3. Dezember
„Also nochmal, Aiden: Was ist auf dem Hof passiert?“, Frau Jäger beugt sich vor und stützt sich dabei auf den Schreibtisch, der unter ihrem Gewicht ächzt.
Ich betrachte meine Hände, die auf dem Schreibtisch liegen: „Ich weiß es nicht“, erkläre ich mit meiner besten Jammerstimme. Frau Jäger schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, aber falls sie glaubt, das würde mich erschrecken, hat sie sich getäuscht. Ich zucke mit keiner Wimper.
„Was hast du getan? Hattest du heißes Wasser im Ärmel? Eine Kerze gestohlen?“, ihre Stimme ist lauernd. Sie weiß inzwischen, dass eine der weißen Kerzen fehlt. Aber ihre Anschuldigungen werden immer abstruser: „Wie hast du diesen Jungen verbrannt?“
Ich zucke mit den Schultern und halte den Blick gesenkt: „Ich schwöre, Frau Jäger: Ich war es nicht!“
Ich gebe mir alle Mühe, so betrübt wie möglich zu klingen. Eine lange Stille schließt sich an, in der Frau Jäger tief durchatmet. Ich spüre förmlich, wie sie meine Geschichte auf Schwachstellen prüft. Sie glaubt mir nicht, mein Schauspiel ist noch nicht überzeugend genug.
Ich hole tief Luft, dann hebe ich die Augen mit meinem traurigsten Hundeblick: „Es – es ging alles so schnell, Frau Jäger! Wir hatten eine Schneeballschlacht und ich wollte rein gehen, aber die Kinder sind hinter mir her und haben mich abgefangen, und ich habe ein bisschen den Kopf verloren. Ich habe Patrick geschubst und wollte auf ihn drauf, aber Michael und Jakob haben mich zurückgehalten. Ich wollte mich losreißen, aber ich muss ihn irgendwie getroffen haben, und plötzlich lag er – aber ich weiß nichts von Feuer, wirklich nicht! Ich schwöre es, Frau Jäger!“
Das alles sprudelt aus mir heraus wie ein waschechtes, ehrliches Geständnis. Ich denke sogar an alle die Dinge, die in meinem Buch standen – das Buch, das jetzt natürlich im Schnee durchweicht. Es war von einem ehemaligen CIA-Agenten, darüber, wie kleinste Körperzeichen verraten, ob jemand lügt oder nicht. Keine Ahnung, wie das in unsere kleine Waisenheim-Bibliothek gekommen ist, aber ist entdecke jetzt, dass dieses Buch durchaus nützlich ist.
Ich halte die Hände offen, Handflächen nach außen, sehe Frau Jäger direkt an, blinzele nicht zu viel und nicht zu wenig, schaue ehrlich besorgt und vollkommen elend, wippe nicht, verkrampfe mich nicht und atme zwar schneller, aber regelmäßig. Dass diese CIA-Agenten nicht daran denken, dass auch Verbrecher und Lügner ihre Bücher lesen könnten.
„Ich – ich hoffe doch, Michael geht es gut?“, beende ich meine Vorführung.
Frau Jäger seufzt und lässt sich in ihren Stuhl sinken. Ihr Hüftspeck quillt auf beiden Seiten zwischen Sitzfläche und Lehne nach außen. Ich frage mich unwillkürlich, ob sie den Stuhl ohne Hilfe verlassen kann und wie viele Tage sie wohl dazu bräuchte.
„Gut, ich glaube dir“, sagt Frau Jäger. Ich merke, wie sich meine Beine entspannen – also habe ich mich doch verkrampft. Mist. Ich überspiele meine Entspannung, indem ich den Kopf in den Händen vergrabe und mir durch die Haare fahre, als wäre ich total fertig. Ich gestatte mir ein vorsichtiges Grinsen, doch mein Gesicht ist die bekannte Maske, als ich Frau Jäger wieder ansehe.
„Wie es Michael geht, werden wir erfahren, sobald der Doktor etwas sagt. Soll ich dich auf dem Laufenden halten?“
„Auf jeden Fall!“, sage ich bestimmt und will bereits erleichtert aufspringen, als es an die Tür klopf.
