Teil I - Flammenseele
Der Waisenjunge Aiden wächst in dem wohl kältesten Waisenhaus der Welt auf. Doch kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag macht er eine Entdeckung, die sein Leben für immer verändern wird - und schlägt den falschen Weg ein. Denn Feuer kann nicht nur wärmen, sondern auch verbrennen...
1. Dezember
Ich bin ein Kind der Kälte.
Ich bin im Winter geboren. Mir ist immer kalt. Und ich lächele nie.
Die Erzieherinnen sagen mir, das letzte Mal hätte ich als kleines Kind gelächelt. Ich kann mich natürlich nicht an diese Zeiten erinnern. Sie sind verloren in der Vergessenheit, für mich unerreichbar und unvorstellbar. Sie entgleiten mir, denn die Erzieherinnen, von denen ich diese Geschichten habe, sind gegangen, haben neuen, jüngeren Frauen Platz gemacht. Einzig Frau Jäger ist geblieben. Sie ist wie ein Fels in der Brandung, während alles andere sich verändert: Manche Erzieherinnen haben eine bessere Arbeit gefunden, ein paar der ganz alten Damen sind gestorben. Oder es wurde ihnen zu viel, auf ein ganzes Haus voller Waisen aufzupassen. Letzteres war der häufigste Grund. Kinder können so grausam sein, besonders wenn ihre Eltern sie nicht haben wollen.
Ich selbst war niemals grausam – es sei denn, man zählt meine Weigerung, auf die einstudierten, pädagogischen Maßnahmen der Erzieherinnen anzuspringen und zu lächeln, als Grausamkeit. Vielleicht bedeutet es für diese Frauen sehr viel, dass ein Kind von Zeit zu Zeit die Mundwinkel hebt. Ich habe den Sinn dahinter nie begriffen. Lächeln ist wie jede andere Grimasse. Anstrengend, auf Dauer schmerzhaft, kindisch. Und ich stehe kurz vor meinem 18. Geburtstag.
In meiner Zeit hier war ich weder Opfer noch Täter. Ich hielt mich im Hintergrund, habe keine Schlägereien angezettelt, keine Streiche gespielt, keine Gegenstände versteckt. Manche Erzieherin ist an meinen eingefrorenen Mundwinkeln verzweifelt, doch ansonsten habe ich niemals Probleme bereitet.
Manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass das nicht richtig ist. Dass ich zu eingefroren bin, bis in in die Fingerspitzen und Mundwinkel, dass mein wahres Ich irgendwo von einer Last aus Schnee erstickt wird. Aber das ist mein Leben. Ich bin ein Kind der Kälte.
Unser Waisenhaus ist ein altes Herrenhaus, dessen Lage früher einmal malerisch gewesen sein muss: Es liegt einsam und verlassen mitten im Wald, an einem großen, spiegelklaren See. Doch der See ist häufig zugefroren, bis auf wenige Monate im Jahr liegt immer Schnee und verschüttet den einzigen Zufahrtsweg. Kaum ein Sonnenstrahl verirrt sich durch die dichte Wolkendecke am Himmel. Die langen Steingänge des Gebäudes sind von Kälte durchzogen. Der Wind reißt Lücken in das alte Gemäuer, schneller, als man sie stopfen kann. Wenn in der kurzen, schneefreien Phase die „Große Anschaffung“ beginnt, dann kaufen die Erzieherinnen in erster Linie neue Decken, Pullover und die Teppiche, die jeden Zentimeter des Bodens bedecken. Sie kaufen Heizöl und und elektrische Heizer, obwohl die Stromleitungen im Winter einfrieren. Und sie lassen gerade genug Geld übrig, um auch Lebensmittel und Medizin kaufen zu können.
Doch die Kälte ist überall. Teppiche und geschlossene Türen können nur Wärme innen halten, die auch existiert, doch da gibt es keine Wärme. Ich habe bereits erlebt, dass Jungen im Winter in ihren Betten erfroren sind. Auch wenn jedes Mal eine andere Erklärung bei der Hand war – eine Erkältung, ein nicht abgedichtetes Fenster, ein kränkliches Gemüt – so ist mir doch lange klar, dass es die Kälte dieses Hauses ist. Diese Kälte und Dunkelheit, die nur zu besonderen Gelegenheiten von einer kleinen Flamme durchbrochen wird.
An meinem Geburtstag, in einer Woche, darf ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Kerze anzünden. Das ist unser Ritual.
