Ari drehte sich allmählich erwachend auf die Seite. Gedämpfte Stimmen drangen an ihr Ohr, doch sie konnte die Worte nicht verstehen. Träge öffnete sie die Augen. Sie war allein. Tom lag nicht mehr neben ihr. Ihr Herz machte einen Sprung. Abrupt setzte sie sich auf und war unvermittelt hellwach. Gehetzt ließ sie den Blick durch ihr Zimmer schweifen. Toms Schuhe standen noch neben der angelehnten Tür, gleich neben ihren eigenen. Erleichtert wagte sie es wieder zu atmen.
Wieder hörte sie die Stimme ihrer Mutter. Conny klang ernst. Und besorgt. Ari schwang die Beine über die Bettkante und stand auf. Auf leisen Sohlen verließ sie ihr Zimmer und schlich durch den Flur. Die Küchentür stand offen und Ari lehnte sich an die Wand, damit sie nicht gesehen wurde und lauschte und lugte vorsichtig um die Ecke. Ihre Mutter saß am Tisch, hielt eine dampfende Tasse in der Hand und sah streng und mit erhobener Augenbraue geradeaus.
„Tommy", sagte sie leise und beinahe beschwörend. „Das kann so nicht weiter gehen!"
„Conny, ich hab keine Wahl. Was soll ich denn sonst machen? Ich hab das Studium abgebrochen. Was für einen Job würde ich den bekommen, der schnell genug ausreichend Kohle abwirft? Die scheiß Krankenkasse sitzt mir im Nacken. Wir sind mit der Miete überfällig und es flattern ständig neue Rechnungen ins Haus. Ich trau mich schon gar nicht mehr die Briefe zu öffnen."
„Ich red mit der Krankenhausleitung. Vielleicht können sie Kathrin pro bono behandeln."
„Bauchspeicheldrüsenkrebs? Das glaubst du selbst nicht."
Ari zuckte zusammen. Tom kannte also die Diagnose. Sie hatte es bereits von ihrer Mutter erfahren, doch hatte es nicht gewagt mit ihm darüber zu reden. Ihr Herz schmerzte vor Mitleid.
„Sie werden sie in den nächsten Tagen entlassen. Ich werd da sein und helfen sie nach Hause zubringen und alles herrichten, was sie braucht.Und du, Tom, melde dich, immer, egal zu welcher Tageszeit! Wir sind für euch da, hörst du? Egal was du brauchst."
Ari nickte unbewusst, als sie die Worte ihrer Mutter hörte. Er sagte nichts.
„Ich würde euch am liebsten beide hier herholen und bei uns wohnen lassen."
Aris Herz blieb einen Moment stehen. Sofort stellte sie sich vor, wie sie ihr Zimmer mit ihm teilte und ihr Bett.
„Ist schon gut, Conny. Vermutlich wird es eh nicht mehr lange dauern."
Ari biss sich auf die Lippen. Das Damoklesschwert über Katrins Haupt würde bald fallen, soviel war auch Ari klar. Sie fühlte sich furchtbar machtlos. Ein Gefühl, dass sie mit Tom und ihrer Mutter teilte.
„Wann kann ich sie sehen?", fragte er nach einer Weile.
„Tommy, nimm's mir nicht übel, aber wenn du so zu ihr gehst, wird sie sich nur aufregen. Du siehst furchtbar aus. Deine Mutter macht sich schon genug Sorgen und Vorwürfe. Sie glaubt, du gibts dein Leben und dein Glück für sie auf."
Wieder schwieg er. Ari starrte an die Decke und kämpfte die Tränen nieder. Sie hatte nie gefragt, was eigentlich mit Toms Vater war. Ob er noch lebte, irgendwann einfach abgehauen war, wie ihr eigener oder ob Tom überhaupt einen hatte. Doch allem Anschein nach war er als potentieller Unterstützer keine Option. Und sie wusste, dass es ihr nicht zustand ihn ins Spiel zubringen. Sicher würde Tom alle Möglichkeiten durchgespielt haben, wenn er am Ende nur in Bracht zog, sich für Geld irgendwo verprügeln zu lassen. Sie fragte sich schon lange, was genau er tat. Illegale Hinterhofkämpfe und perverse Typen, die ihre gewalttätigen Fetische an ihm auslebten, geisterten durch ihren Kopf. Sie schüttelte sich, als ihr ein kalter Schauer über den Rücken jagte.
„Danke für's Frühstück, aber ich glaub ich würde jetzt gern heim gehen..."
„Du gehst auf keinen Fall in diesem zustand. Ari fährt dich, auch wenn ich dich lieber zur Beobachtung hier behalten würde!"
„Nein, nein, schon okay, lass sie schlafen", widersprach er.
„Vergiss es, Bürschchen! Und ich pack dir auch noch was zu Essen zusammen."
Ari erwachte aus ihrer Starre, als ihr Mutter beim Aufstehen den Stuhl über die Fließen schob und flitzte hastig in ihr Zimmer. Sie stellte sich vor die Balkontür und starrte blind nach draußen, bis sie Conny in der Spiegelung erscheinen sah.
