Unbekannter Tag
Ich öffne quälend langsam die Augen. Es herrscht goldenes Dämmerlicht in dem Raum, in dem ich mich befinde.
Stöhnend reibe ich mir die Stirn. Wo bin ich?
Ich kenne weder das Zimmer, noch kann ich mich erinnern, wie ich hier her gekommen bin. Meine letzte Erinnerung …
Er trifft mich wie einen Schlag. Der Angriff, die maskierten Männer, Natalies und Antons Tod.
Ich setze mich auf. Das Zimmer ist klein und heruntergekommen, aber wenigstens fällt Sonnenlicht durch die geschlossenen Vorhänge.
Wir müssen also hoch oben sein. Sonst stehen die hohen Wolkenkratzer so dicht, dass kaum ein Sonnenstrahl auf den Boden fällt.
Ich habe ein weiches Bett mit gelben und orangem Bettzeug. Auf dem Boden ist ein gelblicher Teppich – vielleicht wirkt er auch nur so im Sonnenlicht, das durch die goldenen Vorhänge fällt.
Es wirkt alles sehr schön, doch der Putz blättert von den Wänden, das Bett muss mit Bierdeckeln stabilisiert werden und an der gegenüberliegenden Wand stapeln sich fleckige Pappkartons.
Auch ein alter Spiegel hängt in dem Raum. Ich stehe auf und wundere mich im nächsten Moment, dass ich keine Schmerzen habe. Vorsichtig taste ich mich ab, besonders mein Bein und die Schulter, wo die Schussverletzungen waren.
Es sind nur alte, vernarbte Wunden geblieben. Ich drücke auf die Haut. Keine Schmerzen. Aber ich spüre die Kugeln noch unter der Haut. Entweder das, oder das Gewebe in meinem Fleisch ist ebenfalls vernarbt.
Wie lange war ich bewusstlos? Ich trete nervös an den Spiegel und sehe mir in die Augen.
Zuerst glaube ich, dass ich aus Versehen in ein Fenster gesehen habe. Ein fremder Junge blickt mir entgegen.
Er hat schwarze, glatte Haare statt brauner Locken, rötliche Haut und er sieht älter aus, als ich es bin.
Ich schlucke und berühre die Spiegelfläche. Das Junge tut es mir gleich.
Das bin ich. Ich sehe aus, als wäre ich 16 oder 17. War ich so lange bewusstlos?
Ich trage nur einen Schlafanzug in hellen Farben. Ich öffne die Tür zu meinem Zimmer und trete auf einen düsteren Flur hinaus. Mit einer Hand stütze ich mich gegen die Wand. Meine Beine zittern. Nun, vielleicht habe ich sie auch zwei Jahre lang nicht benutzt. Mir ist schwindelig.
Ich höre Stimmen und folge ihnen. Ich muss dafür eine Treppe nach unten. Flackernder Lichtschein lockt mich wie eine Motte in eine schäbige Küche.
Das Geräusch meiner nackten Füße auf den schmutzigen Kacheln erweckt die Aufmerksamkeit von drei Männern, die sich zuvor über eine Kiste gebeugt haben. Im Schein einer einzigen, nackten Glühbirne erkenne ich drei ungewaschene und unrasierte Gesichter, die mich mustern.
„Bist also wach“, brummt einer.
Ich nicke. Sie klingen nicht überrascht. Das wirft meine Theorie vom jahrelangen Koma ein wenig über den Haufen.
„Wo bin ich?“, frage ich. „Und was ist passiert?“
„Du hast dich wohl mit ein paar Typen geprügelt, Junge. Haben dich gestern Abend auf der Straße gefunden. Ohne deinen Hund hätten wir dich nie entdeckt.“
„Sam?“, frage ich erschrocken: „Wo ist er?“
„Wir haben uns Hundeeintopf gemacht“, sagt einer der Männer. Als sie meinen entsetzten Blick bemerken, lachen sie rau: „Er ist unten. Dürfen keine Haustiere in der Wohnung haben.“
Ich nicke erleichtert: „Danke.“
Nervös fahre ich mir durch die Haare. Sie haben mich gestern gefunden? Welcher Tag ist heute?
Wie finde ich nach Hause und sollte ich da überhaupt hin?
„Ich gehe dann mal. Vielen Dank für Ihre Hilfe“, sage ich.
„Halt, halt, halt“, sagt einer der Männer. „Nicht so schnell. Dachtest du, wir helfen aus reiner Herzensgüte?“
Ein anderer redet etwas freundlicher: „Hast du ein Zuhause, Junge? Wir können dir nämlich einen Job anbieten.“
„Um genau zu sein:“, meldet sich der dritte und größte der drei: „Wir können dich leider nicht mit dem Wissen um unser Versteck laufen lassen.“
Mein Herz bleibt stehen, als ich den Inhalt des Kartons auf dem Tisch sehe. Plastikbeutel voll mit weißem Pulver, grünen Blättern oder bunten Pillen. Und dann fällt mein Blick auf die Waffen, die die Männer tragen. Kein Zweifel – sie gehören zur Mafia!