Nacht liegt über der flachen Kuppe des Berggipfels. Auf einem größeren Felsen steht ein grauer Wolf, im Moment nichts weiter als ein dunkler Schatten vor dem Sternenhimmel. Mit wachem Blick, stolzgeschwellter Brust und nervös zuckender Rute verfolgt er die letzten Vorbereitungen auf dem Himmelsschiffhafen.
Das große Holzschiff ruht dort in einem Gerüst aus Balken, die Segel gerefft, doch hell erleuchtet. Vor den Augen des Wolfs wandern die letzten Passagiere über eine Holzplanke an Deck, dann wird die Zugangsbrücke wieder an Bord gezogen. Eine hochgewachsene, dürre Gestalt wird sichtbar, die sich hinter das Steuerrad stellt und die Griffe mit bleichen, schmalen Händen umfasst. Die langen, schwarzen Haare des Mannes bewegen sich etwas zu sehr für die vergleichsweise windstille Nacht.
Bevor der Mann im Anzug irgendeinen Befehl gibt, dreht er sich um und sieht zu dem kleinen Hügel herüber.
Der graue Wolf stellt die Ohren auf und nickt dann langsam. Der Steuermann hebt die Hand zur blassen Stirn und salutiert, dann wendet er sich offenbar der Mannschaft zu, denn wenig später entfalten sich die Segel und füllen sich knatternd mit Wind, der Anker wird hochgezogen und das große Luftschiff setzt knarzend dazu an, in den Himmel aufzusteigen.
Des Wolfs Augen verfärben sich grün, als ich in seinen Körper schlüpfe, um den Aufbruch des Schiffes aus nächster Nähe zu betrachten. Es ist ein wunderschöner Anblick, wie sich das stolze Luftschiff in den Himmel zu erheben beginnt.
Ein plötzlicher Knall macht die Stimmung zunichte. Mit schreckgeweiteten Augen sehe ich eine helle Lichtkugel, die sich vom Deck erhebt und in Flammen und Rauch zerplatzt. Eine Explosion!
So schnell mich meine Pfoten tragen, eile ich zu den Docks und an die Seite des Schiffes. Auf Deck ist Chaos ausgebrochen, verschiedene Wesen rennen wild durcheinander, überall züngeln kleine Flammennester. Als ich kläffend auf und ab springe, wird der Zugang zum Schiff über die Planke wiederhergestellt.
„Was ist passiert?“, wende ich mich an den nächststehenden und erkenne zu spät, dass es die nervtötende Saturanerin ist.
„Wir sind ganz normal losgefahren, obwohl, von normal kann man ja nicht sprechen, nicht bei einem fliegenden Schiff, und so, aber wenigstens war es noch ziemlich normal, und der Cheffe – also, der Chef, aber wir sagen immer Cheffe, ich und …“
Ich laufe lieber schnell weiter. Eine Wassernymphe in der schweren Uniform der Crossbricker Feuerwehr ist gerade dabei, die Feuer zu löschen. „Wo kam die Explosion her?“, fragte ich sie in heller Aufruhr.
Sie zuckt mit den Schultern. „Das herauszufinden ist ja eher Aufgabe der Polizei, denkst du nicht?“
Also laufe ich Richtung Steuerrad, doch der hochgewachsene Schattenmann und Detective kommt mir schon auf halbem Weg entgegen. „Ist das Feuer eingedämmt?“
„Sieht so aus“, berichte ich atemlos. Mein Herz hämmert wie wild. Wie es wohl unter Deck aussieht? Ob sich das Feuer dort im Lagerraum verbreitet? So eine Katastrophe! Warum muss das ausgerechnet jetzt passieren?
Mir fällt etwas auf, also sehe ich den Steuermann scharf an. „Deine … Frisur.“
Der blasse Mann fährt sich über den nun kahlen Schädel. Ohne die langen Haare sieht er ein bisschen aus wie Voldemort in einem etwas schäbigen Anzug, mit Knochen, die sich deutlich unter der hellen Haut abzeichnen und ohne jegliche Behaarung - nicht einmal Augenbrauen hat er.
„Verflixt, sie muss sich bei dem Knall erschreckt haben!“, stellt der Schattenmann fest und sieht sich suchend um.
