24. September
Jens zielt auf mich. Doch im letzten Moment springt Sam nach vorne, direkt in die Schussbahn. Er jault auf, als ihn die Kugel direkt in den Kopf trifft. Noch bevor er in meinen Armen zusammen bricht, ist er tot.
„Sam!“, schreie ich. Meine Stimme hört sich an, als würde sie von weit her kommen. Ich kann die Wahrheit sehen, kann sehen, dass kein Funke Leben mehr in dem schwarz-weißen Körper ist, der vor mir liegt.
Ich sehe auf, direkt in Jens' Augen. Er hebt die Pistole erneut, um diesmal mich zu erschießen. Für einen Moment bin ich versucht, es einfach geschehen zu lassen. Doch dann kämpfe ich.
Ich sammele die Macht der Dunkelheit um mich und ziehe sie um Jens herum. Bevor er schießen kann, habe ich einen Griff in seinem Genick gefunden und zermalme mit Schatten, schwarz wie der Tod, jeden Knochen, den ich dort finde.
Mit verdrehtem Kopf fällt Jens auf den Boden. Die glasigen Augen starren mich noch an. Die Pistole fällt neben ihm in den Dreck.
Das Ganze ging schnell. Innerhalb einer Millisekunde. Erst jetzt fliegen die Vögel auf, durch den Schuss erschreckt. Flatternd und kreischend steigen sie in den dunklen Himmel.
So wie Sams Seele.
Das Blut färbt sein langes Fell rot. Ich ziehe ihn zu mir und halte ihn. Sein Körper ist noch warm.
„Sam. Sammy. Geh nicht, bitte. Bleib bei mir. Sammy!“, ich weine wie ein kleines Kind. Nicht auch noch Sam. Mit der blutverschmierten Hand fahre ich durch sein blutverschmiertes Fell. Die Schmerzen meiner abgeschlagenen Finger sind verblasst.
„Sam! Ich brauche dich. Du bist mein Freund, du darfst nicht gehen!“
Ich streichele sein Fell. Er sieht so mager aus. Und so klein.
„Sammy!“, ich rüttele ihn, als könnte ich ihn gewaltsam aus dem Tod reißen: „Lass mich nicht allein!“
Später stehe ich auf. Es ist Nacht. Überall herrscht nun Dunkelheit.
Sam bleibt liegen, reglos, und ein paar Tropfen Blut sickern in den kalten Boden. Ich habe sein Fell mit den Fingern geglättet, bis es wieder glänzt. Dann habe ich ihm sein Halsband abgenommen und es in der Tasche meines Mantels vergraben.
„Du kommst mit mir, Sam, wo immer ich hingehe. Ich lasse dich nicht hier zurück. Nicht wirklich.“
Es bricht mir das Herz. Ich sammele meine Macht und reiße den Waldboden auf, bis ein Grab entsteht. Ein tiefes, schwarzes Loch, in das ich Sam am Liebsten folgen würde.
Ich nehme den toten Hund in meine Arme und trage ihn in das Erdloch. Noch einmal streichele ich über sein weiches Kopffell und kraule ihn dort, wo sein Schädel nicht von der Kugel zerrissen ist.
Er sieht glücklich aus. Als würde er grinsen. Ich bin froh, dass er nicht leiden musste.
Ich ordne seine Pfoten so an, als würde er nur daliegen und sich ausruhen. Viel zu lange bleibe ich in dem Loch und streichele das kalte Fell meines Hundes. In meiner Kehle steckt ein dicker Kloß.
Plötzlich habe ich das Gefühl, als würde Sam mir über die Wange lecken. Ich reiße die Augen auf, aber Sam liegt noch immer erstarrt vor mir.
Es sind Tränen, die meine Wangen feucht machen.
Ich steige aus dem Grab und schaufele die Erde mit den Händen hinein. Als nur noch ein flacher Hügel von Sam zeugt, wälze ich einen großen Stein auf die Stelle.
Sam liegt unter einem großen, alten Baum begraben. Der Stein ist nicht besonders auffällig, klein und rund. Aber er scheint zu lächeln.
Ich sehe Jens an, dessen glasige Augen jede meiner Bewegungen verfolgen.
„Das war deine Entscheidung“, sage ich zu ihm. „Du wirst lernen müssen, Verantwortung zu übernehmen. Stell dir vor, dein Körper wäre meine Liebe zu Sam und meinen Eltern. Und jetzt erlebst du, wie diese Liebe Stück für Stück aufgefressen wird.“
Damit drehe ich mich um und gehe in den Wald, dem kalten Licht eines fernen Eises entgegen. Ich überlasse Jens den zahlreichen Bewohnern des Waldes. Noch immer klebt Blut an mir, meines genauso wie das von Sam.
Jetzt bin ich tot.