Viktor schaute Luca einen Moment an, dann drehte er sich wortlos zu seinem Pferd. Als er gerade den Fuß in den Steigbügel setzen wollte, zerriss ein lauter Knall die Stille. Die junge Vollblutaraberstute zuckte zusammen und sprang dann zur Seite, wobei sie den Adligen touchierte. Der Vampir, der ja nur auf einem Bein neben dem Tier stand, verlor das Gleichgewicht und landete unsanft auf dem Hosenboden. Winterfire machte einen weiteren Satz, bei dem ihre Hinterhufe Viktor nur ganz knapp zu verfehlen schienen, und galoppierte dann den Weg hinauf, den sie vor ein paar Minuten mit ihrem Reiter gekommen war.
Die kleine Holzbrücke erbebte einen Moment unter den Hufschlägen, dann war das Pferd im Wald verschwunden. Leise fluchend sah der Vampir dem Tier hinterher, während Luca ein Kichern nicht unterdrücken konnte.
Viktor wandte dem jungen Mann den Blick zu und funkelte ihn böse an. Dieser versuchte, sich das Lachen zu verkneifen, ging zu dem Adligen hinüber und blieb neben ihm stehen.
»Na, komm schon hoch. Oder willst du da übernachten?«, er hielt Viktor die Hand hin, die dieser nach kurzem Zögern ergriff. Langsam stand er auf und klopfte sich den Dreck von den Sachen.
»Jetzt werde ich wohl hierbleiben müssen«, seufzte er, »es sei denn, du fährst mich zurück. Dann hast du wieder deine Ruhe. Laufen werde ich bei der Hitze auf keinen Fall.«
So lustig die Szene vorher auch gewesen war, jetzt wurde Luca erst bewusst, was das bedeutete. Er hatte nicht vor, zum Gestüt hochzufahren - auch nicht, um Viktor dorthin zu bringen. Genervt schnaubte der junge Mann und erwiderte: »Na, dann bleib halt hier, wenn du nicht laufen willst. Ich werde mich hier nicht weg bewegen. Aber ich werd meinen Onkel anrufen, damit im Gestüt nicht die Panik ausbricht und er womöglich einen Suchtrupp losschickt, weil Winterfire ohne dich nach Hause kommt.« Seufzend drehte Luca sich um und holte sein Handy aus der Hosentasche.
Nachdem er Alan über die Geschehnisse in Kenntnis gesetzt hatte, legte er das Telefon auf die Holzbank vor der Hütte. »So ... nun hab ich dich doch am Hals. Passt mir zwar nicht, aber ... Was mach ich denn jetzt mit dir?«, er musterte Viktor, der gerade dabei war, sein Hemd aufzuknöpfen, »Und was zum Teufel machst du da?«
Ohne den Kopf zu heben, erwiderte der Vampir: »Winterfire hat mich wohl doch mit ihren Hufen erwischt, was ich im ersten Schrecken gar nicht wirklich wahrgenommen habe. Hier ... an der Schulter.«
»Schlimm? Lass mich mal sehen.« Nun doch etwas besorgt, näherte Luca sich dem Adligen und schaute sich das Malheur an. Das Pferd hatte gut getroffen und eine ziemlich tiefe Wunde an der Schulter des Vampirs verursacht. Die Verletzung würde zwar schnell heilen, war aber, wie bei einem Menschen auch, mit Schmerzen verbunden. Der junge Mann strich mit dem Finger über die Stelle, die sich schon wieder zu schließen begann, und Viktor zuckte leicht zusammen.
»Au ...«
»Tut mir leid«, erwiderte Luca und zog die Hand zurück.
»Schon gut. Ich werd mal das Blut aus meinem Hemd waschen gehen«, murmelte der Vampir, schob den jungen Mann zur Seite und ging hinunter an das Ufer des Sees. Hier an dieser Stelle war es flach und kahl. Letzteres war wohl den diversen Partys der Jugendlichen in der Vergangenheit geschuldet. Alles Grün war hier immer wieder platt getrampelt worden und so war die Grasnarbe schlussendlich abgestorben und nichts mehr nachgewachsen. Anstelle dessen gab es nur noch Sand, was aber nicht so schlecht war, weil es das Gefühl vermittelte, man sei an einem Strand. Während Viktor versuchte, sein Hemd, so gut wie es unter den gegebenen Umständen möglich war, auszuwaschen, zog Luca seine Jeans wieder aus und ging dann den Steg hinunter. An dessen Ende blieb er stehen und ließ den Blick schweifen.
