Die trockene Wärme brannte auf meiner Haut, die längst rau und rissig war. An den letzten Ausläufern meiner Heimatstadt vorbeiziehend blickte ich dem naturbelassenen Orange-Braun der Schlucht entgegen, die sich durch das zu beiden Seiten aufragenden Bergmassiv schlängelte. Eine seichte Brise trieb den Sand der Wüste wie Schmirgelpapier durch die enge Gasse und bearbeitete in ihrem Jahrhunderte dauernden Vorgang den Stein, bis dieser in weichen Rundungen die Schlucht begrenzte.
Die feinen Sandkörner striffen meine Füße und die Umrisse des Weges verblassten in der Ferne zu einem undeutlichen Schleier. Immer noch zog mich etwas zu sich, raubte mir den Schlaf, weckte eine diffuse Sehnsucht in mir, nach dem Unbekannten, dass auf mich wartete, Tag für Tag. Innerlich spürte ich seine Unruhe, seine Aufregung, die seit meines Aufbruchs ein Kribbeln in meinen Fingern verursachte. Es erwartete mich.
Ich zog tief die heiße Luft ein, durch das Tuch, das Nase, Wangen und alles was darunter lag verdeckte. Sie erweckte meine Instikte zu neuem Leben und ich blickte auf die drei Symbole auf meinem Handrücken hinab, die dort in einem Dreieck angeordnet waren - die Zeichen meiner Seelentiere. Wie von allein stellten meine Füße ihre Tätigkeit ein und ich nahm in mich auf, wie die Hitze der Luft mich nach und nach ausfüllte. Dann spürte ich die Wandlung. Ich spürte, wie mein Denken von den anderen abließ und sich auf mich fokussierte, wie mein Geist wacher und schärfer wurde.
Der Sand gab sanft unter meinen Ballen nach und jeder Luftzug wurde von meinen sensiblen Schnurrhaaren registriert während die spitzen Ohren in die Ferne lauschten. Ganz von selbst strich mein Pelz am glatten Fels vorbei und zwängte sich gekonnt durch den schmalen Spalt, der alle paar Monate einen der unzähligen Ströme des monsunartigen Regenfalls gen Boden führte. Die mal helleren und mal dunkleren Schichten des Sandsteins zogen an mir vorbei und ich gelangte nach und nach in höhere Lagen.
Mit einem lautlosen Satz hatte ich auch den Stein hinter mir gelassen, der sich in der schmalen Rinne verkeilt hatte und strebte der Sonne entgegen, dessen Strahlen ich schon lange nicht mehr auf der Haut gespürt hatte. Aus dem Schatten der Felsen heraustretend schüttelte ich mich wohlig und sah mich auf der ebenen Gesteinsstufe um, die wiederum von weiteren Felsriesen begrenzt wurde. Staub und Sand umtanzten sich unter den hellen Strahlen in kunstvollen Wirbeln, getrieben von den leichten Winden. Der Schrei eines Vogels hallte laut an der schroffen Landschaft wider und verklang langsam im Labyrinth der Schluchten.
Ich trat näher an den vor mir aufklaffenden Abgrund heran, in dessen schattiger Deckung sich Jerezië verbarg. Die in den Stein gearbeiteten Häuser waren aus dieser Entfernung kaum noch zu erkennen und auch das bunte Treiben seiner Bewohner zu dieser Tageszeit war nicht einmal zu erahnen. Allein die prächtige Fassade des Tempels stach aus den runden Windungen des Gesteins hervor. Die mächtigen Säulen stämmten sich majestetisch gegen die sich darüber befindenen Bergmassen und eine gewaltige Treppe führte in das Heiligtum der Stadt.
"Ein wunderbarer Anblick, nicht?" Die sanfte Stimme näherte sich mir und meine Ohren zuckten, formten sich zurück und verschwanden bald unter glatter, schuppiger Haut. Mein dünner Körper richtete sich züngelnd auf und ich betrachtete die ältere Frau, die auf mich zuschlenderte.