„Ari...", begann sie leise. Vermutlich wusste sie, das ihre Tochter das Gespräch belauscht hatte. Spätestens als Ari sich mit einer Hand übers Gesicht wischte, bevor sie sich zu ihr umdrehte. Sie biss sich auf die Lippe und erwiderte den Blick ihrer Mutter, mit dem gleichen bedrückten Ausdruck und nickte stumm.
Auch Cornelia nickte und verließ den Raum wieder, um Tom wie versprochen, ein paar Sachen einzupacken. Ari zog die Nase hoch und schlurfe mit hängenden Schultern zu ihrem Schrank. Sie schnappte sich ein paar frische Klamotten und lief damit ins Bad. Als sie die Küche passierte, hielt sie inne und warf einen Blick hinein. Tom saß am Tisch und sah ihrer Mutter zu. Als er sie bemerkte, drehte er den Kopf und sah sie stumm an. Die Haut um sein rechtes Auge war so dick, dass er das Lid nicht öffnen konnte und so dunkel, dass sie beinahe schwarz aussah.
Ari schluckte und wandte schnell den Blick ab. Sie huschte ins Bad, warf ihre Sachen auf den Klodeckel und stützte sich auf dem Rand der Badewanne ab. Ihr Herz pochte schmerzhaft und in ihr Kehle bildete sich fester Klos. Zitternd schnappte das Mädchen ein paar Mal zitternd nach Luft und versuchte sich zusammenzureißen, doch die Tränen brachen durch und sie sank zuckend auf die Knie. Ihre vom Schlaf zerzausten Haare fielen ihr ins Gesicht und klebten bald an den feuchten Wangen. Sie biss sich fest auf die Faust, damit niemand hört, wie sie heulte. Nach einer Weile, als sie Kontrolle langsam über sich zurück gewann und sich die letzten Tränen aus den Augen gewischt hatte, drückte sie auf die Toilettenspülung. Mit fahrigen Händen zog sie sich eine schwarze Jeans und das weiße Led Zeppelin Celebration Day-Shirt an und sah in den Spiegel. Ihr ganzes Gesicht war gerötet und ihre Augen leicht geschwollen. Schniefend kämmte sie sich die Haare, verknotete sie auf dem Kopf zu einem unordentlichen Dutt und öffnete schließlich den Wasserhahn, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Abschließend putzte sie sich halbherzig die Zähne, warf einen letzten Blick in den Spiegel und atmete tief durch.
Sie kam in die Küche, wo Tom, bereits fertig angezogen und ihre Mutter, mit betretenem Blick, auf sie warteten.
„Dann los", sagte sie knapp und machte auf dem Absatz wieder kehrt. Sie schlüpfte barfuß in die flachen Ballerinas, und griff nach dem Autoschlüssel, der in einer metallisch glänzenden Schale neben dem altmodischen Telefon lag. Conny begleitete Tom zur Tür und umarmte ihn zum Abschied. Tom ließ es nicht nur zu, sondern erwiderte die Geste auch noch, während Ari nach dem vollgepackten Stoffbeutel griff, den Ihre Mutter für Tom im Türrahmen abgestellt hatte. Sie wendete zähneknirschend den Blick ab und ging ohne zu warten voraus. Sie nahm die Treppen und sah nicht nach, ob Tom ihr folgte oder den Fahrstuhl bevorzugte. Den Kopf leicht schüttelnd und sich grämend, konnte sie es nicht fassen, tatsächlich eifersüchtig auf ihre Mutter zu sein.
Als sie die letzten Stufen nahm, verkündete ein leises Summen, das Öffnen der Fahrstuhltüren. Wenigstens war der Kerl einigermaßen vernünftig und ist nich gelaufen. Oder ihre Mutter hatte dafür gesorgt. Ari öffnete die Haustür und hielt sie für Tom offen, ohne ihn anzusehen. Er trat an ihr vorbei ins Freie und wartete, dass sie nach kam und ihm die Richtung zu Conny Auto wies. Ohne ein Wort ging sie an ihm vorbei. Ihr Faust hielt den Henkel des Beutels so fest, dass die Knochen weiß hervor traten.
Als sie den tannengrünen Mini Cooper 1275 S erspähte, wechselte sie auf die kaum befahrene Straße und schloss die Tür auf. Der Oldie hatte keine Zentralverriegelung und so ließ sie sich auf den Fahrersitz fallen, beugte sich rüber und öffnete die Beifahrerseite manuell.
Tom stieg ein und nachdem er sich angeschnallt hatte, stellte Ari ihm das Fresspaket auf den Schoß. Fest entschlossen weiterhin den Mund zu halten, steckte sie den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Wagen. Sie legte den Rückwärtsgang ein, warf einen Blick in den Spiegel und stellte genervt fest, dass sie sich zum Ausparken wohl oder übel richtig umdrehen musste, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte den Wagen hinter sich zu rammen. Warum bin ich eigentlich grad so angepisst?