Der See lag malerisch inmitten des kleinen Waldes. Das Wasser war dunkelblau und klar. Der junge Mann wunderte sich jedes Mal darüber, dass das Gewässer so sauber war.
Ein paar vereinzelte Seerosen hatten sich in der Nähe des gegenüberliegenden Ufers angesiedelt, welches so dicht bewachsen war, dass dort niemand auch nur annähernd an das Wasser herankam. Eigentlich war der ganze See rund herum unzugänglich, bis auf diese eine Stelle hier an der Hütte - und das war auch gut so. Ansonsten hätten sich womöglich noch mehr Fremde in der Vergangenheit hier herumgetrieben und mit ihren Saufgelagen etliches mehr zerstört. So aber war mit der Zeit ein unberührtes Stück Natur entstanden, wo es aufgrund verschiedener Gewächse sogar noch Schmetterlinge gab, die man sonst leider nur noch selten zu Gesicht bekam.
Luca seufzte leise. Er liebte es, hier zu sein, denn nirgendwo anders hatte er so viel Ruhe. Er wusste nicht einmal genau, warum er so genervt war. Die Gegend war wie aus einem Bilderbuch, das Wetter war traumhaft, wenn auch etwas warm, der Mann, den er liebte, war bei ihm ... Aber genau das war der Fehler in dem sonst so perfekten Bild. Luca war hier herausgefahren, weil er alleine sein wollte. Aber das Schicksal hatte es wohl anders geplant und damit musste er jetzt leben. Ein weiteres Mal seufzte er.
»Ja, du hast es nicht leicht mit mir, ich weiß. Und es tut mir leid. Ich hätte nicht hierherkommen dürfen. Als Willow mir sagte, dass du nicht da seist, hätte ich wieder verschwinden sollen.«
Der junge Mann zuckte leicht zusammen, als er die Stimme Viktors ganz dicht an seinem Ohr vernahm. Wieder einmal hatte er nicht gemerkt, dass der Vampir sich ihm genähert hatte. Der Atem des Anderen kribbelte auf Lucas Haut und eine Gänsehaut breitete sich auf seinem Körper aus, als Viktor seinen Nacken küsste.
Einen Moment blieb der junge Mann regungslos stehen und schloss die Augen, genoss die sanfte Berührung. Dann machte er einen Schritt nach vorne und drehte sich um.
»Würdest du das bitte lassen?!«, sagte er mit rauer Stimme und sah seinem Gegenüber in die braunen Augen.
Schmunzelnd musterte der Vampir ihn und nickte dann. »Aber natürlich. Wenn das dein Wunsch ist. Du weißt schon, dass das mit Winterfire ein unglücklicher Zufall war. Dass ich das Pferd nicht absichtlich erschreckt habe, damit es wegläuft.«
»Ja, das weiß ich«, erwiderte der Blonde leise, »es ist ja nicht nur das. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass immer alles schiefgeht, wenn ich gerade mal glücklich bin.«
»Und das ist meine Schuld, ich weiß.«
Mit den Schultern zuckend drehte Luca sich wieder mit dem Rücken zu Viktor. »Ja ... Nein ... Herrgott, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es mich nervt.«
»Aber macht es die Sache besser, wenn du mich anzickst? Mir Ewigkeiten aus dem Weg gehst? Praktisch vor mir davonläufst?«
Wieder spürte Luca den Atem des Vampirs in seinem Nacken. Doch diesmal blieb der junge Mann stehen.
»Nein, es macht gar nichts besser und auch ganz bestimmt nicht leichter«, erwiderte er leise, »aber ich brauche diese Zeit für mich. Ich weiß nicht, wie ich mit dem Ganzen umgehen soll und fühle mich irgendwie ... überfordert. Es war einfach zu viel in der kurzen Zeit, was auf mich eingestürzt ist. Zu viele Offenbarungen deinerseits und das muss ich erst einmal verarbeiten. Und jedes Mal, wenn ich denke, das hab ich, dann kommst du mit einer neuen Überraschung um die Ecke.«
»Das weiß ich und ich wünschte, ich könnte dir helfen, mit allem besser fertig zu werden, aber das kann ich leider nicht.« Der Vampir legte die Arme um Luca und zog ihn sanft an sich. Viktor spürte, wie der junge Mann sich einen Augenblick lang anspannte, aber schließlich an ihn lehnte und tief durchatmete.