19. Dezember
Ich ziehe mich hoch. Dann greife ich mit der freien Hand in die nächste Vertiefung im Stein. Und ziehe mich weiter hoch.
Meine Schultern scheinen zu reißen. Jeder Vorsprung ist glatt und vereist. Mein Herz schlägt schnell, aus Angst, dass ich abrutsche und falle.
Und Tränen blenden mich.
Matoskah ist tot. Sie haben ihn getötet und sein Blut färbt jetzt den Schnee tief unter mir. Ich spüre, wie seine Wärme vergeht.
Man hat mich noch nicht entdeckt. Das kann nur Matoskahs Magie sein – er war wohl wirklich der Hüter der schneebedeckten Gipfel und kannte alle ihre Geheimnisse.
Ich klettere weiter. Ich keuche vor Anstrengung. Ich habe Matoskah gemocht. Diese Freundschaft, so kurz sie auch war, schwächt mich jetzt.
Gefühle machen mich verwundbar. Und wenn wirklich das Ende kommt, dann darf ich nicht schwach sein. Um keinen Preis.
Jedes Stück nach oben bezahle ich mit heißem Schweiß. Es ist, als würde der Schweiß mein Eis auftauen.
Von was für einem Ende hat Matoskah geredet? Ein richtiges Ende? So, wie das Ende der Welt?
Oder hat er nur wirr geredet und ich mache mit einen Kopf um nichts?
Nein, er kannte mich. Er kannte meinen Namen, meine Fähigkeiten. Er wusste viel.
Ich wünsche mir, dass ich ihn besser verstanden hätte. Und dass wir nicht so plötzlich unterbrochen worden wären.
Fünf Elemente. Bisher dachte ich, es gäbe vier. Die Nacht soll bei mir sein. Im Moment ist es heller Tag.
Soyala. Die Wintersonnenwende.
Gedanken kreisen in meinem Kopf hin und her. Ich komme nicht zur Ruhe. Da ist so vieles, über das ich nachdenken muss.
Es ist so viel, dass ich keine Chance habe, es zu verstehen.
Die Sache mit der Gnade und dem Opfer lässt mich ebenfalls nicht in Ruhe. Matoskah hat sich geopfert – fordert er jetzt Gnade? Und in welcher Form? Für sich? Für mich? Oder für seine Mörder?
Wieso konnte er nicht einfach sagen, was Sache ist? Ein, zwei Sätze. Dann wäre ich klüger und er noch am Leben.
Verdammt, warum mag ich diesen Alten bloß so sehr? Warum lasse ich die Schwäche zu?
Die Antwort kommt plötzlich: Es war mein Großvater. Der Vater von Schnee und Eis und Winter. Und ich bin keine Waise mehr. Meine Familie ist das Eis.
Ich ziehe mich ein weiteres Stück nach oben. Dann sehe ich hoch. Der Gipfel ist so weit entfernt!
Ich darf nicht aufgeben, schon allein um Matoskahs Willen nicht.
Die Nacht wird mir helfen, wenn sie kommt. Dann wird Gnade für das Opfer kommen.
Verbissen ziehe ich mich hoch, Stück für Stück.
Soldaten, Polizisten, Verfolger sind unter mir. Sie sind bewaffnet und sie sind auf meiner Spur. Sie ahnen wohl, dass der eisige Gipfel mein Ziel ist.
Ich muss auf jeden Fall vor ihnen dort sein!
Meine Tränen fallen in die Tiefe, wo Fackeln dem Weg folgen. Ich weine um Matoskah. Aber ich darf nicht schwach sein. Ich muss kämpfen.
Für die Gerechtigkeit.