24. September
Ich kann mich nicht rühren. Jens hat meine Arme gefesselt und mir die Füße verbunden. Sam hat er mit einem Strick an einen Baumstamm gefesselt. Es ist ein Strick von der Art, die sich immer weiter zuzieht, je mehr man daran reißt. In seinem Bemühen, zu mir zu kommen, drückt sich Sam selbst die Luft ab.
Ich weine: „Es ist gut, Sam. Alles gut. Mach Platz! Sei ein braver Junge, Sam. Sitz! Platz! Bitte, Sam, hör auf!“
Er bellt, aber inzwischen ist er heiser. Ich kann es kaum mit ansehen.
Jens kniet vor mir. Er hat ein Messer in der Hand und wiegt es prüfend hin und her.
„Jetzt wirst du die Schmerzen spüren, die ich verspürt habe“, sagt er zu mir. „Es fühlte sich an, als hätte man mir das Herz herausgeschnitten. Zweimal.“
„Bitte“, sage ich. „Ich wollte ihnen nichts tun. Es war ein Unfall. Jens, hör mir zu –“
„Halt die Klappe!“, fährt er mich an. Ich reiße hilflos an meinen Stricken, doch die Sonne steht noch am Himmel. Es dauert bestimmt noch Stunden, bis die Abenddämmerung einsetzt.
„Du hast sie umgebracht. Warum?“
„Ich – ich wollte den Mann retten –“, setze ich wahrheitsgetreu an, aber Jens schneidet mir das Wort ab, indem er mir eine Ohrfeige verpasst: „Klappe halten, habe ich gesagt!“
Sam knurrt wie von Sinnen.
Jens hebt das Messer und setzt es mir an die Brust: „Jetzt wirst du bezahlen!“
Er schneidet in mein Fleisch, durch den Stoff des Mantels hindurch. Ich ziehe die Luft scharf durch die Zähne ein, als der Schmerz mich durchfährt.
Sam bellt wütend. Jens sieht mir in die Augen, sucht nach etwas. „Du bist schwach, Mörder“, flüstert er nachdenklich. „Du bist ein Magier. Deine Kraft ist die Dunkelheit.“
Ich zittere. Vor Angst kann ich mich nicht rühren. Woher weiß Jens das?
„Ich sehe, du hast gelernt, zu schweigen. Nur deinem Köter werden wir das noch beibringen müssen“, sagt Jens. Er wirft einen kurzen Blick auf Sam, der noch immer bellend an dem Strick reißt.
Es zerreißt mir das Herz. Beruhige dich doch, Sam, möchte ich sagen. Aber ich schweige. Jens kniet vor mir und er weiß Bescheid.
„Ich sehe, du verstehst es noch nicht. Dachtest du, du wärst der einzige Magier auf dieser Welt? Auch ich habe die Macht erlernt. Ich habe Jahre gebraucht und ich bin nur halb so stark wie du. Du hast ein Geschenk bekommen, wo ich mir alles hart erarbeiten musste. Doch dafür kenne ich meine Macht auch, besser als du, Dorian, oder wie immer dein echter Name ist. Du hast mich unterschätzt. Auch ich beherrsche die Schatten. Ich habe gelernt, meine Aura zu verbergen. Denn meine Kraft ist das Zwielicht und das ist auch am Tage mächtig.“
Jetzt zittere ich wirklich. Deshalb habe ich Jens nicht gespürt, bevor er angriff. Und deshalb konnte er meiner Spur folgen. Und Sam konnte ihn nicht wittern!
Er löst meine Fesseln und zieht meine rechte Hand nach vorne. Ich kann mich ihm nicht widersetzen.
„Sieh her. Ich möchte dir noch etwas beibringen, bevor du stirbst.“
Er hebt das Messer und drückt meine Hand auf den Boden. Mit der silbernen Klinge nimmt er Maß.
„Dein kleiner Finger ist Wolfgang. Und dein Ringfinger ist Björn. Und jetzt verstehst du vielleicht, was es bedeutet, ein Leben zu nehmen. Denn plötzlich – sind sie einfach weg!“
Jens reißt das Messer nach unten.
Ich schreie auf, so laut, dass ich sogar Sams wildes Bellen übertöne. Warmes Blut läuft über meine Hand und die Schmerzen machen mich fast wahnsinnig. Ich bäume mich gegen den Strick auf, Tränen laufen über meine Wange.
Jens lacht rau und wahnsinnig: „Tot. Sie sind alle tot. Vielleicht lernst du jetzt, Verantwortung zu übernehmen?“
Ich spüre etwas. Wolken ziehen sich im Himmel zusammen. Ein Sturm zieht auf.
Und der Sturm bedeutet, dass eine frühe Nacht kommt.
Sam reißt immer noch wie wild am Strick. Seine Nase ist schon ganz blau. Ich drücke meine verletzte Hand an die Brust und robbe langsam von Jens weg, der aufsteht und mein Blut von seiner Klinge wischt.
„Bereit für die letzte Lektion?“, fragt er.
„Ich bin bereit“, sage ich grimmig. Denn um uns herum wird es urplötzlich dunkel.