Aus der Ferne beobachtete Abraxas Hermine. Es kam selten vor, dass er während Alchemie genug Zeit hatte, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren, obwohl er es nur als Nebenfach gewählt hatte. Zu anspruchsvoll waren die Theorien, die hinter den alchemistischen Ansprüchen steckten. Doch heute war eine jener wenigen Stunden, in denen sie bloß einen Abschnitt aus ihrem Lehrbuch lesen und für die privaten Notizen zusammenfassen sollten. Ehe er sich versah, war sein Blick zu Hermine gewandert.
Sie saß in Alchemie wie auch in vielen anderen Fächern weit vorne und, aufgrund der unüblichen Aufteilung des Klassenraums, direkt neben den Gryffindor-Schülern, mit denen sie das Fach gemeinsam hatten. Sie hatte sich gut mit ihrem Sitznachbarn, Ignatius Prewett, verstanden. Hermine hatte erzählt, dass sie erst nur stumm nebeneinander gesessen hatten, doch nachdem Prewett ihr einmal Notizen aus Geschichte nachgetragen hatte, hatten sie zumindest höfliches Interesse aneinander gezeigt.
Jedenfalls bis vor kurzem.
Seit wenigen Wochen herrschte ein so eisiges Schweigen zwischen den beiden, dass Abraxas es beinahe mit den Händen greifen konnte. Eigentlich so ziemlich genau seit jenem Tag, an dem er Hermine in einem Streit mit dem Gryffindor vorgefunden hatte. Auch jetzt, da die beiden konzentriert arbeitend nebeneinander saßen, konnte er deutlich die Anspannung in ihnen sehen. Irgendetwas war vorgefallen.
Abraxas schaute zu Tom, der in der ersten Reihe einige Plätze von Hermine entfernt saß. Hatte die plötzliche Kälte von Prewett damit zu tun, dass Hermine mit Tom zusammen war? Es war schließlich kein Geheimnis, dass die Gryffindor-Schüler Tom hassten. Er war zu perfekt, zu vorbildlich, als dass er in ihr Bild der niederträchtigen Schlangen passen würde. Hatte gar Prewett auch mehr als freundschaftliches Interesse an Hermine gehabt und sie, in seiner Eitelkeit verletzt, beleidigt?
Kurzentschlossen nahm er sich vor, Hermine nach der Stunde über die Ländereien zu Pflege magischer Geschöpfe zu begleiten. Wenn ihr ein anderer Schüler, und sei es nur einer aus Gryffindor, Kummer bereitete, wollte er für sie da sein.
oOoOoOo
„Du weißt nichts über sie!“, zischte Markus wütend.
„Sie ist eine kaltblütige Schlange, wie alle anderen in Slytherin!“, gab Ignatius aufgebracht zurück: „Sie sitzt neben mir, als könnte sie kein Wässerlein trüben! Und überhaupt. Warum verteidigst du sie ständig? Sie hat mit Riddle zusammen irgendetwas angestellt, was Augusta verletzt hat. Gerade du solltest ein bisschen mehr Wut zeigen.“
Mit einem Seitenblick auf den Malfoy-Spross, der gerade hinter ihnen aus dem Klassenzimmer kam, senkte Markus seine Stimme: „Du weißt ebenso wenig wie ich, wie die Beziehung zwischen Miss Dumbledore und Riddle wirklich aussieht. Nach außen geben sie sich ja als das perfekte Paar, aber ich bin mir immer noch sicher, dass sie ihn hasst und fürchtet.“
Zu seinem Bestürzen hatte Ignatius den Slytherin-Schüler offensichtlich nicht bemerkt, denn er bemühte sich nicht darum, leise zu sein: „Oh, ich bitte dich. Sie klebt doch förmlich an ihm! Wie kannst du so locker reden? Nach allem, was Augusta durchmachen musste? Siehst du nicht, wie sie leidet? Wie sie sich verändert hat? Und wir wissen nicht einmal, was geschehen ist!“
Eiskalte Wut kroch in Markus hoch. Er wusste genau, was Augusta zugestoßen ist, und er wusste ebenso, dass Tom Riddle tatsächlich ein Monster war. Doch genauso spürte er, dass Miss Dumbledore ehrlich gewesen war, als sie unter Tränen zu ihm gekommen war, damit er Augusta retten konnte. Ja, Augusta hatte sich verändert. Sie war nicht länger das lebenslustige, naive Mädchen, das er kennengelernt hatte. Stattdessen war sie eine scharfzüngige, sarkastische junge Dame geworden, die sich selten hinter die Maske blicken ließ. Natürlich bedauerte er das, aber sie war immer noch Augusta. Ihm gegenüber war sie offen, ihm gegenüber konnte sie ihr Leid zeigen. Und er würde für immer für sie da sein. Er musste sie nicht ständig an ihr Leid erinnern, indem er über Tom Riddle oder jenen verfluchten Tag im Drei Besen sprach. Ignatius machte alles nur schlimmer, ohne auch nur einen Hauch von Ahnung zu haben.
