Neues Jahr, neue Enttäuschungen. Schon nach den Nachrichten zwei Stunden zuvor vermisste ich Luke wieder. Aber er hatte mich nicht gewollt, es war nicht mehr wichtig. Manchmal hatte ich einfach das Gefühl, dass alles um mich herum zerbrach.
Ich habe zwar Angst, vor dem was kommt, aber ich bin eine selbstbestimmte Frau, und ich werde mir mein Leben nicht durch Gefühle ruinieren lassen. Ich werde dieses Jahr nutzen und ihn vergessen. Ich werde unbesiegbar durch Gleichgültigkeit.
Meine Einstellung hielt leider nicht lang der Wirklichkeit die Treue. Schon eine Woche später hielt ich es nicht mehr aus und verfasste verzweifelt folgende Nachricht:
»Ich brauche dich. Ich will dich nicht brauchen, aber ich brauche dich. Mir geht es so furchtbar seit einer Weile, und ich vermisse dich. Und eigentlich wollte ich das gar nicht schreiben, weil ich weiß, dass es falsch ist.«
Aus welchen Gründen auch immer war ihm das wohl nicht egal. Er wollte mit mir darüber reden. Und ich war der Weihnachtsmann. So richtig Lust hatte ich dazu nicht; ich spreche nicht gern über Dinge, wegen denen es mir nicht gut geht. Dazu kam es auch nicht. Aber wenigstens wusste ich nun durch noch mehr Nachrichten, dass er das - was auch immer er damit meinte - nicht über so große Entfernung kann. Aber es war okay. Ich mochte, wenn nicht sogar liebte, ihn immer noch viel zu sehr. Doch es war okay. Es war immer alles okay. Und dass das gelogen war, war auch okay. Es interessierte schließlich keinen. Und das war auch okay.
Ich fragte mich oft, wie lange das so weitergehen sollte. All die Sekunden, die zu Stunden wurden, die zu Tagen wurden, die zu Wochen, zu Monaten wurden. Ich fragte mich, wieso ich nicht einfach aufhören konnte zu lachen, zu weinen, zu hoffen, zu atmen. Ich dachte, jeder hat die Wahl, es zu versuchen. Und denjenigen , die sich dagegen entschieden, konnte ich es nicht übel nehmen. Ich schätze, dass deswegen depressive Menschen oft nicht verstanden werden; weil man es nicht verstehen will.
Wenn ich über das letzte Jahr nachdachte, war es so, als wäre Luke plötzlich einfach da gewesen. Puff, wie aus dem Nichts aufgetaucht. Ich wunderte mich immer wieder über sein Interesse an mir. Wer wollte schon etwas von einem kleinen, ängstlichen, unscheinbaren Mädchen wie mir. Es erschien mir suspekt. Irreal. Unmöglich. Und ich hatte recht. Auch wenn es das für mich nicht einfacher machte. Aber niemand sagt auch, dass Leben einfach ist. Von dem Moment an, in dem wir das Licht der Welt erblicken, beginnen wir zu sterben. Es fühlte sich an, als wäre ich innerlich gerade dabei. Aber es war in Ordnung. Man kann nur glücklich sein, wenn man auch glücklich sein will. Offenbar war ich dazu noch nicht in der Lage.
Seit Anfang des Jahres war ich wieder mehr auf der Website, die mir zum Verhängnis wurde. Es gab allerdings jemanden, der nicht ganz verkehrt zu sein schien. Sein Name war Yannik. Viel wusste ich noch nicht über ihn, aber unser Smalltalk gestaltete sich äußerst angenehm. Das sollte sich jedoch schon paar Tage später ändern, als wir Handynummern austauschten. Dass ich Skype hätte, leugnete ich allerdings zunächst, da ich das nicht nochmal durchmachen konnte und wollte. Hätte ich Luke nicht gekannt, hätte ich nicht gewusst, wie es war, geliebt und dann verlassen zu werden, fallengelassen zu werden wie eine heiße Kartoffel. Aber ich durfte nicht an das denken, was war und was hätte sein können.
Allerdings brachte ich es nicht über's Herz, meinen Luke-Ordner auf meinem Laptop zu löschen; alle Bilder, alle Screenshots, die ich gemacht hatte, und die das Einzige waren, was mir noch blieb. In unserem Zeitalter der digitalen Ewigkeit ist es nicht leicht, loszulassen, zu vergessen.
