2. Dezember
Ich träume.
Ich schwebe durch die weiße Luft. Unter mir liegt das Land in der festen Hand des Winters. Wölfe heulen. Ein bleicher Mond beleuchtet die Landschaft, die wild und unberührt ist.
Der Wind pfeift. Ich schwebe mitten in den weißen Wolken voller Schnee. Aber ich friere nicht.
Der Schnee ist um mich. Er hüllt mich ein wie ein Mantel. Es ist warm.
Langsam bewege ich meine Finger, sehe Eiskristalle auf ihnen glitzern. Sie schmelzen nicht auf meiner Haut. Ich atme die Kälte ein.
Eine Stimme flüstert in meinem Kopf. Ich verstehe die Worte nicht, es ist eine Sprache, die ich nicht kenne. Sie klingt nach dem Knirschen von Schnee und dem Knacken von Eis. Und nach dem traurigen Heulen des Windes.
Aber ich weiß, was die Stimme mir sagt: Ich erhalte ein Geschenk. Große Macht. Und zwei Wege, zwischen denen ich wählen muss. Ich sinke zu Boden, in einen Wald, den der Winter bereits leer gefegt hat.
Ich öffne die Augen.
Ich liege noch immer am Bach. Doch jetzt ist der Waldboden schneebedeckt. Ich stehe langsam auf und schüttele den Schnee von meinem Schultern.
Ich friere nicht. Meine Fingernägel sind blau, meine Haut weiß und marmoriert. Doch ich friere nicht.
Langsam strecke ich die Arme. Es ist wie in meinem Traum. Schnee liegt auf meiner Haut, ohne zu schmelzen. Wind weht um mich herum wie ein guter Freund. Ich bestaune meine Arme.
Ich habe keine Angst. Konzentriert sehe ich auf meine Hände und spüre, wie Energie durch meinen Körper pulsiert. Der Schnee wird dicker. Weiße Flocken fliegen von meinen Fingerspitzen. Der Schnee um mich fällt stärker, bis ich in einem Schneesturm stehe.
Ich spüre noch immer keine Kälte. Aber je länger ich warte, desto müder werde ich.
Ich merke, dass meine neue Kraft mich erschöpft, als würde ich rennen. Ich höre auf, mich auf den Schnee zu konzentrieren und schließe die Fäuste.
Es hört auf zu schneien. Nur wenige Flocken trudeln auf den Boden, der normale Schnee.
Ich sehe auf den kleinen Bach und wandere an ihm entlang, geleitet von seinem Plätschern. Der Schnee ist bestimmt zwanzig Zentimeter dick. Doch als ich mich umdrehe, habe ich keine Fußspuren hinterlassen.
Ich wandere den ganzen Tag. Als die Sonne sinkt und es kalt und dunkel wird, fühle ich mich stärker. Die Dunkelheit macht mich wach.
Ich finde die Hütten der Holzfäller. Ich spüre ihre Wärme, sie stößt mich ab und ruft mich doch. Ich bin noch nicht stark genug für meine Macht.
Über 24 Stunden ist es her, dass ich gegangen bin. Mir kommt es sehr viel länger vor.
Ich bleibe am Rand des Waldes stehen und streiche den Schnee von meinen Armen. Ich sehe zurück, dann folge ich einem plötzlichen Impuls und verneige mich zum dunklen Wald gewandt.
Was auch immer mir zuteil wurde, es kann nur ein Wunder sein. Eine unsichtbare Macht hat mich gerettet und mir zudem die Herrschaft über das Eis geschenkt.
Ich trete in den schwachen Lichtschein, der aus den Fenstern fällt. Ich fühle mich verändert. Nicht nur, dass ich nicht friere. Ich habe auch das Gefühl, älter geworden zu sein. Anders. Ich bin … weniger jung und dumm.
Ich gehe langsam zu der größten Hütte, wo ich gemeinsam mit Shirikis großer Familie lebe. Das Licht brennt noch. Anscheinend machen sie sich wirklich Sorgen um mich.
Ich werde mir Shiriki noch vorknöpfen. Er muss aus seinem Fehler lernen, mehr noch, als er bisher gelernt hat. So leicht belügt man mich nicht!
Mein Magen knurrt. Ich habe Hunger und ich bin müde. Mit einem Seufzen hebe ich die Hand und klopfe an die kalte Holztür.