„Ich wollte dich mit dem Wissen nicht belasten, Ignatius, aber da du offenbar nicht in der Lage bist, das Thema fallen zu lassen, muss ich es wohl doch tun“, flüsterte er zornig: „Ich weiß, was geschehen ist. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Und ich weiß Bescheid darüber, inwiefern Hermine Dumbledore in die Sache verstrickt ist. Sie ist kein williger Täter. Sie ist ebenso Opfer wie Augusta. Ich habe ihr geschworen, keine Details zu verraten, und das werde ich auch nicht tun. Aber bitte begreife endlich, dass manche Dinge nicht so sind, wie sie an der Oberfläche scheinen.“
Abraxas hatte genug gehört. Eigentlich hatte er Hermine begleiten wollen, aber sie war so schnell weggewesen ohne irgendjemanden zu beachten, dass er den Plan aufgegeben hatte. Und nun das.
Worüber hatten die beiden Gryffindors da gesprochen? Worin war Hermine verwickelt? Von dem, was er aus dem Gespräch verstanden hatte, hatte Tom irgendetwas mit einer gewissen Augusta angestellt – er vermutete, es war die junge Miss Bargeworthy gemeint – und offenbar war Hermine daran beteiligt gewesen? Der andere Gryffindor hatte sie auch als Opfer dargestellt. Als Opfer von Tom?
Mit schnellen Schritten lief er die Flure entlang zum Gemeinschaftsraum. Die Welt war plötzlich so schwierig geworden. Seit Hermine Dumbledore nach Hogwarts gekommen war, zweifelte er an allem, vor allem an sich selbst. Und sie war dabei nicht einmal der wirkliche Auslöser. Eigentlich war es Tom. Tom und die Seiten, die sie in ihm hervorbrachte.
Der Gemeinschaftsraum war leer, als Abraxas ankam, abgesehen von Rufus, der mit einem Buch auf dem Sofa vor dem Kaminfeuer saß. Er schaute auf und klappte es zu, als er Abraxas mit finsterer Miene hereinkommen sah.
„Ich sehe, du bist guter Stimmung, mein Freund“, begrüßte er Abraxas fröhlich.
Der rollte nur mit den Augen: „Rufus, du solltest dir manchen Kommentar sparen. Es könnte dich eines Tages den Hals kosten.“
Trotzdem setzte Abraxas sich zu ihm auf das Sofa. Er hatte seine alte Freundschaft mit Rufus wieder aufgenommen, und auch, wenn der jüngste Lestrange manchmal zu weit ging, so war er doch dankbar, einen intelligenten Gefährten zu haben, der ihm half, Tom besser zu verstehen. Seufzend schloss er die Augen und legte den Kopf zurück.
„Hast du auch manchmal das Gefühl, dass Tom sich verändert hat, seit Hermine zu uns gekommen ist?“
Rufus schnaubte: „Weltbewegende Feststellung, mein Lieber. Darüber haben wir doch oft genug gesprochen.“
Abraxas wandte den Kopf um und schaute zu seinem Freund: „Gewiss. Aber hast du einmal wirklich darüber nachgedacht? Was an ihr ist es, dass ihn verändert hat?“
Skeptisch hob Rufus eine Augenbraue: „Das fragst du mich jetzt nicht wirklich, oder?“
Er zuckte nur mit den Schultern. Ungläubig starrte Rufus ihn an: „Soll ich es wirklich in so deutliche Worte fassen? Bitte, aber beschwere dich nicht. Tom denkt mit dem falschen Körperteil, seit Miss Dumbledore da ist.“
Abraxas errötete: „Es mag ja sein, dass Tom sich verliebt hat, aber …“
Doch sofort wurde er unterbrochen: „Ich bitte dich. Verliebt? Tom? Sei nicht so naiv. Er schläft mit deiner heiligen Miss Dumbledore und verliert darüber seinen Verstand.“
Die Röte in seinem Gesicht vertiefte sich: „Du … glaubst du wirklich, dass Tom und Hermine … ich kann mir das nicht vorstellen. Hermine ist vielleicht ein wenig anders als wir. Aber so … sie ist trotzdem ein anständiges Mädchen.“
Unwillkürlich brach Rufus in schallendes Gelächter aus: „Abraxas, leidest du an Gedächtnisverlust? Du hast mir doch erzählt, was Tom vor deinen Augen mit ihr getan hat! Und danach glaubst du, dass nicht noch mehr zwischen ihnen läuft, wenn die Türen verschlossen sind? Ich bitte dich!“
Seine Gedanken zogen ein Bild aus seiner Erinnerung hervor. Hermine, kurz bevor sie den Cruciatus gesprochen hatte. Hermine, in den Armen von Tom, der unaussprechliche Dinge mit ihr anstellte. Abraxas hatte es damals dem Rausch der magischen Macht zugeschrieben, dass sie zugelassen hatte, so berührt zu werden. Was, wenn diese Art der Intimität in Wirklichkeit normal zwischen ihnen war? Bevor er sich selbst daran hindern konnte, sprang ein weiteres Bild von Hermine, vollkommen nackt, auf ihrem Bett, die Haare wirr um ihren Kopf herum, in seinen Geist. Gequält stöhnte Abraxas auf. Es reichte schon, dass er Hermine mehr als freundschaftliches Interesse entgegen brachte. Jetzt auch noch auf diese Weise über sie nachzudenken, würde kein gutes Ende nehmen.
