Sakura trat aus dem Stall heraus und zog sofort die warme Sommerluft durch die Nüstern ein. Die Reitsaison hatte begonnen, das hieß, der Hof war überfüllt mit lärmenden Kindern, aufgeregten Ponys und noch aufgeregteren Eltern.
Mehrere der Kinder verstummten und starrten Amelie an, die in ihrem Metallding über den Hof quietschte. Dann starrten sie auch Sakura an, die ihrer Reiterin gesattelt und gezäumt hinterher trottete.
Sakura konnte ein paar der geflüsterten Worte verstehen.
„Mami, was hat das Mädchen?“
„Guck mal das Pferd da! Das geht ganz alleine!“
„Sie sitzt im Rollstuhl, Schatz, das sieht man doch.“
Amelie reagierte nicht auf die Blicke und die schamlos ausgestreckten, deutenden Finger. Sakura hob den Kopf und stolzierte Amelie hernach, vom Hof runter und auf die Erdpfade zwischen den Koppeln. Sie gingen zum Reitplatz.
Amelie setzte ihr Metallding beim Gatter ab, dann kletterte sie auf den Zaun und rief Sakura zu sich.
Wenig später saß Amelie bereits im Sattel, so schnell, wie sie auch früher aufgestiegen war. Sie nahm die Zügel auf und dirigierte Sakura vorwärts.
Sakura ging im Kreis. Amelie ließ ihr die Zügel locker, damit Sakura sich strecken konnte. Dann ließ sie Sakura in die andere Richtung gehen.
Sie mussten nicht lange warten. Zwei Menschen lösten sich von dem überfüllten Hof ab und kamen auf Sakura und ihre Reiterin zu. Dann stellten Amelies Eltern sich an das Gatter. Die Mutter zog das Metallding mit einem leisen Seufzen aus einer Pfütze und stellte es auf trockenen Boden.
„Hallo Mama, hallo Papa!“, rief Amelie.
„Wir wollten uns doch auf dem Hof treffen!“, rief Amelies Vater zurück. „Vor dem Stall.“
„Da waren mir zu viele Kleinkinder“, antwortete Amelie.
Ihr Vater drängte nicht weiter. Er wusste, wie wenig Amelie es leiden konnte, angestarrt zu werden.
Mit einem Mal ließ Amelie die Zügel ganz los und wickelte deren Ende um den Sattelknauf.
„Guckt mal!“, rief sie und breitete die Arme aus. Sakura blieb irritiert stehen. Was hatte Amelie denn jetzt vor?
„Hört zu, ich sage jetzt nichts, kein Wort, und ich habe auch keine Zügel“, kündigte Amelie an. Sakura hörte Konzentration in der Stimme ihrer Reiterin.
Dann spürte sie etwas: Ein leises, leichtes Rucken mit einem Fuß, ein winziger Druck. Dann mit beiden Füßen. Es war eine schwache Bewegung, doch ungleich stärker als damals am Ende des Querfeldein-Rennens.
Sakura ging los. Amelie saß auf ihrem Rücken, schwieg und hielt die Arme ausgestreckt, fern von den Zügeln.
Ein neuerlicher Druck, mit den Fersen, den Schenkeln. Sehr, sehr schwach war dieser Druck, doch er war vorhanden.
Sakura fiel in einen lockeren Trab. Am Gatter gaben die Eltern von Amelie überraschte Laute von sich.
Amelie nahm die Zügel wieder auf und trieb Sakura an den Zaun.
Eine fremde, raue Hand streichelte sie zaghaft: Amelies Vater.
„Du kannst wirklich die Füße bewegen?“, fragte die Mutter. „Aber in der Reha haben sie doch gesagt -“
„Ich weiß, was sie gesagt haben“, meinte Amelie. „Aber Sakura und ich wissen es besser, nicht wahr, meine Liebe?“
Sakura schnaubte, obwohl sie von dem Gespräch nur die Hälfte verstanden hatte.
Jetzt ruhten die Blicke der Eltern auf ihr. Auch die Mutter berührte leicht ihren Hals. Die beiden Erwachsenen waren nicht so vertraut im Umgang mit Pferden, wie es Amelie war. Aber Sakura war inzwischen an nervöse Menschen gewöhnt.
„Deine Sakura ist echt was besonderes“, meinte Amelies Vater.
Amelie beugte sich vor und umarmte Sakura von oben. „Ja. Ja, sie ist wirklich besonders.“
Und dann spürte Sakura, wie etwas verschwand, eine Art Barrikade, die lange zwischen ihr und Amelie gewesen war – aber eine Barrikade, die nicht von Amelie stammte, sondern von ihren Eltern.
Auch die Eltern hatten jetzt gelernt, Sakura zu vertrauen. Ihr Amelie wieder anzuvertrauen.
Mutter und Vater sahen zu, wie Amelie ein paar Runden trabte und dabei versuchte, Sakura wieder mit den Schenkeln zu steuern. Die Signale waren schwach. Oft genug bemerkte Sakura sie nicht einmal.
Die Sonne schien warm, während Amelie ritt. Als sie schließlich zum Hof zurückkehrten, waren die kleinen Kinder alle schon verschwunden.
„Du kannst aber nicht jeden Tag so lange im Stall bleiben“, meinte Amelies Mutter. „Du hast auch noch Schule. Du bist einmal sitzengeblieben, wegen dem Unfall, schön und gut. Aber du wirst jetzt nicht noch eine Klasse zurückgehen. Du wirst lernen.“
„Ja, Mutter“, sagte Amelie. „Erst einmal sind Ferien. Und danach sehe ich weiter. Ich kriege das schon hin, reiten und lernen.“
Sakura streckte den Hals, während Amelie sie striegelte, geschickt mit ihrem Metallding. Die Eltern sahen zu, bis es schließlich auf die Weide ging.
„Hast du diesen Jungen eigentlich nochmal gesehen, diesen Kyle?“, fragte Amelies Vater.
Da wurde Amelie still. Leise antwortete sie: „Nein. Nach dem Rennen nicht mehr.“
„Und beim Rennen?“, fragte die Mutter.
„Er war da. Ich habe ihn nicht gesehen, aber ich weiß, dass er da war“, sie lachte nervös. „Das klingt verrückt, oder? Aber ich bin mir sicher, dass er meinen Sieg gesehen hat, und dann was weiter geschehen ist. Und danach ist er nicht wieder aufgetaucht.“
Die Eltern fragten nicht weiter.