21. Dezember
Mingan sieht mich an. Auf seinen blassen Lippen steht ein dünnes Lächeln. Er ist so schön, wie ich ihn in Erinnerung habe.
„Du lebst“, sage ich fassungslos. „Das ist unmöglich.“
Er schwebt. Seine Füße verlassen den Boden, er lässt sich vom Wind tragen. Dann landet er vor mir.
Ich bin viel zu geschockt, um zu reagieren. Ich lasse zu, dass seine Hand meine Wange berührt. Seine Haare und Augen sind schwarz. Ich erinnere mich an die Wolfsspuren im Schnee, nach Shirikis Tod.
Mingan war immer bei mir. Der graue Wolf hat meine Seite nie verlassen.
Er ist die Nacht.
„Ja, ich bin die Dunkelheit“, sagt er. In seinen Augen steht Wärme. Er ist warm, aber nicht viel wärmer als Eis. Er kommt mir nur warm vor.
„Ich war immer bei dir. Auch, als du fliehen musstest.“
„Du hast mich verraten“, flüstere ich schwach und deute auf die Polizisten unter uns.
Er zieht sein Handy hervor und zeigt es mir. Es ist kaputt. Der Display gesprungen, der Akku lange fort.
„Es gab niemals eine SMS. Ich wusste nicht, dass die Holzfäller auf dich warten. Ich dachte, wir wären sicher.“
Ich schmelze dahin, aber etwas hält mich zurück: „Du hast mich manipuliert. Und du hast meine Kraft blockiert!“
Er schüttelt den Kopf und hält mein Gesicht in seinen Händen: „Ich bin die Nacht. Ich kann die Wahrheit sehen, aber ich kann sie nicht verändern. Dass deine Eismagie verschwunden ist, lag am Wasser.“
Ich schließe die Augen. Eine Träne läuft über meine Wange.
„Wir sind füreinander bestimmt. Wir sind zwei Teile einer Seele. Eis und Nacht.“
Ich nicke: „Ich weiß. Ich habe es schon immer gewusst.“
Mingan lächelt: „Soyala, ich habe dir Treue geschworen. Und ich werde es immer wieder tun. Du musst dich heute Nacht entscheiden. Egal, was du wählst, Untergang oder Rettung, ich werde an deiner Seite bleiben.“
„Gibt es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick?“, frage ich. „Ist es das?“
Mingan schüttelt den Kopf: „Es gibt nur das Gefühl, dass man zusammen gehört. Wahre Liebe muss wachsen, sie muss sich entwickeln. Aber ein einziger Blick kann den Samen sähen.“
„Im Eis kann nichts wachsen“, murmele ich.
Mingan nimmt meine Hand: „Alles, was wächst, benötigt Wasser, um zu leben.“
Ich fasse seine Hand. Ich fühle mich komplett. So, als hätte ich die ganze Zeit Schmerzen gehabt und nun sind sie endlich weg.
Ich sehe in diese schwarzen Augen und erkenne Sterne darin.
„Ich weiß, was ich wähle“, flüstere ich.
Mingan fragt: „Eis oder Wasser?“
„Weder noch“, sage ich. Ich würde in jedem Fall falsch wählen. „Beides.“
Und ich küsse ihn. Gefühle sind Wasser. Logik ist Eis. Meine Mutter ist die See. Mein Vater ist der Winter. Beides ist kein Widerspruch. Mit Mingan zusammen kann ich das Gleichgewicht halten.
Und meine Macht ist Gleichgewicht. Gleichgewicht ist Gerechtigkeit. Ich zeichne eine Waage auf Mingans Brust, während unsere Lippen wie zusammen gefroren sind.
Das Eis des Berges taut. Winzig kleine Bäche fließen nach unten. Die Soldaten werden vom Berg gespült, weit von uns weg, aber sie überleben.
Mingans Hände halten meine. Unsere Augen sind geschlossen.
Ich liebe ihn. Liebe ist keine Schwäche. Denn er ist so kalt, dass es schon fast wie Eis ist.
Wir sind zu gleichen Teilen warm und kalt. Und gemeinsam sind wir vollendet. Wasser und Eis.
Es gibt Opfer ohne Gnade. Aber keine Gnade ohne Opfer. Ich habe die Gnade gefunden, dank Matoskahs Opfer. Und weil ich die Gnade gefunden habe, war Matoskahs Opfer nicht umsonst.
Der alte Hüter hat die Welt gerettet, wenigstens zu einem Stück.
Ich löse mich von Mingan: „Wir müssen noch fünf andere Elementkinder finden“, sage ich.
„Ich weiß“, grinst er: „Deshalb habe ich dich gesucht.“
„Jetzt muss ich aber fragen: Wie alt bist du?“
Er schüttelt wie strafend den Kopf: „Das fragt man vor dem ersten Kuss, Schneekönigin. Ich bin 16.“
„Du siehst älter aus.“
„Das mit den Komplimenten musst du noch üben.“