„Herein!“, befielt Frau Jäger.
Es ist Fenia, die öffnet. Mit schlanken Fingern zieht sie die Tür auf und schlüpft fast lautlos ins Zimmer. Sie hält einen Notizblock an die Brust gedrückt. „Der Arzt hat sich zu Michael geäußert“, sagt Fenia mit gedämpfter Stimme, fast schon, als wäre das hier eine Beerdigung. Eine kalte Faust scheint sich um meine Eingeweide zu legen. Wenn ich Michael getötet habe, wird man die Polizei verständigen müssen und die werden nachforschen. Oder aber der Arzt hat bereits die Verbrennungen erkannt und Frau Jäger wird mich mehrmals befragen, bis ich einen Fehler mache. Ich halte mich mühsam davon ab, auf der Unterlippe zu kauen, bis mir einfällt, dass das durchaus akzeptiert wäre – als guter Freund darf ich besorgt sein.
„Was sagt er?“, fragt Frau Jäger.
Fenia zögert kurz: „Er wird überleben. Vermutlich wird er eine Zeitlang die Male im Gesicht tragen.“
„Die Verbrennungen, meinst du?“, fragt Frau Jäger.
Fenia legt den Kopf schief. Bilde ich es mir nur ein, oder huscht ihr Blick zu mir? Was bedeutet das?
„Der Arzt meint, dass es sich eventuell auch um Vereisungen handeln könnte“, erklärt Fenia. „Beides ist manchmal schwer zu unterscheiden, besonders, wenn dazu noch äußere Gewalteinwirkung kommt.“
Jetzt sieht sie mich aber direkt an. Ich sinke in meinem Stuhl zusammen.
„Zusammen mit deinem Schlag könnte vielleicht der Eindruck einer Verbrennung entstanden sein“, sagt Fenia jetzt direkt zu mir.
Ich schweige und erlaube es mir nicht, erleichtert auszuatmen. Fenia beobachtet mich scharf, so, als warte sie auf eine bestimmte Reaktion. Ich habe keine Ahnung, welche das sein sollte.
„Gut“, sagt Frau Jäger und klatscht in die Hände. Fenia und ich sehen sie wieder an, die Spannung ist gebrochen. „Dann wäre dieses Rätsel gelöst. Aiden, ich hoffe, du verzeihst mir?“
„Natürlich“, sage ich mit heiserer Stimme und stehe auf, um die feiste Hand Frau Jägers zu ergreifen, als Entschuldigung dargereicht. Sie lacht: „Du würdest natürlich auch niemanden verbrennen! Was für eine absurde Idee!“
Ich lächele dünn. Fenia berührt meinen Arm: „Gehen wir, Aiden.“
Auf dem langen Weg zurück durch die Gänge habe ich das Gefühl, von einem lauernden Raubtier beobachtet zu werden. Ich bin entkommen, doch meine Fassade scheint zu bröckeln. Fenia wirft mir immer wieder Blicke von der Seite zu. Meine Hände schwitzen.
Wir erreichen meine Tür. Ich bleibe stehen, greife nach der Klinke und zögere.
Ich räuspere mich: „Und Michael geht es wirklich gut? Er wird keine bleibenden Schäden haben – oder so?“
Etwas weicht aus Fenias Blick. Offenbar ihr Misstrauen. Sie lächelt mich ermutigend an: „Ja, Aiden. In ein paar Wochen ist alles wieder gut.“
Ich tue, als würde mich das sehr erleichtern. Dann öffne ich die Tür und verschwinde in meinem Zimmer. Ich bin erschöpft. Aber in meinem Kopf entstehen bereits neue, wahnsinnige Ideen. Ich betrachte meine Hände und konzentriere mich.
Dann züngeln kleine Flammen aus meiner Haut. Sie leuchten und ihr Licht spiegelt sich in meinen Augen. Mir wird warm.
Während ich in mein Bett falle und dann immer tiefer in den Schlaf, singen die Flammen ein Lied für mich. Und sie erklären mir, was ihre Macht ist.