"Was für hübsche Seelentiere du besitzt." Ein Lächeln breitete sich auf ihren dünnen, spröden Lippen aus. Der mit Tüchern verschleierte Körper ließ sich neben mir nieder und blickte auf Jerezië hinab.
"Mein Name ist Dhina." Unsere Blicke trafen sich. In ihren dunklen Augen erkannte ich weder Vorsicht noch Misstrauen, ihr warmer Schein erinnerte eher an den Blick, den man einem engen Vertrauten schenkte.
"Ich beobachte dich schon eine ganze Weile." Wieder glitt ihr Blick von mir ab und striff über die ockerfarbene Landschaft vor uns. Sie verunsicherte mich mit dieser Vertrautheit, mit der sie mich behandelte. Würde ich sie angreifen, könnte mein Gift sie ernsthaft verletzten, doch dieser Gedanke schien sie in keiner Weise zu beunruhigen.
"Weißt du, mit ein wenig mehr Auslauf würde sich das Hinken deutlich bessern." Ich erstarrte und war schon dabei mich schlängelnd von ihr zu entfernen, als sie ihre Hand hob.
"Bleib, bitte. Ich hätte es nicht ansprechen sollen."
Ich nahm meine menschliche Gestalt an und sah zu ihr herab, der sonnengewärmte Untergrund glüte unter meinen Füßen. Der Zustand meines dritten Seelentieres ging niemanden etwas an - niemanden außer mich. Der Bruch, der damals meinem Hinterlauf beigebracht wurde, war noch heute nicht richtig verheilt. Jedes Mal, wenn ich die Gestalt des Rüden annahm, verspürte ich wieder diese Angst von jemandem verraten zu werden, dem ich vertraute. Er spiegelte die sensibelste Seite meines Chrakters wieder und wurde seit des Vorfalls immer kränklicher.
Die bunten Gewänder raschelten, als Dhina sich umdrehte und zu mir aufsah. Sie seufzte und musterte mich, ich konnte beobachten, wie es in ihr arbeitete. Dann beruhigten sich ihre Züge und ihr Blicke bohrte sich in meinen. Für einige Augenblicke geschah nichts, doch dann sah ich es. Ihre Iris verlor an Farbe, bis sie leicht gelblich war und mit dieser Veränderung war auch das weiß aus ihren Augen verschwunden. Dann wurde die Farbe intensiver, die Pupille veränderte geringfügig ihre Form. Ich blickte in die Augen ihrer Seelentiere und doch war ihr Körper immer noch ein menschlicher. Wie war das möglich?
Ich ließ mich ihr gegenüber sinken und starrte sie mit großen Augen an - ihre nahmen wieder ihre ursprüngliche Form an.
"Ich kann dir zeigen wie du sie vereinst." Ich nickte, wenn auch zögerlich, war mir nicht sicher, ob sie mir nicht nur einen Streich spielte.
"Aber sei gewarnt - mit der Vereinigung deiner Seelentiere werden sich dir neue Gegner offenbaren." Ein Schatten huschte über ihr Gesicht und ich lehnte mich nach vorne.
"Was meinst du damit?" Tiefe Traurigkeit strahlte plötzlich von Dhina aus und sie schien in Gedanken verloren. Ich zuckte zusammen, als sich ihre Hand über meine legte.
"Das Böse wird bald in Jerezië eintreffen und nur ein Seher wird es auch als das erkennen können." Ihre Finger schlossen sich um meine.
"Deine Stadt braucht einen weisen Seher, so wie du einer wärst", flüsterte sie nachdrücklich.
"Ich... denke nicht, dass ich eine gute Wahl bin. Ich bin nicht sonderlich beliebt." Wieder verzogen sich ihre Lippen in ein Lächeln.
"Ich habe mir dich nicht einfach so ausgesucht. Glaub mir, du bist hervorragend für diese Aufgabe geeignet."
"Was heißt es ein Seher zu sein?" Dhinas Blick glitt gen Himmel und ich spürte wie ihre Aura an Kraft gewann.