Ich telefonierte nun doch einmal mit Yannik. Wir hatten weder denselben Sprachstil, noch den selben Humor. Er machte ziemlich schnell deutlich, dass er Interesse an mir hätte, maß allerdings sexuellen Handlungen einen hohen Stellenwert an. Aber er stand auf Sarkasmus. Ich stand auch auf Sarkasmus. Außerdem war er eine willkommene Ablenkung. Also nahm ich es hin, so wie ich alles hinnahm. An dem Abend fiel mir ein, was eine gute Freundin mal über mich gesagt hatte: »Lucy ist ein Cupcake, und auf Cupcakes macht man keine Schokoladensoße drauf.«
Zwischendurch telefonierte ich doch mal wieder mit Luke - auch wenn ich ihn einmal für Yannik versetzt hatte -, welcher eine Erleuchtung gehabt zu haben schien. Er fragte mich, wie es mir ginge, und wie mein Tag gewesen wäre. Na danke. Als ob ihn das interessiert hätte. Irgendwann schwiegen wir uns nur noch an, dann wurde es ihm offensichtlich zu dumm und er ging schlafen. Mir war das aber nicht genug. Ich musste ihm noch sagen, was ich zu sagen hatte, und wenn schon nicht verbal, dann per Nachricht. Das ist das Schöne an unserer durch Medien kontaminierten Welt: Die Dinge, die du nicht persönlich sagen willst, schreibst du einfach. Anderthalb Stunde brauchte ich für folgende, mir das Herz zerreißende Nachricht:
»Weißt Du, ich habe lange darüber nachgedacht, was ich dir sagen könnte. Aber ich habe es nicht getan.
Schweigen macht mir Angst, weil ich fürchte, dass wir uns nichts mehr zu sagen haben. Irgendwie war es ja auch so. Aber ich denke, Du solltest wenigstens wissen, dass hier jemand ist, der dich schon sehr lange sehr schlimm vermisst.
Ich vermisse die Unkompliziertheit unserer Konversationen, in unserem Umgang. Ich weiß nicht, ob Du dich noch daran erinnern kannst, dass wir schon mal die Nacht durchtelefoniert haben, aber es war schön. Es war, als wärst Du trotzdem bei mir.
Manchmal frage ich mich schon, ob Du an dein Versprechen denkst. Ich weiß es nicht. Ich hab das Gefühl, dass Du es brechen wirst. Aber es ist okay. Manchmal wissen wir nicht, was wir da eigentlich versprechen, wenn wir es tun.
Ich habe mich früher oft gefragt, was Du an mir findest. Aber ich habe es aufgegeben; schließlich bin ich mir ziemlich sicher, dass Du es nicht mehr tust. Doch es ist okay. Dass Menschen das Interesse an mir verlieren, passiert mir häufig.
Vielleicht hätte ich dir gerade erzählen sollen, wie schlecht es mir geht. Aber ich tat es nicht. Ich habe immer das Gefühl, sämtliche Menschen zu nerven. Hm. Bei dir hatte ich oft das Gefühl, dich zu stören, deswegen wollte ich eigentlich davon absehen, dir zu schreiben. Aber ich habe es nicht geschafft. Vielleicht bin ich ein schlechter Mensch.
Weißt Du, ich habe nie aufgehört, Interesse an dir zu haben, ich habe nur versucht aufzuhören, es dir zu zeigen. Vielleicht war das nicht gerade der beste Weg.
Es ist mir bewusst, dass man sagt »Was du liebst, lass gehen. Kommt es zurück, gehört es dir; kommt es nicht zurück, so hat es dir nie gehört.« Noch kann ich dich nicht gehen lassen, so sehr ich mir es auch wünsche. In Gedanken bin ich noch zu oft bei dir, dem was war, und dem, was sein könnte. Ein sinnloses Unterfangen.
Manchmal wünschte ich einfach, es wäre noch mal Juni. Ich war noch nie so glücklich wie in jener Nacht. Danke.
Weißt Du, Liebe verändert. Ich muss dir sagen, dass Du mich verändert hast. Ich weiß jetzt, was es bedeutet, jemanden zu umarmen, einfach weil man es kann, und ich weiß es zu schätzen. Ich denke, viele Leute wissen nicht, wie glücklich sie sein können, weil sie wissen, was Nähe bedeutet. Was es wirklich bedeutet.
Ich bin im Besitz einer Liste mit Dingen, die ich getan haben möchte, bevor ich sterbe. Und ein Punkt darauf bist Du. Sollte ich dich allerdings nicht sehen, bevor ich sterbe, dann ist das auch in Ordnung, denn ich sterbe ja trotzdem.
Menschen kommen und gehen, und, Gott, bin ich froh, dass Du vorbeispaziert bist. Aber ich schätze, Du bist schon gegangen, und ich kann dich nun mal nicht festhalten.
Es ist schwierig, eine Person vergessen zu wollen, die einem so viele Erinnerungen geschenkt hat.
Ich liebe dich. Immer noch.«
Ein paar Tage später erhielt ich entgegen meiner Erwartung eine Antwort von Luke. Ich wünschte, ich hätte mir die Zeit genommen, sie in Ruhe zu lesen, und nicht auf dem Weg zur Schule, den ich fast weinend hinter mich brachte.
