Später, als sie Jorunn zur Tür begleitete, fühlte sich Rúna so unglaublich leicht, dass sie hätte singen und lachen wollen. Dabei lag dieses Gefühl sicher nicht an den weniger Schlucken Met, zu denen sie sich hatte überreden lassen. Und ganz bestimmt auch nicht daran, dass sie sich nun, nachdem sie frei und Thorsteins Gefährtin war, bahnbrechende Veränderungen in ihrem Leben erwartete. Gewiss hatte der heutige Abend ihre Zuneigung zu dem Steuermann noch weiter gefestigt, doch sie war sich auch vorher und ohne die neue Freiheit ihrer Liebe zu ihm sicher gewesen.
Vielleicht war es das Wissen, nun offen ihre Zusammengehörigkeit zeigen zu dürfen, vielleicht auch die Erkenntnis, dass Ragnar nun keine Herrenmacht mehr über sie hatte. Doch er blieb auch so der Jarl der Siedlung, der Herrscher über die Ländereien, der Mann, der die Leidang und alle anderen Abgaben festlegte und so noch genug Macht über Thorstein und sie ausüben würde. Dennoch war all das heute nicht von Bedeutung. Nein, heute hatte sie ein viel wesentlicheres Geschenk erhalten, das Recht nämlich, sich selbst zu gehören.
Still schaute Rúna der Völva hinterher und erinnerte sich an jene Worte Rollos, die er ihr vor kaum einem Mond an den Kopf geworfen hatte: 'Deine Hände gehören nicht dir!' Damals hatte sie die Endgültigkeit dieser Aussage weit mehr getroffen, als sie es zeigen konnte. Und der Krieger hatte recht gehabt mit dem, was er dachte.
Angelegentlich betrachtete Rúna ihre Hände, die nun auch in diesem übertragenen Sinne ihr gehörten. Das, was sie jetzt zusammen mit Teitr und Thorstein erarbeitete, würde auch ihnen gehören. Jedes Kalb, dem sie noch auf die Welt helfen würde, jedes gebackene Brot, jede Garbe, die sie zusammenband - das alles würde ihr jetzt auch den gerechten Lohn einbringen. Die junge Frau fing bei diesem Gedanken unwillkürlich an zu zittern. Der Schritt, den sie heute Abend gegangen war, erschien ihr riesig.
Das Gewicht von Thorsteins Armreif zog ihre Aufmerksamkeit auf den Schmuck. Liebevoll fuhr sie die in sich verdrehten Bronzebänder nach, ertastete die ziselierten Runen. Fremdartig waren sie und doch zeigten sie auch auf eine geheime Weise ihre neue Zugehörigkeit zu den Nordmännern, die ihr früheres Volk so sehr gefürchtet hatte.
Jorunn hatte den Armreif lange betrachtet und dann Thorstein freundlich zugenickt. "Es liegt Magie in diesem Schmuck und eine große Kraft", hatte sie Rúna dann wissen lassen. "Gebo, Kenaz und Eihwaz haben jede für sich schon starke schöpferische Kräfte. Doch ihre Gemeinschaft auf diesem Band bewirkt mehr als jede für sich allein. Feuer und Luft werden dich führen. Yggdrasil wird seine schützenden Zweige über dir ausbreiten." Sie hatte ein freundliches Lächeln im Gesicht, als sie die Runen mit ihrem Finger nachgefahren war. "Gebo wird über eure Gefährtenschaft wachen. Sie hilft Wissen zu erlangen und Wissen zu geben. Kenaz wird dafür sorgen, dass euch nie das Verlangen nach einander verlorengeht. Sie hält Böses fern und beleuchtet den Weg des Reisenden. Eihwaz aber wird dir Weisheit schenken, ein langes Leben ohne Angst vor dem Tod. Eihwaz, Kenaz und Gebo, Runen des Freyr und des Odin, vereint in einer Reihe auf einem dreifach gebundenen Band. Dieser Schutz wird stark sein für dich und ist eine Morgengabe, die deinem Wert durchaus entspricht."
Noch einmal ergoss sich eine tiefe Röte auf Rúnas Wangen, als sie sich die letzten Worte der Völva in Erinnerung rief. Zum ersten Mal hatte man ihr, Rúna, einen anderen Wert beigemessen als den ihrer Arbeitskraft. Und es war nicht irgendwer gewesen, sondern die mächtige Völva, ihre Lehrerin, ihr Vorbild.
Ein leises Rascheln hinter ihr lenkte Rúna von diesen Gedanken ab. Etwas Schweres legte sich um ihre Schultern und die wundervolle Weichheit eines dichten Pelzes umgab mit einem Mal ihre Arme und Schultern. Thorstein hatte ihr den neuen Umhang aus Hasenfell umgelegt und schlang nun seine Arme von hinten um ihren Oberkörper. Die Körperwärme des großgewachsenen Mannes drang noch durch den Pelz hindurch bis an ihre Haut. Instinktiv drückte sich Rúna ein wenig näher an ihn und ließ seine Stärke und seine Ruhe auf sich wirken. Nach allem, was hinter ihr lag, waren ihr die Geborgenheit und die Sicherheit, die sie bei ihrem Steuermann fand, noch wertvoller geworden. Ab heute nun durfte sie ihn ihren Mann nennen, nicht mehr ihren Herrn. Es war ein so unglaubliches Gefühl, dass sie dachte, schweben zu können.
