Demetia – 25. August
Ich halte Dimitri in meinen Armen. Er regt sich nicht. Sein Mund steht offen, aber ich kann ihn nicht atmen hören.
„Mitja!“, flüstere ich. „Mitja, bitte nicht!“
Ich drücke ihn an mich und lege meinen Kopf auf seine Brust. Ich kann keinen Herzschlag hören.
„Dimitri! Sag was!“, weine ich.
Er fühlt sich kalt an. Ich weine und meine Tränen fallen auf seinen Körper. Noch während ich mit geschlossenen Augen auf ein Lebenszeichen warte, beginnen meine Hände zu kribbeln. Ich spüre meine Energie. Sie kommt tief aus mir heraus. Ich drücke meinen Bruder eng an mich und lege meine Hand auf seine Brust.
Es ist, als würde ich die Augen öffnen und ihn sehen. Ich sehe ihn und mich, wie ich ihn auf dem Schoß im Arm halte. Ich beobachte die Szene von weither, als würde ich ein Stück über meinem Kopf schweben.
Ich sehe die Welt in verschwommenen Farben. Der Wald ist grau, die Bäume haben ein schwindendes Braun. Ihre Blätter verblassen beim Zusehen. Kleine Tiere leuchten wie helle Fackeln im Gebüsch. Eichhörnchen, Mäuse und sogar Insekten.
Ich sehe ihre Lebensenergien. Ich sehe auch mich selbst, in einem goldbraunem Licht. Und Dimitris Aura, dunkelgrün und blass. Er hat keine Kraft mehr.
Meine Hand auf seiner Brust wird warm. Ich erinnere mich, die Welt schon einmal so gesehen zu haben – als ich mein Bein geheilt habe. Auch jetzt lenke ich meine Energien auf die Stelle, wo ich die Wunde sehe.
Mein gebrochenes Bein war ein rotes Leuchten, und aus der Stelle ist mehr und mehr von meiner Energie ausgetreten. Bei Dimitri wurde die Energie ausgesaugt, von der Magie, die er gewirkt hat. Ich schicke meine eigene Magie durch meine Handfläche in seine Brust.
Langsam, quälend langsam, wird das satte Grün wieder leuchtender. Meine goldbraune Energie nimmt in gleichem Maße ab, wie Dimitris Energie zurückkehrt. Mit jedem Atemzug fülle ich ein wenig mehr Magie um.
Als wir beide in etwas gleich stark leuchten, atme ich tief durch und ziehe meine Hand zurück. Mein Geist kehrt in meinen Körper zurück, der sich fremd und kalt anfühlt. Ein wenig unförmig, wie ein große und schwere Jacke.
Ich spüre Dimitris Herz jetzt schlagen. Langsam öffnet er die Augen und sieht mich an: „Was ist passiert?“
Ich will ihm nicht antworten und hebe den Kopf. Entsetzt sehe ich mich um, und Dimitri folgt meinem Blick.
Der Wald ist zerstört. Die Erde hat sich aufgebäumt, als wäre eine große Macht hindurch gefahren. Bäume liegen entwurzelt um uns, die Stämme deuten wie in einem Kreis von uns fort. Wir können das Waisenhaus sehen, da uns keine Bäume mehr den Blick versperren. Die Gebäude sind eingestürzt, Fenster zerbrochen und Dächer abgefallen. Mehr können wir nicht erkennen, doch das reicht auch schon.
Ich stehe auf und ziehe Dimitri auf die Beine.
Eine unglaubliche Macht muss hier gewütet haben. Ob es – nein, verscheuche ich den Gedanken. Ganz bestimmt nicht!
„Was ist hier passiert?“, fragt Dimitri entsetzt. Seine Hand in meiner zittert. Dann zieht er sich von mir zurück und macht zwei Schritte nach hinten, schlingt die Arme um den Oberkörper.
Ich mache keine Anstalten, ihn wieder zu mir zu ziehen. Ich starre einfach nur auf die zerstörte Landschaft vor mir und weiß nicht, welchen entsetzlichen Gedanken ich zuerst denken soll – tausende schwirren mir durch den Kopf.
Dann lasse ich Dimitri stehen und renne los, auf das Waisenhaus zu.