17. September
Endlich senkt sich die Nacht über die Stadt. Mit jedem wachsenden Schatten fühle ich mich stärker. Die Kopfschmerzen verschwinden und ich kann wieder klar sehen.
Die letzten Stunden habe ich im Halbschlaf in einer dreckigen Hintergasse verbracht. Ja, sogar in den reichsten Viertel gibt es solche schmutzigen, engen Gassen. Hier stehen Mülltonnen, liegen Blätter und Staub auf der Straße. Mit Straßenmalkreide hat jemand eine Autorennstrecke auf den Boden gezeichnet – dabei ist die Gasse fast zu eng, als dass man mit einem Bobbycar hier wenden könnte.
Jetzt, wo es dunkel wird, stehe ich auf. Sam springt sofort an meine Seite und wir schleichen uns gemeinsam auf die Straße. Menschenleer.
Das Haus, das zu der Adresse gehört, steht nur wenige Meter entfernt. Es ist ein hübscher Backsteinbau mit großen, offenen Fenstern. Im Gegensatz zu den normalen Häusern in der Stadt sind die Etagen nicht genau gleich aufgebaut. So hat jede Etage einen Balkon, jedoch immer an einer anderen Ecke des Gebäudes. Ebenfalls sind die Fenster ein wenig versetzt zu einander. Es ist ein Bau, den man länger betrachten könnte, ohne sich zu langweilen.
Nicht, dass das eine Rolle spielt. Die Fassade ist inzwischen schmutzig und die meisten Fenster sind mit schweren Vorhängen verdeckt. Die Balkone sind allesamt wie leergefegt. Manchmal stehen Wäscheständer dort, oder eine einzelne, traurige Topfpflanze. Es sieht nicht so aus, als würde dort mal jemand sitzen und einfach die Aussicht genießen.
Ich sehe den Wagen von Jens, Wolfgang und Björn, der am Rand der Straße parkt. Sie haben mich noch nicht gesehen, und ich ducke mich hinter einen anderen Wagen.
Ich beiße mir auf die Lippe. Was soll ich tun?
In einem Fenster im oberen Stock brennt Licht. Ein junges Mädchen steht dort am Fenster, blass und offenbar nervös. Sie kaut auf einer Haarsträhne und sieht mit sorgenvollen Augen in die Nacht hinaus. Sie ist vielleicht sieben, aber ihre Augen wirken älter.
Sie wartet auf ihren Vater. Sie weiß noch nicht, dass ihr geliebter Daddy auf den Stufen vor dem Haus sein Leben lautlos aushauchen soll, und dass danach drei Maskierte in ihr Haus kommen werden, um auch sie und ihre Mutter zu töten.
Ich sehe sogar, wie die Mutter zum Fenster kommt und das Mädchen an sich zieht. Das alles erinnert mich so stark an meine eigene Geschichte, dass die Welt vor mir in Tränen verschwimmt.
Das Mädchen da könnte auch ich sein.
Meine Hände zittern, als die Erinnerung mich überkommt. Ich verschränke die Finger und kämpfe darum, meinen Atem unter Kontrolle zu bringen.
Ich habe jetzt Macht. Eine Bestimmung. Ich kann diese Familie retten.
Sam neben mir schnuppert nervös. Er hebt den Kopf und beobachtet etwas hinter mir. Ich drehe mich um und luge an dem Auto vorbei.
Da taumelt ein Mann über die Straße. Er ist müde und angetrunken. Ein harter Arbeitstag liegt hinter ihm. Er bleibt stehen und hebt die Flasche, um mit unsicherem Blick auf deren Inhalt zu blicken.
Ich kann seine Gedanken fast hören. Er überlegt, ob er noch einen Schluck trinken soll. Er denkt, der Kater morgen sei ihm sicher.
Dass er den Morgen nicht erleben soll, ist ihm noch nicht klar. Doch schon steigen Wolfgang und Björn leise aus dem Auto und nähern sich dem betrunkenen Polizist.
Der Mann schließt die Augen und atmet tief durch. Er sieht bereits den Blick vor sich, den seine Frau aufsetzen wird, wenn er heimkommt. Sie möchte nicht, dass er trinkt, und er möchte es auch nicht tun.
Doch heute war es so leer auf der Wache. So leer wie auch in den letzten Wochen. Antons Verschwinden hat in der kleinen Wache ein Loch hinterlassen, dass der Mann nur mit Alkohol füllen kann – damit das Loch nicht von Angst gefüllt wird.
Mir stockt fast der Atem, als ich all diese Gedanken wahrnehme. Fast, also könnte ich in den Kopf des Menschen eintauchen – ich bin der Schatten, ich sehe die Wahrheit, die andere Menschen im Dunkel verbergen wollen.
Wolfgang und Björn haben den Betrunkenen fast erreicht. Ich reiße mich mit Gewalt aus meiner Starre. Ich kann jedes Gefühl der Menschen vor mir wahrnehmen, einerseits Trauer und andererseits die gespannte Erwartung der Gewalt.
Es ist Teil meiner Macht, meiner Bestimmung. Ich sehe die Geheimnisse, die man der Dunkelheit anvertraut und muss dieses Wissen nutzen, um Menschen zu retten.
Ich muss den Mann retten.