Wortlos wandte sie sich so weit zu ihm um, dass sie ihre Wange an seiner Brust anlehnen konnte. Diese Sehnsucht nach Nähe hatte sie vor ihrer Begegnung mit dem Krieger gar nicht gekannt. Jetzt aber konnte sie nicht genug davon bekommen. Und auch Thorstein schien ihre Berührungen zu mögen, denn er vergrub seufzend sein Gesicht in ihren Haaren und zog sie noch ein wenig enger an sich. Gemeinsam standen sie lange und sahen dabei zu, wie die letzten Sonnenstrahlen den Himmel einem Meer aus Sternen überließen.
Viel später war es die Kälte, die auch unter die dicksten Gewänder kroch, die sie aus ihrer Zweisamkeit weckte und beide frösteln ließ. "Der Winter kommt nun mit Macht", murmelte Thorstein. "Lass uns hineingehen und nach dem Feuer sehen. Für heute Nacht wünsche ich mir ein warmes Lager."
Vielleicht hatte Thorstein seine Worte mit Bedacht gewählt, vielleicht war ihm der Hintersinn auch entgangen. Nicht übersehen konnte er jedoch, wie sich Rúna bei seinen Worten versteifte. Der Steuermann fluchte innerlich über seine Dummheit. Wie konnte er hier und jetzt auch nur andeuten, dass er sie gern besteigen wollte?
Nicht, dass es nicht so war - der Drang, Rúna nahe zu sein, brannte inzwischen heftig in seinen Gedanken und häufiger als ihm recht war auch in seinen Lenden. Doch er war nicht so einfältig zu glauben, dass er jene schreckliche Nacht für sie einfach unvergessen machen konnte. Er hatte sich doch vorgenommen, sie nicht zu drängen und abzuwarten …
Seufzend folgte er seiner schmalen Frau, die sich wortlos von ihm abgewandt hatte und gerade die Tür passierte. Hatte er mit diesen unbedachten Worten den Zauber des Abends gerade zerstört?
Thorstein trat ebenfalls ein und setzte sich erschöpft auf sein Lager. Rúna machte sich am Feuer zu schaffen und wandte ihm den Rücken zu. Er musste mit ihr reden! Nichts sollte an einem Tag wie diesem zwischen ihnen stehen. Sie sollte wissen, dass er ihr keine Vorwürfe machen würde und sich gedulden …
Doch Rúna war viel stärker als ihr Gefährte dachte. Hatten sie Thorsteins Worte zunächst verwirrt und ihr auch Angst gemacht, so war ihr doch schnell klar, dass ihr Gefährte von etwas ganz anderem sprach als von dem, was sie mit Ragnar erlebt hatte. Sie hatte schon einmal das Lager mit Thorstein geteilt und obwohl der Mann sich damals geradezu ausgehungert über sie hergemacht hatte, war er immer sanft geblieben und hatte ihr nicht weh getan. Ja, er hatte sie sogar nach ihren Wünschen gefragt, obwohl sie zu jener Zeit nicht mehr als eine Sklavin für ihn gewesen war. Er würde ihr auch heute nicht wehtun, sie ganz sicher nicht demütigen.
Und Rúna wollte mit Thorstein leben, mehr als irgendetwas anderes. Sie wollte ihm nahe sein, seine Zuneigung genießen und ihm ein wenig von dem zurückgeben, was er ihr bisher geschenkt hatte. Sie musste sich nur überwinden …
Die junge Frau wusste, dass es nun an ihr lag, wie der Tag enden würde. Zwingen würde ihr Gefährte sie nicht. Doch wenn sie ihm jetzt nicht entgegenkam, würde eine Mauer zwischen ihnen stehen, die schnell höher werden konnte. Und das wollte sie ganz und gar nicht. Mit einem Blick versicherte sie sich, dass Solvig in den Armen von Lathgerthas Magd tief schlief. Auch die ältere Frau hatte sich abgewandt und ruhte ebenfalls. Niemand würde sie anstarren, wenn sie nun zu Thorstein ging …
Bedächtig zog Rúna ihren neuen Umhang von den Schultern und legte den Pelz über einen Hocker. Dann wandte sie sich Thorstein zu, der mit gesenktem Kopf auf ihrem Lager saß. Entschlossen trat sie ein wenig näher.
"Du hast recht!", stimme sie dem überrascht aufblickenden Mann zu. "Wir sollten es warm haben, heute Nacht."
Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie die Bänder ihres Mieders löste und bald darauf auch den langen Rock zu Boden sinken ließ. Nur noch im Unterkleid, überwand sie dann den letzten Abstand zu ihrem Krieger und begann, das Band der Skjorta zu lösen, die er unter der offenen Kyrtel trug. Die große Rechte des Mannes fing ihre tastenden Finger jedoch schnell ein. "Du musst das nicht tun, Rúna", flüsterte Thorstein überwältigt. "Du brauchst nicht … Du sollst dich nicht zwingen …" Er wusste nicht, wie er es am besten sagen sollte. "Ich will dir nicht wehtun!"
Zu seiner großen Verwunderung erschien ein liebevolles Lächeln im Gesicht seiner Gefährtin. "Ich weiß, Thorstein", flüsterte sie. "Doch ich weiß auch, wer du bist und was du für mich bedeutest. Das was zwischen uns ist …" Sie schluckte schwer und atmete tief durch. "Das zwischen uns hat nichts gemein mit jener Nacht …" Rúna ergriff beide Hände ihres Gefährten und legte sie entschlossen auf ihre Hüften. "Ich werde nicht zulassen, dass das, was … dieser Mann getan hat, zwischen uns tritt."
Mit einem Ruck schob sie Thorstein die Kyrtel von den Schultern und begann, seine Schultern durch die Skjorta hindurch zu streicheln. Und obwohl es sie ein wenig überraschte, fiel es ihr nicht einmal schwer, seinen Wünschen nachzukommen, als er sie vorsichtig auf seinen Schoß zog.