Ein feingliedriges, bräunliches Wesen mit grünen Haaren und im pinken Kostüm eilt an uns vorbei: „Greg, deine Karva war unterwegs nach unten. Hab sie gerade vorbeikrabbeln sehen!“
„Danke, Matilda!“, ruft der Schattenmann und läuft in die Richtung, aus der die Dryade gekommen ist. Ich folgte Greg unter Deck, wo es muffig und dunkel ist. Ein Glück! Das heißt, hier brennt es noch nicht. So langsam entspanne ich mich und meine Gedanken wenden sich den weniger drängenden, aber ebenso wichtigen Fragen zu.
„War das eine Bombe?“, frage ich mich.
„Das, oder ein tragischer Methangasunfall“, antwortet der Schattenmann. Er hat ein Packet Spinnenbeine aus der Brusttasche gezogen und schüttelte die Tüte leicht, um die Karva anzulocken.
„Ein Anschlag?“, rufe ich aus. „Wer sollte einen Anschlag auf das Schiff verüben? Die WVA?“
„Ich weiß nicht“, grübelt der Schattenmann. „Eigentlich sollte denen ja auch daran gelegen sein, dass das Schiff startet. Aber so verrückt, wie die Sekte ist, würde es mich auch nicht wundern.“
„Das bedeutet“, mein Fell stellt sich auf, „dass hinter der nächsten Tür eine Vampirin mit einem Flammenwerfer stehen könnte?“
In diesem Moment wird eine Tür zu dem Gang, auf dem wir sind, aufgeschlagen und Qualm dringt heraus, gefolgt von einer dunklen Gestalt.
Greg stößt einen mädchenhaften Schrei aus und lässt die Spinnenbeine fallen. Die Gestalt taumelt hustend auf den Gang und scheint mit irgendwas zu kämpfen. Als das Wesen einmal kurz ins Licht einer Laterne stolpert, erkenne ich, dass sich mehrere dünne, schwarze Tentakel über den Oberkörper des vermutlich menschlichen Verdächtigen geschlungen haben. Das Gesicht der Person ist hinter einer leicht gewellten Masse schwarzer Haare verborgen.
„Sieht so aus, als hätte die Karva den Täter bereits geschnappt“, meint Greg mit Blick auf die Fessel aus haardünnen Tentakeln.
„Greg, bist du das?“, krächzt der Verdächtigte in diesem Moment und entpuppt sich als Frau. Als eine uns beiden nur zu gut bekannte Frau.
„Merkury?“, fragen Greg und ich gleichzeitig.
„Sag deiner Karva, sie soll die Tentakel von mir lassen!“, keucht Jane Merkury und hustet. „Ich bin sowieso schon bei der Fehlzündung halb erstickt!“
Greg pfeift und die schwarze Masse zieht sich von Merkurys Oberkörper zurück, kriecht schattengleich über die Wände und auf Gregs Kopf zurück, wo das rätselhafte Wesen erneut die Form langer Haare annimmt.
Vor uns steht eine recht kleine, jedoch kräftige Frau mit dichtem, schwarzem Haar, dunkler Lederjacke und Rußflecken im Gesicht. Sie hustet.
„Fehlzündung?“, fragt Greg, der beruhigend über die Karva auf seinem Kopf streicht.
Mir dämmert etwas. „Merkury, hast du etwa dein Ungetüm von einem Auto mit an Bord genommen?!“
„Natürlich, ohne das Ding geht sie nirgendwo hin“, sagt Greg verdutzt über meine wütende Stimme.
Merkury verschränkt die Arme vor der Brust. „Das Auto ist genauso sehr Teil der Geschichte wie Gregs komischer Parasit!“ Sie deutet zur Karva.
„Symbiont“, verbessert Greg.
„Parasit“, zischt Merkury und Greg verstummt.
Ich lege die Ohren genervt an. „Merkury, ist dein Auto für die Explosion verantwortlich?“
„Explosion? Na ja, die Fehlzündung war vielleicht etwas laut und ich bin aus Versehen an den Knopf gekommen, der Feuer aus dem Dach schießen lässt, aber von einer Explosion zu sprechen …“
Aus der noch immer geöffneten Tür hinter Merkury quellen letzte Rauchwölkchen. Ich sehe sie streng an. „Du darfst das Auto natürlich mitnehmen, aber dann musst du mir erklären, warum du an Bord auf die Idee gekommen bist, den Motor zu starten!“
Merkury zuckt mit den Achseln. „Ich hatte mein Zimmer bezogen und wollte mir den Aufbruch vom Bug aus ansehen. Das sind fast zweihundert Meter Strecke.“
Mir klappt das Maul auf.