»Lucy... Ich bin damit ehrlich gesagt etwas überfordert. Ich wollte dich nie verletzen. Gleichzeitig ist es so: Es fühlt sich irgendwie falsch an, dass jemand das alles zu mir sagt. Ich weiß nicht, was du an mir hast. Ich habe die nächsten Jahre so gut wie keine Zeit. Gleichzeitig habe ich eine gestörte Persönlichkeit; muss mich oft zusammenreißen, nicht zu lügen, habe kein Selbstwertgefühl, verletze mich selbst, weil ich es nicht anders kenne.
Nichts hätte ich lieber auf diesem Planeten als ein paar Umarmungen oder sanfte Berührungen. Aber du kannst mir das nicht geben, und das ist kein Vorwurf. Ich bin schlichtweg kaputt, habe keine Zeit für einen Psychologen... das ist hoffnungslos.
Es würde mir ähnlich sehen, den Kontakt einfach abzubrechen... Ich habe schon versucht, ihn zu minimieren. Einerseits aus Zeitmangel, aber auch um dir Enttäuschungen zu ersparen. Etwa, dass ich dir fast nichts erzähle. Ich bin meistens kaputt und was ich erzählen könnte, wäre nicht wegen dem Inhalt... wahrscheinlich hörst du mir einfach nur gern zu.
Es gibt ewig viele bessere Menschen. Menschen ohne Suizidgedanken, gesunde Menschen. Finde lieber so jemanden. Das ist alles nur meine Schuld.
Tut mir leid. Versuche mich lieber zu hassen, das ist einfacher... Ich bin einfach arrogant und verlogen.
Ich sollte Menschen wie dich lieber direkt in Ruhe lassen, mal niemanden verletzen...«
Fest davon ausgehend, dass die nächste meine letzte Nachricht für immer sein würde, schrieb ich Luke zum Abschied:
»Hey. Es ist okay. Menschen verletzen einander. Ich verstehe, dass es sich für dich falsch anhört. Aber vielleicht merkst Du irgendwann, was für ein toller Mensch Du bist. Ich kann auch nicht mehr tun, als dir das so zu sagen, wissend, dass Du es trotzdem nicht so siehst.
Dass ich dir das, was Du willst, nicht geben kann, ist richtig. Ich hoffe inständig, dass Du jemanden findest, der dir dies ermöglicht, dir zuhört, dich versteht und dich liebt. Und ich hoffe auch, dass Du irgendwann Zeit hast, einen Psychologen aufzusuchen. Ich weiß, Du schaffst das.
Was ich an dir habe? Alles, Luke. Ich mag dich, wie Du bist, egal wie viele Schnitte Du am Arm, welche Gedanken Du hast.
Es ist okay, wenn Du keinen Kontakt willst. Wenn es dir so besser geht, bin ich dafür bereit. Und nichts von allem ist deine Schuld. Du hast mir in den paar Monaten ein Leben geschenkt, dass ich jetzt zu schätzen weiß.
Auch wenn das jetzt meine letzte Nachricht sein wird, kannst Du dich immer melden. Egal wann.
Es gibt immer jemanden, der besser ist, aber es reicht mir schon, wenn Du weißt, dass Du für mich der Beste bist. Und wenn Du jemanden findest, der dein Leben wieder lebenswerter macht, dann bin ich glücklich.«
Damit war das Kapitel Luke für mich erledigt. Weswegen ich einem Treffen mit Yannik zustimmte. Ich schlug den Sommer vor, weit genug in der Zukunft, um es sich nochmal anders zu überlegen oder es bis dahin zu verdrängen. Als ich meine Mutter jedoch danach fragte, meinte diese, wir sollten das an einem Wochenende - also Samstag UND Sonntag - im Februar machen. Falls es nicht gut würde, müsste ich mir nicht sinnlos monatelang vorher Gedanken machen. Ich stimmte zu. Was ein Fehler war. Aber er sollte woanders schlafen, denn da er extra aus Bonn mit seinem eigenen Auto hierherkam, wollte er gleich zwei Tage mit mir verbringen. Also setzten wir das »Date« auf in zwei Wochen an.
Der Rest des Januars verlief alles andere als ruhig, da ich mir sehr viele Gedanken darüber machte, was ich anziehen und wie ich mich dann vor Yannik verhalten sollte. Das war alles so seltsam. Ich musste immer noch über Luke nachdenken, auch wenn ich mir vorgenommen hatte, mich voll und ganz auf Yannik zu konzentrieren und ihn dadurch zu vergessen. Aber ich stellte Problemanalysen an und suchte all die Fehler, die uns scheitern ließen.
Doch dann war der Januar auch schon vorbei, und ich musste meinem Date ins Auge blicken.