilfe in der Küche.
Benommen ließ Ladira sich auf der Bettkante nieder und starrte mit leerem Blick in den Raum. Was hatte sich Odin nur dabei gedacht?
Es klopfte. Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen und ging zur Tür, um zu öffnen. Für einen Augenblick war sie wieder daheim und unter der Tür standen ihre Mädchen. Nur stand dort in der Realität Odin, der ihr einen alten Schlüssel reichte.
"Das Gasthaus ist besonders, Ladira. Es hat einen Zugang zur unendlichen Bibliothek."
Sie nahm den Schlüssel wortlos entgegen.
"Die Bibliothek ist verbunden mit Elensar, wie du weißt und sie wird von Tee geleitet. Das Haus und auch die Burg Irona sind Außenposten Elensars und es ist immer einer von dort hier, um sicher zu gehen, dass die Ruine geschützt ist."
Ladira blickte ausdruckslos auf den Schlüssel, der schwer in ihrer Hand lag.
"Der Zugang befindet sich über die Besenkammer unter der Treppe. Wenn du die Tür mit dem Schlüssel öffnest, kannst du in die Bibliothek. Deine Aufgabe ist auch, über die Welt hier zu lesen."
Sie blickte auf, um etwas zu fragen, doch sah sie nur auf die Wand gegenüber. Er war verschwunden.
Seufzend lehnte sie sich gegen den Türstock und drehte den Schlüssel zwischen ihren Fingern. Das also war ihr Auftrag. Nun gut, dachte sie bei sich, in die Bibliothek wollte sie schon immer sehen. Angeblich regierte eine Hexe mit strenger Miene darüber.
Doch zuerst rief die Arbeit und sie beeilte sich, sich umzuziehen. Eine Schürze fand sie im Schrank und wenig später, rührte sie in mehreren Töpfen, die nebeneinander über einer offenen Feuerstelle baumelten oder auf Dreifüßen standen.
So begann ihr erster Tag in der Außenwelt. Einer Welt, die so anders war, als Zephyr erzählt hatte. Sie fragte sich, in welcher Zeit sie gelandet war oder ob es gar die richtige Welt war, denn hier störte niemanden ihr blaues Haar. Im Gegenteil. Es waren Wesen in diesem Dorf, die sie zuvor nur von Büchern kannte. Einige erkannte sie aber auch aus Elensar.
Die folgende Tage vergingen schleppend und deutlich eintönig. Es kamen immer wieder neue Gäste, manche quartierten sich für längere Zeit ein, andere blieben nur zum Essen. Ladira balancierte Tabletts, Krüge und Schüsseln mit steigender Eleganz durch den engen Raum, um alle zufrieden zu stellen. Mit ein paar führte sie sogar interessante Gespräche und erfuhr mehr von der Welt, in der sie sich befand. Es war noch eine Zeit, in der Menschen und andere Wesen voneinander wussten und mehr oder weniger in Eintracht miteinander lebten. Sie lernte auch eine Waldnymphe kennen, die sich in einen Menschen verliebt hatte und bereitete beiden ein gemischtes Hochzeitsmahl zu.
Doch abgesehen davon, war es immer das Gleiche. Jeder Tag begann früh mit dem Herrichten des Frühstücks für die nächtlichen Gäste, dann wurden die Zimmer geputzt, Wäsche gewaschen und im Garten gearbeitet, sofern sich dies noch vor dem Mittagessen ausging und sofern nicht irgendwer spontan durch die Tür hereinschneite, denn es war praktisch nie geschlossen und abends wurde solang gearbeitet, bis der letzte Gast gegangen war.
Ladira hatte keine Zeit auch nur für einen Moment den Schlüssel zu nutzen, um in die Bibliothek zu schauen. Sie war froh, wenn sie endlich ihr Zimmer betrat, Schuhe und Schürze abstreifte und auf ihr Bett fiel.
Sie vermisste ihr Zuhause, wo es chaotisch war, aber sie sich zumindest nicht so allein fühlte wie an diesem Ort.
Schließlich wurden aus Tagen Wochen und aus diesen Monate.
Der Winter kam und ging und der Frühling zog ins Land.
Ladira sog tief die warme Luft, die in ihr Zimmer wehte, ein und streckte die müden Glieder.
Sie wanderte hinüber zum Fenster, um ihn den Garten zu sehen.
Heute würde sie gehen. Das hatte sie beschlossen. Sie wollte die Welt auf eigene Faust erkunden. Wollte nicht länger nur die Kellnerin und Zimmermädchen spielen. Gefangen in einem Gasthaus, wo sie nicht weiter kam als bis zur Burgruine oder zur nahen Bucht, denn Irona lag zwar am Fuße eines Berges, doch dieser war in Küstennähe und zwischen den Klippen hatte sich in all den Jahrtausenden das Meerwasser eine Bucht gegraben, die über eine Holztreppe zugänglich war.
Es klopfte an der Tür. Ladira wusste, dass es der Wirt war.
"Komm ruhig rein, Ben. Es ist offen.", rief sie ohne sich vom Fleck zu rühren.
"Guten Morgen Ladira.", Ben trat ins Zimmer herein, zwirbelte ein Ende seines Schnauzers nach oben, "Du warst gestern abend sehr schweigsam. Stimmt etwas nicht?" Er bedachte sie mit einem ehrlich besorgten Blick.
"Ben...", begann sie und sah ihn an. Er war immer so nett zu ihr und hatte ein offenes Ohr für alle, die einen Rat brauchten.
"Ich kann nicht länger hier bleiben."
"Du willst die Welt sehen, nicht wahr?"
"Es tut mir so leid. Ich habe immer von der Außenwelt geträumt und würde gern mehr sehen. Es ist so nett hier, aber ich möchte einfach auch mal was Anderes tun als Kellnerin spielen."
"Wenn das nur gespielt war, dann bist du richtig gut."
"Ich meine es Ernst!", sie stieß sich vom Fenster ab und hob die Arme, um etwas zu sagen, ließ sie jedoch wieder unschlüssig sinken. Ihr fehlten die Worte, denn eigentlich war doch alles gesagt.
Ben kam zu ihr, legte seine große Hand sanft auf ihre Schulter.
"Ich werde dich nicht aufhalten, wenn du das wirklich willst. Du solltest die Welt sehen und dein Meister meinte auch, du wärst noch ziemlich jung."
"Älter als du."
"Kann nicht sein. Du bist maximal Mitte zwanzig.", er lachte vergnügt.
Ladira lächelte schief. "In Elensar werden die Bewohner sehr alt, Ben. So alt wie Elfen und du kennst diese Geschöpfe ja."
"Dann fühl ich mich ja gleich wie ein Jungspund, wenn du wirklich so viel älter wärst.", er schmunzelte, senkte dann kurz den Blick und sah sie ein wenig traurig an, "Ich werde dich vermissen, Ladira Dunkler. Du warst mir eine große Hilfe und eine Bereicherung für das Haus."
"Du wirst mir auch fehlen. Ebenso wie all das hier. Ich finde mein Zimmer wundervoll."
"Du wirst noch viele Orte lieben lernen, aber du wirst hier immer Willkommen sein.", er drückte ihre Schulter sacht, "Und nun pack deine Sachen und mach es einem alten Wirt nicht so schwer."