Es kostete ihn selbst nach über zwanzig Jahren große Überwindung über die Schwelle eines Restaurants zu treten. Den neugierigen Blicken der Menschen standzuhalten, mit denen sie den Neuankömmling musterten und sich schließlich wieder ihrem Essen widmeten. Der unliebsame Geruch nach gekochten Mahlzeiten hing in der Luft, der ihn früher in die Flucht geschlagen hätte. Jetzt nahm er ihn lediglich zur Kenntnis und suchte nach einem freien Platz für sich und seinem Begleiter.
»Guten Abend, die Herren, kann ich etwas für Sie tun?«
Stets freundlich und zuvorkommend kam die junge Kellnerin ihm entgegen. Es war schließlich ihr Job, aber nicht das unverhohlene Begehren in ihren Augen. Sie signalisierte ihm immer auf mehr oder weniger subtile Art ihr Interesse. Zu seiner eigenen Belustigung mimte er den Verständnislosen, nur um zu sehen, wie weit sie gehen würde. Dabei gefiel sie ihm nicht einmal rein optisch. Sie besaß allen voran das falsche Geschlecht, aber sie amüsierte ihn die eine Stunde, die er in diesem Restaurant verbrachte und das war alles, was zählte. Dachte er jedenfalls.
»Guten Abend, Meghan«, grüßte er sie, »ich habe reserviert für zwei Personen.«
Seine spontane Vertrautheit brachte sie tatsächlich kurz aus ihrem Konzept, dass sie sich errötend eine blondierte Strähne hinters Ohr strich. Sein Begleiter musterte sie ebenfalls amüsiert, bis er wieder dem neutralen Gesichtsausdruck aneignete.
»Ja, hier sehe ich den Eintrag. Sie haben auf Marc bestanden, Mr Farlaine?«
Irritiert sah sie auf. Anmerkungen wie diese waren sie selten hier gewohnt, aber im Gegensatz zu ihr wusste ihr Kollege, wie er mit den Gästen umzugehen hatte. Mit den Besonderen ...
»So ist es.«
»Nun, dann folgen Sie mir bitte.«
Zwei Karten unter den Arm geklemmt, ging sie voraus zu ihren Plätzen und er schlenderte mehr gemütlich als eilig hinter ihr her. So mancher Gast sah von seinem Teller auf, als sie an ihnen vorbeischritten. Mal ein Lächeln, ein Nicken und hin und wieder ein schnelles Ducken – er war bekannt, denn die Gerüchteküche riss nie ab. Es gab viel über ihn zu tratschen.
»Bitte sehr.«
»Vielen Dank.«
»Marc nimmt sofort Ihre Bestellungen auf.«
»Nur keine Eile«, bemerkte er, denn ihre Hast machte ihm den Abend madig. Er wollte die Vorfreude noch etwas in die Länge ziehen.
»Natürlich.«
Sobald sie mit hängenden Schultern ihren Tisch verließ, wandte sich sein Begleiter zu ihm.
»Warum habe ich das Gefühl, sie ist dein Spielzeug, Constantine?«
»Weil sie es ist, Charles.«
Es brachte nichts, diese Tatsache zu leugnen. Sein Bruder kannte ihn und sein Interesse an der ... Feldforschung. Er selbst fürchtete sich zu sehr davor, seiner Natur freien Lauf zu lassen, wenn er sich auf derartige Spielchen einließ. Die Nähe von Menschen behagte ihm nicht.
»Sei unbesorgt, Bruderherz, es kann so gut wie nichts passieren.«
»Wenn du das sagst.«
Sie hatten Jahrhunderte in den Schatten des Untergrundes verbracht, da halfen keine zwanzig Jahre der Freiheit darüber hinweg, was sie alles in der Zeit hatten erdulden müssen. Er wünschte sich, dass Charles sich trotzdem mehr öffnete. Sein Bruder sollte nicht den Fehler begehen und sich den Gruppieren anschließen, die auf Rache sannen. Er sollte die neu gewonnene Freiheit annehmen, und dies hier sollte den Grundstein legen.
