Teil II - Winterherz
Glacia wurde als Baby vor die Tür der Holzfällerhütte gelegt. Als junges Mädchen verirrt sie sich im Wald. Doch statt zu erfrieren, überlebt sie. Und sie kehrt mit einer unheimlichen Gabe zurück.
1. Dezember
Ich kann mein Glück kaum fassen, als ich den Brief in den Händen halte. Mein Herz schlägt höher. Das Blut schießt mir in den Kopf.
„Hallo Glacia.
Ich muss dir etwas Wichtiges sagen. Bitte komm heute Abend um 6 zum Schwanenteich.
Dein,
Shiriki.“
Ich lese die Zeilen wieder und wieder. Shiriki will sich mit mir treffen! Und zwar – ich werfe einen Blick auf die alte Kuckucksuhr – in einer halben Stunde! Mir wird fast schwindelig vor Glück.
Halt!, bremse ich mich selbst. Vielleicht mache ich mir noch zu früh Hoffnungen. Vielleicht hat er nur etwas Ungewöhnliches bemerkt und will mich warnen. Oder – viel schlimmer – vielleicht hat er sich in ein anderes Mädchen verliebt und will jetzt meinen Rat!
Ich balle die Hand zur Faust. Nein, das wird schon nicht geschehen sein! So grausam ist nicht einmal mein Schicksal. Ich springe von dem alten Holzstuhl auf und laufe zum Schrank, um meinen Wintermantel heraus zu nehmen.
Draußen muss es eisig kalt sein. Ich stecke den Brief in die Brusttasche des Holzfällerhemdes, nah bei meinem Herzen.
Draußen ist es kalt. Die Prärie liegt verlassen unter einem weißen Himmel. In dem Wald, an den sich die wenigen Hütten ducken, sind die Äste schwarz und leer.
Es wird bereits dunkel. Der Winter hat seine Kälte vorausgeschickt. Mein Atem steigt als kleine Wolke auf.
Ich setze mir die Kapuze auf und lasse die Ärmel des braunen Mantels über meine Hände rutschen. Dann gehe ich mit schnellen Schritten in den Wald.
Irgendwo dort wartet Shiriki auf mich. Mein Herz schlägt schneller. Ich wage kaum, mir auszudenken, was er mir sagen wird. Ich bete, dass es die Worte sind, die ich hören will. Und ich habe unaussprechliche Angst, dass sie es nicht sein werden – dass er mich enttäuscht. Ich will mir noch keine Hoffnungen machen, denn die Enttäuschung würde ich nicht überleben.
Ich werfe einen Blick auf den Himmel – eine Uhr habe ich nicht. Hoffentlich komme ich nicht zu spät!
Ich gehe schneller und beginne schließlich zu laufen. Der Schwanenteich liegt tief im Wald, aber ich kenne den gewundenen Weg von Kindesbeinen an.
Was Shiriki wohl tun wird? Wird er sich die Haare zurück streichen, wie immer, wenn er nervös ist? Wird er cool tun und mit seinem Tomahawk angeben? Oder schief lächeln, weil es ihm ein wenig peinlich ist? Mist, ich mache mir ja doch Hoffnungen.
Atemlos komme ich am Teich an. Es ist schon fast ein See, mit kaltem, klarem Wasser. Schilf steht am Rand, weiß und steif von der Kälte. Ein paar zarte Schneeflocken trudelnd durch die Luft über dem Wasser, das im Licht des zunehmenden Mondes leuchtet.
Trauerweiden und hohe Tannen stehen am Ufer. In ihren Schatten ist es dunkel. Ich suche die Umgebung nach der schlanken Gestalt von Shiriki ab.
Er steht unter einer der größeren Trauerweiden und winkt mir. Ich gehe zu ihm, langsamer diesmal. Plötzlich habe ich furchtbare Angst davor, enttäuscht zu werden. In meinem Magen krampft sich alles zusammen. Ich bleibe zwei Meter von Shiriki entfernt stehen, damit er nicht bemerkt, wie sehr ich zitterte.
Er ist 16. Seit ein paar Wochen lässt er seinen Bart wachsen, kaum mehr als ein paar Stoppeln. Er hat die rote Haut und die strengen Gesichtszüge seiner Familie – sie sind Indianer. Seine Haare trägt er jedoch nicht im Zopf, sondern kurz wie die Menschen in der Stadt.
Er sieht auf den Boden zu seinen Füßen, wo sich der erste Frost zeigt.
„Hallo Glacia“, begrüßt er mich. Er beißt sich auf die Unterlippe.
„Hallo“, sage ich und versuche, meine Stimme ganz normal klingen zu lassen. „Was gibt’s denn so Wichtiges?“ Ich hasse mich selber für den blöden Spruch. Ich wollte locker wirken, aber meine Stimme ist viel zu hoch.
„Ich – ich muss dir etwas sagen.“ Shiriki zögert. Mein Herz bleibt beinahe stehen.
Er holt tief Luft: „Ich liebe dich.“