Sie schloss kurz die Augen, dann drehte sie den Oberkörper nach hinten und legte den rechten Arm zur Unterstützung um den oberen Teil der Beifahrerlehne. Prompt rutschte Tom ein Stück zur Seite. Aris Brauen zogen sich unwillkürlich zusammen und ihre Augen wurden schmal, als sie ihm ins Gesicht sah. In seinem irritierten Ausdruck erkannte sie entsetzt, dass ihre eigene Mimik gerade zwischen unbändiger Wut und sofortigen Losheulen mäandern musste. Sie presste die Lippen aufeinander, blickte durch die Heckscheibe und parkte aus.
Während der gesamten Fahrt wechselten sie kein Wort. Ari hielt direkt vor seiner Tür auf der Straße und machte sich nicht die Mühe richtig zu parken. Sie starrte stur gerade aus. Tom warf ihr einen Blick, murmelte ein leises „Danke" und öffnete seine Tür.
Bevor er sie hinter sich zuschlug, drehte sich Ari doch noch zu ihm um und rief hastig: „Hey!"
Er hielt sofort, fast schon erleichtert inne, bückte sich etwas, um durch die niedrige Tür zu sehen und erwiderte erwartungsvoll ihren Blick.
„Meld dich, wenn was ist, ja? Du hast meine Mutter gehört. Wir sind da, immer!"
Tom öffnete leicht erstaunt den Mund. Mit dem Hauch eines Lächelns auf den aufgeplatzten Lippen nickte er ihr zu und schloss schließlich die Tür. Ari beobachtete, wie Tom sich seine Sporttasche über die Schulter warf, einen Schlüssel aus der Hosentasche zog und die drei Stufen zur Haustür erklomm. Sie wartete, bis er in der Dunkelheit des Hausflures verschwunden war und die Tür hinter ihm zu viel, bis sie sich auf den Weg nach Hause machte.
〜 〜 〜
Ari fühlte sich unruhiger denn je. Sie hatte Schwierigkeiten normal mit ihrer Mutter zu reden, obwohl sie wusste, dass es total albern war. Doch es nervte sie, dass Tom so normal mit Conny umgehen konnte, jedoch nicht mit ihr. Dass sie sich zum Abschied sogar umarmten. Sie bemühte sich, sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen und schob ihre schlechte Laune auf den Stress in der Praxis und auf die Uni. Sie war fast froh über Connys ständige Abwesenheit.
Es war nicht ganz zwei Wochen her, seit sie Tom von der Straße aufgelesen und bei sich schlafen lassen hatte. In der Zwischenzeit hatte es sie jeden Abend zu rastlosen Spaziergängen nach Draußen gezogen. Und jeden Abend fand sie sich vor Toms Tür wieder, wieso zu den erleuchteten Fenstern hinauf starte und sich fragte wie es ihm und Katrin ging. Toms Mama wurde vor über einer Woche entlassen, obwohl es ihr nicht besser ging. Doch neben ihrer Zahlungsunfähigkeit, meinten die Ärzte auch, dass es im Moment keinen Unterschied machte, ob sie zu Hause oder in der Klinik lag.
Cornelia ging seitdem jeden tag zu ihnen. Sie hatte Ari erzählt, dass sich Katrin gegen die Chemo entschieden hatte - zum großen Ärger Toms. Ari wunderte sich dagegen nicht, sie hätte die selbe Entscheidung getroffen, auch abgesehen von der finanziellen Belastung. Diese spezielle Krebs war, wenn er zu spät erkannt, wie es meistens der Fall war, das todsichere Ende für seinen Wirt. Im wahrsten Sinne. Metastasen durchsetzten die benachbarten Lymphknoten, die Leber und infiltrierten das Bauchfell. Eine Bestrahlung würde ihr Ende nur qualvoll in die Länge ziehen.
Ari lief durch die marginal beleuchteten Straßen von Toms direkter Nachbarschaft. Es war schon nach 23 Uhr, doch sie hatte am nächsten Tag erst nachmittags Uni und musste nicht in die Praxis. Und sie konnte nicht schlafen, sich nicht konzentrieren, nicht still sitzen, sich nicht mal von Netflix berieseln lassen. Also lief sie umher und versuchte den Kopf frei zu kriegen.
Parkway Drive schrieen durch ihre Kopfhörer „Broken hearts never mend, but fools never move on" und sprachen ihr damit aus der Seele. Mit Tunnelblick lief sie einfach gerade aus, ohne darauf zu achten wohin. Sie konzentrierte sich auf die Musik und sang die Texte im Kopf mit.
Bei einer dunklen Toreinfahrt rannte sie fast in einen Passanten hinein, der wie aus dem Nichts erschienen war. Sie sah erschrocken auf und wollte sich gerade entschuldigen, als er nach ihren Handgelenken griff und sie in Richtung der Finsternis der Einfahrt zu zerren versuchte. Überrumpelt, doch vor Schreck mit mehr Kraft ausgestattet, als sie eigentlich besaß, riss sie sich los, fuhr herum in die Richtung, aus der sie kam und rannte stolpernd drauf los.