»Du bist jeden Abend hier?«
»Ja. Eine Stunde.«
Je länger er sich in dieser Umgebung aufhielt, desto mehr fürchtete er sich vor den gleichen Folgen wie sein Bruder. Dass ihre Natur sich offenbarte und er sich in der ganzen Stadt nie wieder zeigen konnte. Bis jetzt funktionierte es, daran war auch der junge Kellner beteiligt, der gerade um die Ecke bog. Das kurze braune Haar stand ihm an einigen Stellen vom Kopf ab und die Wangen von der Kälte draußen gerötet. Im schwarzen Hemd, zusammen mit der roten Krawatte, glich Marc Sinclaire einem wahrgewordenen Traummann. Braune Augen strahlten schlichte Zufriedenheit aus, als er seinen Block samt Stift zückte.
»Das Übliche oder darf es heute etwas anderes sein, Constantine?«
Charles hob überrascht die Augenbrauen, doch er winkte ab. Marc folgte lediglich einer Bitte. Er gab ihm das Gefühl, eben kein Fremder in der Stadt zu sein.
»Das Übliche.«
»Irgendwann bekomme ich dich dazu, dass du mehr als nur ein rohes Stück Fleisch möchtest.«
»Irgendwann nehme ich das Angebot vielleicht an«, erwiderte er mit einem Lächeln auf den Lippen.
Zwinkernd verabschiedete sich der junge Kellner, der unbeabsichtigt einen großen Eindruck hinterließ. Charles fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. Wahrlich amüsant das Ganze, dass er sich langsam entspannte. Es war eine gute Idee gewesen, auf Marc zu bestehen.
»Bruder?«
»Bleib ruhig«, beschwichtigte er Charles, bevor der noch fluchtartig das Restaurant verließ, »alles ist gut. Ich sagte dir doch, dass es keinen Grund zur Sorge gibt.«
Was sein Bruder noch nicht wusste, war, dass ihr Kellner aus einer Familie stammte, die dem Okkulten zugetan war. Wenn ihm etwas auffiel, posaunte er es nicht in die Welt hinaus.
»Dann flirtest du nur offensichtlich mit ihm?«
Lange erwiderte er nichts darauf. Seine Finger zeichneten den Stiel eines der Weingläser auf dem Tisch nach, während er nach passenden Worten suchte.
»Es ist ein weiteres Spiel, Charles.«
Eines, dem er gern nachging. Möglicherweise überschritt er damit selbst gesetzte Grenzen, nie mit einem Menschen auf Tuchfühlung zu gehen. Überhaupt den Wunsch danach zu haben und sich in der Stille der Einsamkeit vorzustellen, was wäre ... sein könnte ...
»Hm, du solltest mir reinen Wein einschenken, Constantine.«
Zu einem späteren Zeitpunkt wäre er dazu geneigt, aber er wollte seinen Bruder auch nicht sofort verschrecken. Ihn widerstrebte der Gedanke, Gefühle dieser Art für einen Menschen zu empfinden. Sie waren für ihn kaum mehr als ein Stück Fleisch, das Marc ihnen gerade servierte.
»Bitte sehr. Ich wünsche einen guten Appetit.«
Oft hatte er die filigranen Finger in Augenschein genommen, die die weißen Teller sicher vor sie platzierten. Er sah vor allem seinen Bruder an, was der Anblick diesem antat. Schluckend sah er stur geradeaus auf seinen Teller, die Finger fest zusammengepresst. Ihm selbst stand das Wasser im Mund, doch er unterdrückte den Drang.
Er schenkte Marc ein kleines Lächeln, welches dieser erwiderte und eine Verbeugung andeutete. Menschen, dieser hier insbesondere, waren Fluch und Segen zugleich. Er wollte sie nicht missen. Die eine Stunde bedeutete ihm zu viel.
»Danke.«
Irgendwann überwand er sich vielleicht dazu, dem jungen Mann mehr als nur ein großzügiges Trinkgeld zu geben. Menschen luden einander zum Kaffee ein, wenn Interesse im Spiel war. Vielleicht, ja vielleicht, versuchte er einfach mal sein Glück.