In der Krebsklinik der Stiftung war inzwischen Renate Montar eingeliefert worden. Sie war achtundfünfzig Jahre, hatte aber die letzten neun Jahre nicht gearbeitet und lebte von Sozialhilfe. Ein Begriff, der so gar nicht zu ihr passen wollte, denn Sozialverhalten war ein Fremdwort für diese Frau, die sich vom Leben betrogen fühlte und ihre Probleme auf alles und jeden schob, die Gründe dafür aber niemals bei sich suchte. Da sie nun einer Behandlung bedurfte und mehr oder minder mittellos war, hatte man sie zur Bücker-Klinik überwiesen, weil bekannt war, dass diese Institution auch bei Uneinbringlichkeit der Behandlungskosten mit Geld aus der Stiftung weiter behandelte.
Renate Montar wusste aus der Zeitung, dass ihr Sohn der Chef dieser Einrichtung, beziehungsweise der Vorstand der Stiftung war. Anscheinend hatte er eine Ärztin geheiratet, mit der er diese Klinik betrieb. Hätte ihr auch mal Geld schicken können, der Drecksack. Ist einfach abgehauen mit fünfzehn zu einem Mentor. Mit achtzehn war er noch einmal heimgekommen, seine Sachen abzuholen. Sie hatte aber das Meiste davon schon verkauft gehabt. Der sollte sich nun gefälligst darum kümmern, dass sie hier behandelt wird! Aber vom Feinsten! Schließlich war sie die Mutter des Chefs!
Das ließ sie auch sofort bei Schwester Ines heraushängen. "Ich möchte Herrn Montar sprechen, sofort!" - "Das ist leider nicht möglich, Frau Montar." - "Was soll das heißen? Bemühen sie sich gefälligst! Sie wissen wohl nicht, wen sie vor sich haben. Michael Montar ist mein Sohn! Also holen sie ihn, oder ich werde mich über ihre Inkompetenz beschweren!"
"Ich kann ihnen nur dringend empfehlen, ihren Ton zu überdenken Frau Montar! In der Klinik ihres Sohnes bedient man sich üblicherweise auch der Worte Bitte und Danke! Ihr Sohn ist diese Woche übrigens nicht zugegen. Er wird erst am Montag wieder in die Klinik kommen!" - "Wo ist er denn? Informieren sie ihn über meine Ankunft! Das kann ich wohl verlangen!" - "Nein, das können sie nicht, Frau Montar! Im übrigen gehöre ich zum engsten Freundeskreis ihres Sohnes und bin daher über ihr "inniges" Verhältnis zueinander durchaus informiert! Michael macht eine verdiente Woche Urlaub, die ich ihm nicht mit einer Nachricht über ihr unmögliches Betragen versauen möchte. Er hat so schon genug zu ertragen! Und damit sie wissen wen sie vor sich haben: Ich bin Schwester Ines, die persönliche Assistentin von Frau Dr. Selina Montar-Bücker, der Frau ihres Sohnes. Ich bin also bis zur Ankunft ihres Sohnes die höchste Instanz hier. Sie dürfen sich also gleich bei mir über meine Inkompetenz beschweren." - "Ich will sofort den behandelnden Arzt sprechen! Sofort!" - "Ob sie hier behandelt werden und von wem und wann, entscheide ich, Frau Montar! Ich hoffe, zumindest sie wissen nun, wen sie vor sich haben!"
Ines verließ das Zimmer. Ihr Gesicht war knallrot vom unbändigen Zorn, den diese unmögliche Person in ihr entfacht hatte. Sie hatte noch nie, wirklich noch nie ihre hohe Position im Stab der Klinik oder die persönliche Freundschaft zu Selina und Michael herausgekehrt und es war ihr hinterher auch fast ein wenig peinlich, aber sie hatte den Mund nicht mehr halten können. "So eine blöde Ziege!" entfuhr es ihr auf dem Gang. "Wer?" Dr. Glimpf war gerade am Gang und hatte Ines' Selbstgespräch gehört. Dr. Glimpf war ein erfahrener Mediziner, der Selina während ihres Urlaubs vertrat. Ines erzählte ihm alles und ließ dabei auch nicht aus, dass Michael sie mit fünfzehn verlassen und mit achtzehn das letzte Mal geseh'n hatte. "Schwester Ines, sie haben doch nichts dagegen, wenn ich sie trotzdem kurz untersuche." - "Natürlich nicht, Herr Doktor. Ich will ihnen nur sagen, was Herr Montar zu seiner Frau gesagt hat. "Frau Montar wird behandelt, wie jeder andere bedürftige Patient auch! Nicht mehr und nicht weniger. Und es werden auf keinen Fall Extrawürste für sie gebraten!" - "Danke für die Information, Schwester Ines! Ich schau gleich mal nach ihr." Nach knapp drei Minuten kam er zu Schwester Ines in Selinas Büro. "Ines! Das ist keine Ziege, das ist ein Monster!"