Im ganzen Haus gibt es sonst keine Kerzen, auch keine scharfen Messer oder sonst etwas, woran sich ein Kind verletzen könnte. Nicht einmal ein Kaminfeuer, zum Teil, weil das Feuerholz hier im Norden so teuer geworden ist. Die Kerze steht nicht nur für das Leuchten der Freiheit und die Wärme einer neuen Familie, die wir möglicherweise gründen könnten – sie steht auch dafür, dass wir keine Kinder mehr sind und die Erzieherinnen und deshalb ein gefährliches Feuer nicht länger verbieten können.
Ich zähle die Stunden, bis es endlich so weit ist. Sechs Tage und zehn Stunden. Ich weiß nicht, wohin ich dann gegen werde. Es gibt keine Zukunft, die auf mich wartet, nur die endlose, eisige Wildnis vor der Tür. Ich habe keine Pläne. Ich will keine Ausbildung anfangen, nicht in wärmere Gefilde ziehen. Ich habe keine Perspektive. Mein Geburtstag bedeutet mir nur, dass ich meine Kindheit überstanden habe.
Was danach kommt? Vielleicht einfach nur mein Tod.
Es klopft an der Tür zu meinem Zimmer.
„Aiden? Bist du da drin? Wir wollen los!“
Ich seufze lautlos und schwinge mich schwerfällig vom Bett. „Klar bin ich hier“, antworte ich der Frau auf der anderen Seite der Tür.
Die Klinke wird nach unten gedrückt und Fenia öffnet die Tür. Ich verschränke die Arme: „Ich gehe nicht mit!“
Fenia atmet tief durch: „Aiden, du weißt, dass wir dich nicht hier lassen können. Wenn dir etwas passiert, bist du ganz alleine.“
„Ich bin fast erwachsen!“, bettele ich. „Mach doch eine Ausnahme – ich verspreche, dass ich mich nicht in Gefahr bringe.“
Fenia sieht hin- und hergerissen aus. Sie ist noch nicht lange hier, ein paar Wochen, und noch leicht zu beeinflussen. Ihre weiße Stirn zieht sich in mitleidige Falten: „Das habe ich nicht zu entscheiden …“
Ich wage einen weiteren Vorstoß: „Du könntest doch sagen, dass ich krank wäre. Ich schwöre, ich mache keinen Unfug. Bitte, bitte, bitte, bitte, Fenia!“
Ich hasse mich selbst dafür, dass ich so betteln muss. Doch es zeigt Wirkung: Fenias Schultern sacken ein Stück nach unten.
Kein Wunder, sie ist selbst noch jung. Nur zwei Jahre älter als ich – und schon ausgebildete Erzieherin. Als sie die blauen Augen senkt, weiß ich, ich habe gewonnen.
„Also gut, Aiden“, sie hebt einen Zeigefinger, „aber wenn du Ärger machst, sorge ich höchstpersönlich dafür, dass du bis zu deinem Geburtstag im Keller hockst, verstanden?“
Artig senke ich den Kopf: „Natürlich, Fenia.“
Sie geht und zieht die Tür hinter sich zu. Ich äffe sie mit gedämpfter Stimme nach: „`Aber wenn du Ärger machst, sitzt du den Rest deines Lebens im Kerker!´ Fotze!“. Wütend trete ich gegen das Bett, dann lasse ich mich auf darauf fallen, dass das altersschwache Holz ächzt. Mit der Faust schlage ich auf die graue Matratze, die vor unzähligen Jahren mal weiß war. Wenn es nicht so ein großes Risiko für mich wäre, würde ich absichtlich etwas zerstören, nur damit Fenia meinetwegen Ärger bekommt.
Auf dem Hof erklingen Stimmen. Ich stelle mich in den Schatten neben dem schmutzigem Fenster und sehe zu, wie die anderen Kinder in ordentlichen Zweierreihen losziehen. Frau Jäger wackelt dem Tross voraus wie eine aufgereckte Glucke. Mehrere Erzieherinnen umschwärmen die Waisen. Als letztes kommt Jakob, der einzige fünfzehnjährige, und einer der wenigen, mit denen ich mich überhaupt unterhalte. An seiner Seite geht Fenia und scherzt mit ihm. Als Jakob über einen ihrer Witze lacht, huschen ihre Augen zum Haus zurück und ihr Blick heftet sich direkt auf das Fenster, hinter dem ich stehe.
Es ist unmöglich, dass sie mich hinter dem staubigen Glas sehen kann. Vermutlich weiß sie nicht einmal, dass ich sie beobachte, oder dass dies überhaupt mein Fenster ist. Trotzdem mache ich ein paar Schritte zurück, bis ich mit dem Rücken an die Zimmertür stoße.
Abgesehen von dem Kleiderschrank und meinem Bett ist hier eh nicht viel. Ich öffne die Tür und schleiche auf den Gang. Die Stille des leeren Hauses empfängt mich wie eine liebevolle Mutter.
Zeit, eine Beschäftigung zu finden.