"Du wirst Dinge sehen können, die anderen verborgen bleiben." Sie hob ihre Hand und zeichnete ein unsichtbares Symbol in die Luft.
"Du wirst Fähigkeiten besitzen, die dir bei deiner Aufgabe helfen werden." Ihre Finger legten sich um einen kleinen Anhänger, der auf ihrer Brust ruhte und ein verletzlicher Ausdruck trat plötzlich auf ihr Gesicht.
"Du wirst jemandem begegnen, der dir auf deiner Reise zur Seite stehen wird."
Ich zögerte. War ich dieser Aufgabe gewachsen? Konnte ich dieser fremden Frau überhaupt trauen?
"Du musst die Ereignisse hinter dir lassen. Dein Rüde leidet und wenn du nicht bald etwas dagegen unternimmst, wird sich das auch auf dich auswirken." Ich versuchte ihrem Blick auszuweichen, nicht willens mit ihr darüber zu reden, doch sie ließ nicht zu, dass ich wegsah. "Du musst deine Seelentiere akzeptieren, alle. Sie spiegeln dich wieder und sich selbst zu verleugnen endet nie gut." Erinnerungen an Khoeli spielten sich ungefragt vor meinem inneren Auge ab, sodass ich mich von Dhina abwandte, um meinen Schmerz vor ihr zu verbergen. Ich hatte ihm vertraut, viel mehr als allen anderen Menschen in meinem Leben und dann hatte er einfach... Ich verstand bis heute nicht warum und versuchte das Geschehene so gut wie eben möglich zu verdrängen, nicht über den Schmerz nachzudenken, in der Hoffnung, dass es mit der Zeit einfach verblassen würde.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter und die Erinnerungen wurden von anderen Bildern überdeckt - von fremden. Ich sah, wie ich mich durch die Mengen auf dem Marktplatz schlängelte und ich fühlte... alles. Die Bewegungen der Menschen um mich herum, noch bevor sie sie ausführten, konnte das Gemisch der Düfte der verschiedenen Waren trennen und ihrer Herkunft zuordnen und vor allem spürte ich meine Seelentiere viel intensiver als je zuvor. Etwas striff hin und wieder mein Bein und ich entdeckte einen Wüstenfuchs, der neben mir her trottete. Dann wurde ich aus dieser Vision gezogen und versank in einer anderen, düstereren. Mein Körper fühlte sich steif und kränklich an und ich verbarg meine Hände in meinen Gewändern. Ich sah die Menschen um mich herum nicht länger an, ich starrte einfach durch sie hindurch und reagierte auch nicht auf ihre Worte - ich war eine Fremde in der Stadt geworden.
Die beklemmende Taubheit ließ schleichend von mir ab und ich spürte Dhinas Hand verschwinden.
"Du solltest dich bald entscheiden", murmelte sie und ich starrte in die Schlucht hinab. Stand es so schlecht um mich? Vernachlässigte ich mein drittes Seelentier so sehr? Konnte es sein, dass Khoeli mein Leben dermaßen beeinflusste und weiterhin formen würde? War ich so blind...? Der Wind zog an meinen Kleidern und ließ den Sand wie kleine Wasserfälle über die Kante rieseln. Ich fasste einen Entschluss - ab heute würde Khoeli nicht mehr mein Leben bestimmen. Ich würde es nicht so weit kommen lassen, wie in jener Vision. Ich war stark.
"Was muss ich tun um Seher zu werden?" Ich klang entschlossen, stellte ich fest. Grimmig und entschlossen. Dhina lächelte nur und drehte sich so, dass sie direkt vor mir saß. Ihre Finger schlossen sich um meine Hand und ein schwarzes, federähnliches Gerät tauchte aus den Tiefen ihrer Gewänder auf. Das spitze Ende näherte sich meiner Haut und ich hielt die Luft an - doch ich entzog ihr meine Hand nicht. Und so durchbrach es meine Haut, jagte einen stechenden und brennenden Schmerz durch meinen Körper, der sich mit jedem Stück, das es zurücklegte, intensivierte. Schweiß trat mir auf die Stirn als ich meinen Körper zum Stillhalten zwang und der Sand umpeitschte uns.
