19. Dezember
„Sie sind mein Großvater?“, vollkommen perplex lasse ich mich in die Hütte führen. „Sie sind doch verrückt!“ Doch eine leise Stimme in meinem Unterbewusstsein erinnert mich daran, dass ich eine Waise bin. Ich kenne meine richtigen Eltern und auch meinen Großvater nicht.
„Ich bin der Hüter der schneebedeckten Gipfel“, erklärt Matoskah, ohne mir irgendwas zu erklären. Er drückt mich in einen Stuhl und setzt sich in den anderen. Die Hütte ist ansonsten tatsächlich leer.
Wo wohnt dieser Mann? Wo schläft er?
„Der Hüter der Gipfel?“, wiederhole ich fragend.
Matoskah nickt: „Der Winter ist mein Kind. Und du bist das Kind des Winters – die Schneekönigin. Lange haben wir auf dich gewartet. Dein Erscheinen bedeutet Erlösung. Und Trauer.“
„Das verstehe ich nicht“, sage ich ehrlich. „Können – kannst du es mir erklären?“
Matoskah lächelt bitter: „Ich kann es erklären. Aber wenn du es beim ersten Mal nicht verstehst, dann auch nicht, wenn ich es in andere Worte kleide. Das hat ein weiser Mann einmal gesagt.“
Ich runzele die Stirn.
„Du kannst es vielleicht später verstehen“, fährt Matoskah fort. „Aber ich werde dir nichts versprechen.“
Ich bin so überrumpelt, dass ich meinen Tee trinke. Er schmeckt bitter und nach fremden Zutaten.
„Ich werde dir heute Vieles sagen. Einiges mag dich verwirren. Anderes mag dir helfen. Es ist nicht an uns beiden, das zu entscheiden.“
Matoskah lehnt sich in seinem Sessel zurück. Ich sehe ihn erwartungsvoll an.
„Glacia. Kleine Soyala. Der Winter hat dich gewählt. Ebenso haben alle anderen Jahreszeiten, alle anderen Elemente, ihre Kinder gewählt. Du bist das letzte Kind. Dein Leben bedeutet den Wendepunkt. Das alte Jahr stirbt. Ein neues beginnt. Und ein Krieg wird herauf ziehen.“
Ich puste in den Tee, dass die Dampfwolke in die Luft steigt. Ich schweige.
„Die Nacht wird an deiner Seite sein“, sagt Matoskah: „Doch sie kann deine Entscheidungen nicht lenken. Du musst selbst wählen. Ich weiß, dass du dich schon entschieden hast – für die Kälte. Überlege dir das gut, Soyala. Die Kälte ist tödlich für die Welt.“
Ich schweige weiterhin. Matoskah beugt sich vor: „Vertraue der Frau in dir, Soyala.“
„Was heißt `Soyala´?“, frage ich ruhig. Matoskah lächelt: „Ich dachte, du bist unter Indianern groß geworden?“
„Wir haben immer nur Englisch geredet“, verteidige ich mich.
Matoskah lächelt: „Soyala ist die Wintersonnenwende.“
Wir schweigen. Ich habe eine Gänsehaut auf meinen Armen, ohne dass mir kalt ist. Das alles ist so seltsam, als wäre ich plötzlich auf einem fremden Stern.
„Es gibt sieben von euch“, sagt Matoskah: „Sieben Kinder für fünf Mächte dieser Welt. Du musst die anderen finden, Soyala. Euer Kampf bestimmt das Schicksal dieser Welt.“
„Sieben Kinder von fünf Mächten?“, frage ich nach.
Matoskah nickt: „Zwei Elemente haben zwei Kinder gewählt. Es gab … Schwierigkeiten.“
„Was für Schwierigkeiten?“, hauche ich lautlos. Doch Matoskah schüttelt nur den Kopf. „Zu früh, Soyala. Viel zu früh. Ich kann es dir nicht sagen.“
„Die Elemente können also denken und handeln?“, frage ich stattdessen in dem Versuch, seinen rätselhaften Worten zu glauben.
„Nein. Sie wollen nur“, sagt Matoskah.
„Und was wollen sie?“, frage ich. Der Tee in meinen Händen wird kalt. Es ist mein Eis. Ich habe Angst.
„Sie wollen retten“, sagt Matoskah. „Sie wollen, dass ihr euch entscheidet. Für das Richtig. Jeder von euch muss wählen. Das, oder die Welt wird in Flammen, Eis und Nacht versinken. In Sturm und Beben untergehen.“
„Wie soll ich richtig entscheiden?“, frage ich. „Ich habe den kalten Weg gewählt.“
Matoskah sieht mich an: „Es ist nie zu spät, das Richtige zu tun. Nie zu spät für Reue und Tauwetter.“
Er sieht mir direkt in die Augen. Seine Augen sind blau wie Eis: „Hör mir jetzt genau zu.“