„Es stört dich, dass Tom das Mädchen zuerst bekommen hat, mh?“, hakte Rufus ungeniert nach.
Grimmig starrte Abraxas an die Decke des Gemeinschaftsraums: „Du wirst mich nicht dazu bekommen, schlecht über Tom zu sprechen. Und erst recht werde ich solche Dinge nicht über eine Dame äußern.“
Rufus grinste schief: „Du bist wirklich ein Malfoy der alten Schule. So höflich, so anständig. So langweilig.“
Wütend setzte Abraxas sich auf: „Willst du mich provozieren? Es tut mir leid, dass ich mich nicht über das intime Privatleben anderer Menschen unterhalten will. So wurde ich erzogen. Es ist nicht recht, sich über solche Dinge zu unterhalten.“
Sein Gegenüber hörte nicht auf zu grinsen: „Die feine Gesellschaft tut aber nichts anderes, als sich über diese Dinge, wie du es nennst, zu unterhalten. Natürlich tut man das nicht öffentlich, aber hinter vorgehaltener Hand geschieht es ständig. Wenn du unsere Mitschülerinnen kichernd tuscheln siehst, kannst du dir sicher sein, dass sie über das Liebesleben dieses oder jenes Mannes reden.“
Genervt fuhr Abraxas sich durch sein langes, blondes Haar: „Behandle mich nicht wie einen Frischling. Ich bin mir dieser Dinge sehr wohl bewusst. Ich kann sie dennoch verachten und äußern, dass es nicht richtig ist.“
Rufus wurde ernst: „Du hast ja recht. Ich will dich eigentlich auch nur davor warnen, in Eifersucht gegen Tom zu verfallen. Das wäre nicht gesund.“
Beschwichtigt lehnte Abraxas sich wieder zurück. Es war manchmal schwierig, mit der überheblichen Art von Rufus zurecht zu kommen. Er neigte einfach dazu, seinen überlegenen Intellekt zur Schau zu stellen. Langsam erklärte er: „Es ist mir unmöglich, eifersüchtig auf Tom zu sein. Er ist in jeder Hinsicht die beste Wahl, die eine Frau treffen kann. Aber ich habe das Gefühl, dass Hermine manchmal Seiten an ihm zum Vorschein bringt, die wir nicht kennen. Und nach so vielen Jahren der Freundschaft ist das doch überraschend.“
Stumm nickte Rufus. Es war offensichtlich, dass er viel zu diesem Thema zu sagen hatte, doch Abraxas wurde das Gefühl nicht los, dass er ihm gegenüber nicht offen sein sollte. Schließlich erwiderte Rufus zögerlich: „Das Verhältnis eines Mannes zu einem anderen Mann ist immer anders als zu einer Frau. Natürlich kann Miss Dumbledore ihn auf ganz andere Weise reizen. Zusätzlich scheint Tom aus irgendeinem Grund überzeugt, dass sie überragend in Intelligenz und magischem Talent ist.“
„Aus irgendeinem Grund?“, empörte sich Abraxas: „Hast du nicht gesehen, wie sie sich mit ihm duelliert hat?“
Uninteressiert zuckte Rufus mit den Achseln: „Sie hat beide Male verloren. Wer weiß, ob Tom sich zurückgehalten hat, weil sie eine Dame ist. Ich habe jedenfalls noch nichts gesehen, was mich beeindrucken würde. Mich überzeugt sie erst, wenn sie mir beweist, dass sie sich nicht scheut, sich die Hände auch einmal schmutzig zu machen.“
Abraxas erbleichte. Natürlich, genau deswegen hatte Tom sie doch den Cruciatus sprechen lassen. Das war doch das klassische Aufnahmeritual. Wieso hatte er nicht verstanden, dass das auch bedeutete, dass sie früher oder später dem Kreis vorgestellt wurde? Tom hatte auf ihren Treffen immer wieder betont, dass er von seinen Anhängern erwartete, dass sie sich für ihn auch die Hände schmutzig machen würden. Sie war ein Mädchen, deswegen war ihm selbst diese Idee nie gekommen, doch eigentlich war es naheliegend. Er war mit ihr zusammen, weil sie ihn beeindruckt hatte. Und sie hatte ihm bereits bewiesen, am eigenen Körper hatte er gespürt, dass sie einen Cruciatus sprechen konnte.
