14. Dezember
Anoki rennt schnell, von Angst getrieben. Ich folge ihm mühelos. Anoki schreit laut um Hilfe. Wer soll schon kommen? Denn er rennt tiefer in den Wald hinein.
Und der Tod ist dicht auf seinen Fersen.
Schließlich stolpert Anoki und bleibt im Schnee liegen. Ich könnte ihn fesseln, doch ich lasse es. Er rappelt sich auf und kriecht rückwärts, bis er gegen einen Baum stößt.
„Zeig dich!“, brüllt er, mit den Nerven am Ende. Ich löse mich aus dem Eisnebel, der mich vor allen Blicken verbergen kann.
„Du! Ich wusste es!“, flucht Anoki und zeigt mit dem zitternden Finger auf mich.
Ich lächele, ein dünnes, gemeines Lächeln.
Dann spüre ich plötzlich etwas in dem Wald. Wärme, die nicht von Anoki ausgeht. Jemand ist hier, mit uns!
Ich lasse alle Pläne fallen und wirbele herum. Da kommt ein Mann aus dem Schatten unter den Tannen. Er trägt einen schwarzen Wintermantel. Seine Haare sind lang und schwarz und zu zwei Zöpfen geflochten. Er ist ebenfalls ein Indianer, aber er sieht fast aus, als kommt er direkt aus der Vergangenheit, abgesehen von seiner Kleidung. Keine moderne Frisur, nicht einmal ein junge Blick, obwohl er noch sehr jung sein muss.
Er sieht mir direkt in die Augen: „Hör auf.“
Ich schnaube: „Niemals!“
Dann begrabe ich Anoki unter allem Schnee, der sich in der Tanne über ihm angesammelt hatte. Der Junge gibt einen gedämpften Schrei von sich, dann verstummt er.
Für immer, wie ich hoffe. Ich wende mich ganz dem Neuankömmling zu: „Wer bist du?“
„Ich bin Mingan. Ich habe deine Macht gespürt.“
Mingan tritt näher. Er geht langsam, aber furchtlos. So, wie ich mich Shiriki genähert hatte, als ich ihn beruhigen wollte. Mingan hat pechschwarze Augen. Er ist größer als ich, mindestens zwei Köpfe. Das macht ihn einen Kopf größer als normale Leute.
Seine Haut ist ein wenig heller als die der Holzfäller. Wenn ich es genau bedenke, wirkt er fast blass.
Er ist müde.
Mingan macht eine halbherzige Verbeugung: „Du musst Glacia sein. Die Eiskönigin.“
Ich antworte nicht. Was will Mingan von mir?
Er sieht mich an: „Als ich von den Toten hörte, habe ich mit den Holzfällern gesprochen. Sie haben mich um Hilfe gebeten. Ich habe zugesagt. Ich will ihnen helfen. Und dir auch.“
Ich habe die Kälte in mir. Ich bin stark. Ich könnte ihn auf der Stelle töten.
Doch das weiß er und trotzdem geht er nicht. Er ist furchtlos.
„Wieso sollte ich Hilfe brauchen?“, frage ich.
Mingan zieht etwas aus seiner Tasche. Es sieht aus wie ein Handy. Es ist ein Handy. Ich sehe verständnislos darauf.
„Ich habe eine SMS vorbereitet“, erklärt Mingan. „Darin steht die Wahrheit über dich – und über deine Schwächen. Wenn ich auf Senden drücke, wird die Polizei sie erhalten. Das ganze Land wird dich jagen.“
Ich sehe ihn an. Blufft er? Nein, er sagt die Wahrheit. Ich weiß nicht wie, ich sehe es in seinem Blick.
„Was soll ich tun?“, frage ich lauernd.
„Greif mich nicht an, das reicht für den Moment“, sagt Mingan: „Und hör mir zu.“
Er setzt sich im Schneidersitz mitten in den Schnee. Ich zögere und komme ihm langsam näher. Aber er sieht mich offen und ehrlich an. Er lächelt sogar schwach.
Ich setze mich langsam neben ihn.
„Nun, Glacia – Eure eisige Majestät – lass mich dir eine Geschichte erzählen.“