Ich hörte Dhina murmeln.
"Wüste und Berge weihen den neuen Seher." Mein Magen drehte sich um, als ein fremdes Gefühl meine Brust ergriff.
"Möge sein Blut alles Lebende schützen und sein Schwert Böses richten." Ein brennendes Kribbeln übernahm meinen Körper und löste den Schmerz ab.
"Möge er eure Kräfte führen und Jereziës Schicksal bestimmen."
Dhina ließ von meiner Hand ab und fasste mich stattdessen an der Schulter, damit ich das Gleichgewicht nicht verlor.
"Ruhig atmen", murmelte sie. Mit jedem Ein- und Ausatmen legte sich das Chaos in mir ein wenig mehr und bald schon schlug ich meine Augen auf, um mit mulmigen Gefühl meinen Blick auf meine Hand zu senken. Die Symbole meiner Seelentiere waren nun von einem Kreis umgeben, aus dem kleine Blutstropfen quollen und der doch nicht rot sondern schwarz wirkte. Auch zwischen den Symbolen befand sich nun ein winziger Kreis, in dessen Inneren ich irgendetwas zu erkennen meinte. Doch es war so blass, dass ich es nicht näher beschreiben konnte.
Dhinas Hand schmiegte sich gegen meine Wange, ich sah zu ihr auf und schreckte zurück. Wie kleine Nebelschwaden waderte etwas um sie herum, nahm die Form dreier Tiere an - die eines Adlers, eines Kojoten und eines Waschbären. Während der Adler von ihrer Schulter aus auf mich hinab sah, döste der Kojote neben ihr und der Waschbär lukte hinter ihrem Rücken vor, als würde er einen geheimen Plan aushecken.
"Jeder Seher besitzt andere Fähigkeiten. Was siehst du?" Ich hatte schon den Mund geöffnet, als mich plötzlich Widerwille überkam und ich lediglich meinen Kopf schüttelte. Mein Verhalten ließ erneut dieses kleine, verstehende Lächeln auf ihren Lippen entstehen und sie erhob sich.
"Bitte, bleib." Ich sah flehend zu ihr auf. Sie würde mich doch nicht genau jetzt allein lassen, da ich mit den Konsequenzen zurecht zu kommen hatte? Doch genau wie ich gerade eben schüttelte auch sie lediglich ihren Kopf und trat einige Schritte zurück.
"Bald wird jemand kommen, dem du dich anvertrauen kannst." Sie hob ihre Hand wie zum Abschied und drehte sich um, ihre Silhouette verblasste schon bald in der flimmernden Hitze, sodass sich mir der Gedanke aufdrängte, ob Dhina nicht meinem Unterbewusstsein entsprungen war.
Mich in mein liebstes Seelentier flüchtend wollte ich den Rückweg antreten, doch meine Pfoten verweigerten ihren Dienst. Etwas war anders, diesmal. Meine Wahrnehmung veränderte sich nicht, ich spürte nicht, wie der Charakter meines Seelentiers mein Denken übernahm - ich war immer noch ich, genau wie in meiner menschlichen Form. Nur meine Sinne schienen schärfer, noch mehr als zuvor, denn meine Ohren fingen das Pfeifen des Windes auf, der sich viele Meter unter mir durch die schmale Schlucht zwang.
Nach einigen Minuten des stillen Pfote vor Pfote setzens, machte sich eine Müdigkeit in mir breit, die einen dröhnenden Kopfschmerz mit sich brachte - die Sonne hatte ganze Arbeit geleistet. Doch auch das konnte mich nicht darüber hinweg täuschen, dass ich mich beobachtet fühlte. Als das Gefühl besonders stark in meinem Nacken kribbelte, schnellte ich herum und sah gerade noch so wie sich ein großes Ohr hinter eine Windung des Gesteins duckte. Es kam mir seltsam bekannt vor...