Angespannt erwiderte er: „Unterschätze sie nicht. Sie ist nicht umsonst in Slytherin. Außerdem habe ich dir doch von dem Cruciatus erzählt. Ist das nicht Beweis genug?“
Langsam wiegte Rufus den Kopf: „Ja, vielleicht. Das passt tatsächlich nicht in das restliche Bild, das ich von ihr habe. Eigentlich passt nichts von dem, was du über sie erzählst zu dem Bild, das sie aufgebaut hat.“
Die Tür zum Gemeinschaftsraum öffnete sich und hindurch trat kein anderer als Tom Riddle. Abraxas erstarrte augenblicklich. Zwar hatte er nicht schlecht über Tom geredet, doch ihre Freundschaft hatte zuletzt häufiger brüchig gewirkt, und so wollte er unter allen Umständen vermeiden, verdächtig zu wirken. Er zwang sich zu einem unverbindlichen Lächeln, während Rufus vollkommen entspannt eine Hand zum Gruß erhob.
„Na, was machen meine beiden Lieblingskameraden hier alleine?“, fragte Tom, nachdem er sich im Sessel neben ihnen niedergelassen hatte: „Plant ihr geheime Dinge gegen mich?“
„In der Tat“, bestätigte Rufus gelassen: „Wir fragten uns gerade, wann du Miss Dumbledore zu einem unserer Treffen mitbringst. Ich würde zu gerne sehen, was du an ihr findest.“
Abraxas wurde kreidebleich. Hatte Rufus vergessen, wie wenig es Tom gefiel, wenn man ihn so direkt herausforderte? Hatte er das nicht sogar am eigenen Leib gespürt? Mit angehaltenem Atem schaute er zu Tom.
Der jedoch gab sich äußerlich unbeeindruckt: „Interessante Frage, mein Guter. Tatsächlich hatte ich vor, diesen Samstag wieder alle zusammen zu rufen. Wollen wir sie da der Runde vorstellen?“
Abraxas verschluckte sich an seiner eigenen Spucke. Also war der Cruciatus wirklich ein Aufnahmeritual gewesen: „Du willst sie wirklich einweihen?“
Ein merkwürdiges Lächeln umspielte Toms Mundwinkel: „Einweihen ist vielleicht nicht das richtige Wort. Aber mehr werde ich für den Moment dazu nicht sagen. Ihr werdet es verstehen, wenn wir uns Samstag treffen.“
Ein Schauer rann Abraxas den Rücken hinab. Er erinnerte sich an den Cruciatus, den Hermine gesprochen hatte. Er erinnerte sich an das gerade erst belauschte Gespräch zwischen den beiden Gryffindor-Schülern. Er erinnerte sich an die Gerüchte, dass Tom immer öfter abends stundenlang in Hermines Zimmer war. Wusste sie eventuell schon Bescheid? Wie tief steckte sie bereits in dieser ganzen Sache drin? Hatte er sich so in ihr getäuscht? War sie wirklich nur nach außen hin unschuldig und verletzlich, in Wirklichkeit hintertrieben und verschlagen, wie Tom es war?
Aus den Augenwinkel sah er, dass auch Rufus Miene sich versteinert hatte. Damit hatte der arrogante Lestrange offensichtlich nicht gerechnet. Dennoch war Abraxas sich sicher, dass Hermine sich erneut würde beweisen müssen, um akzeptiert zu werden von ihm. Er betete zu Merlin, dass sie Samstag alle unbeschadet überstehen würden.