„Gehen wir hoch“, schlägt Greg vor, ehe mir noch ein paar böse Worte bezüglich Umweltsünden und Faulheit einfallen. Ich stimme dem Schattenmann zu und Merkury folgt uns.
Oben wurden die Feuer zum Glück gelöscht und die Passagiere haben sich wieder von dem Schock erholt. Ein paar zerrissene Gestalten haben die Holzsplitter eingesackt, für den Fall, dass sie die irgendwo verkaufen können. Als ich zusammen mit Greg und Merkury an Deck trete, schwabbelt ein dicker Meermensch auf uns zu. Rick Everglade, der Polizeicaptain und Vorgesetzter von Gregori Shade und Jane Merkury. Letztere stöhnt leise. „Was will der Schwabbel denn jetzt?“
„Extasy? Shadow? Was war hier los?“, verlangt Everglade mit lauter Stimme zu wissen. Seine dicken Lippen verursachen dabei ein schmatzendes Geräusch.
Die beiden Polizisten tauschen einen Blick.
„Wir haben die Ursachen der Explosion untersucht“, beginnt Greg und lockert dabei seine Krawatte mit einer Hand. „Offenbar ist es unter Deck zu einem … ähh … Gasleck gekommen.“
„Genau, ein gefährliches Gasleck.“ Merkury springt sofort auf die Ausrede an.
„Und Detective Merkury hat das Leck zum Glück gefunden und gestopft, ehe mehr passieren konnte!“, führt Greg den Bericht zu Ende.
„Oh, nun ja … ja, sehr gut gemacht, Detectives!“, stammelt Everglade überrumpelt. „Ich dachte für einen Moment, ihr beide wärt irgendwie Schuld an der ganzen Sache.“
„Nein!“, sagen Greg und Merkury wie aus einem Mund und geben sich alle Mühe, unschuldig auszusehen. Ich rolle im Rücken der Beiden mit den Augen.
Everglade schwabbelt weiter und hinterlässt dabei eine glänzende Schleimspur auf dem Boden. „Es ist alles gut!“, brüllt er dabei mit reichlich feuchter Aussprache der restlichen Besatzung zu. „Repariert das Schiff, wir haben einen Termin einzuhalten!“
„Habt ihr hier alles im Griff?“, frage ich die beiden Polizisten.
Greg nickt. „Mach dir keine Sorgen.“
Die mache ich mir trotzdem, immerhin kenne ich meine Figuren. Trotzdem verlasse ich das Schiff und kehre auf meinen Beobachtungspunkt zurück. Wenig später entfalten sich die Segel erneut und der Rumpf des Schiffes schleift knirschend über den Boden, ehe er den Kontakt zum Felsen verliert. Zuerst ist es nur eine Pfotenbreite Abstand, doch während die Segel sich spannend, steigt das Schiff immer weiter auf und verlässt das Balkengerüst wie ein Vogel, der, flügge geworden, aus seinem Nest springt. Majestätisch, bis auf eine leichte Schieflage, erhebt sich das Himmelsschiff in die Lüfte. Der Bug zerschneidet das rote Band, das zwischen zwei großen Masten gespannt den Weg in das Sternenreich versperrt, wenigstens symbolisch.
Die „Schattenmann“ wird vom ersten Licht des Morgens beleuchtet, als sie sich aufmacht zu den Wolken. Der Schattenmann Gregori Shade ist am Steuer zu sehen. An Deck herrsch hektische Betriebsamkeit. Soweit ich das erkennen kann, werden die schweren Figuren besser verteilt, um die Schieflage zu mindern. Die Karva sitzt auch nicht länger auf Gregs Kopf, sondern flattert als Flagge am höchsten Mast. Eine schwarze und ziemlich zerfetzt aussehende Flagge. Und offenbar ist auf Deck jetzt eine Schlägerei ausgebrochen. Was habe ich eigentlich erwartet?
„Gute Fahrt“, wünsche ich dem Schiff leise.