16. September
Ich sitze im Schneidersitz unter einer großen Eiche im Park. Der Baum ist alt und seine Rinde geschwärzt von Abgasen. Seine Blätter sind bereits abgefallen – er sieht nicht wie eine gesunde Pflanze aus.
Sam liegt neben mir und beobachtet gelangweilt die Vögel. Der alte Baum ist eines meiner Verstecke. Es ist nicht unbedingt ein gutes Versteck, aber einer der Orte, wo ich mich geborgen fühle.
Ich atme die kalte Luft tief ein. Der Wind ist frisch, aber die Luft verbraucht. Er ist Abend, die Sonne geht unter.
Während ich sitze und warte, sehe ich auf meine Hände.
Schatten fließen durch meine Finger und spülen über meine Haut. Es macht mir immer noch Angst. Seit mehreren Tagen – seit dem Überfall, denke ich – spüre ich diese Kraft. Ein Kribbeln unter der Haut. Und die Dunkelheit scheint um mich zu kriechen.
Ich atme ruhig. Sam wirft mir einen Blick zu, sieht verständnislos auf die Schatten in meinen Händen.
Ich weiß nicht, wann ich es gemerkt habe. Irgendwann auf meiner Flucht.
Ich beherrsche die Dunkelheit. Ich kann Schatten um mich ziehen, um unsichtbar zu werden.
Also ich geflohen bin, sind Jens und die anderen mir gefolgt. Sie waren wütend, natürlich. Immerhin könnte ich sie verraten und damit auffliegen lassen.
Ich lief, Sam neben mir. Irgendwann versteckten wir uns in einem Hauseingang. Björn kam immer näher – und dann übersah er uns.
Wir waren unsichtbar.
Ich atme weiter ruhig und sammele immer mehr Schatten, bis ich eine Kugel aus Schwärze in den Händen halte. Mein Herz schlägt hoch und schnell. Ich habe Angst. Ich weiß nicht, wovor, aber ich habe tierische Angst.
Sie schnürt mir die Kehle zu. Meine Hände werden feucht. Ich mache trotzdem weiter.
Langsam lege ich die Dunkelheit über mich wie einen Mantel. Die Sonne geht unter. Ich fühle mich stark.
Die Schatten streichen über meine Haut. Ich erinnere mich an ihre Berührung. Auch, wenn ich sie damals nicht mitbekommen habe.
Sie heilen mich. Ich schließe die Augen und lasse die Dunkelheit tief in meinen Körper eindringen, wo die Kugeln noch immer stecken.
Mit einer Hand aus Schatten umschließe ich die Metallkugel in meinem Bein. Ich ziehe, ganz langsam. Die Haut, die ich damit verletze, heile ich gleichzeitig. Es dauert, bis sich die Kugel aus meinem Fleisch löst. Blut läuft über meine Haut. Ich atme ruhig, unterdrücke den Schmerz.
Die Metallkugel werfe ich weg. Dann lege ich eine Hand auf meine Haut und warte darauf, dass ich die Wunde heilen kann. Es kostet mich viel Kraft. Die zweite Kugel werde ich in ein paar Tagen machen müssen. Und eine Narbe wird zurück bleiben.
Ich schließe die Augen, lehne mich an den Baum.
Sam kommt zu mit getrottet und legt sich auf meinen Schoß. Erst, als ich seine Wärme spüre, merke ich, wie kalt mir ist. Ich zittere.
Langsam lässt der Schmerz nach. Der Mond sinkt bereits wieder. Ich bin müde und fühle mich doppelt so alt.
Da höre ich Stimmen. Bemerke Licht. Taschenlampen durchschneiden das Dunkel. Ich stehe erschrocken auf, mein verletztes Bein knickt unter mir ein. Ich stütze mich an den Baum und atme tief durch.
Die Stimmen sind noch weit entfernt. Ich kann sie deutlicher hören als früher. Langsam humpele ich in eine andere Richtung.
Ich spüre das Bewusstsein von drei Menschen. Sie sind wütend. Und sie sind bewaffnet. Ich kann ihre Auren sehen: Sie sind bereit, zu töten.
Und sie suchen mich.