Als Tom aufwachte, war es bereits hell. Haare kitzelten ihn an der Nase und er blinzelte einige Male, bevor er klar sehen konnte. Ari lag auf seinem Arm. Sie schlief noch. Ihre roten Locken waren völlig zerzaust und bedeckten fast ihr ganzes Gesicht. Die Kapuze seines Pullis war über die Nacht halb heruntergerutscht und bedeckt kaum mehr die Hälfte ihres Kopfes. Tom lächelte über ihren Anblick und strich ihr vorsichtig eine Strähne aus dem Gesicht. Schlagartig verblasste sein Lächeln. Aris Lippe war aufgeplatzt und getrocknetes Blut, ihr Blut, klebte an ihrem Kinn und unter ihrer Nase. Unendlich behutsam tastete er mit den Fingerspitzen über Aris Schläfen, Augenbrauen und Jochbeine. Letztere waren leicht geschwollen. Die beiden Mistkerle hatten sie geschlagen. Heiße Wut rollte durch seine Eingeweide und wie von selbst ballten sich seine Hände zu Fäusten. Mühsam beherrscht atmete er tief durch. Er wollte das Mädchen nicht wecken und am Ende noch mit seiner Wut erschrecken. Schlimmstenfalls könnte sie es missverstehen und Angst vor ihm haben. Allein die Vorstellung daran, versetzte ihn in Taumel. Er könnte es nicht ertragen, wenn dieses Mädchen sich vor ihm fürchten würde.
Tom biss sich auf die Lippe. Ari sah so friedlich aus. Er wusste nicht, wie lange es gedauert hatte, bis sie endlich eingeschlafen war. Sie hatte auch dann noch so heftig geweint und gezittert, als sie schon längst keine Tränen mehr übrig hatte. Er hatte sie die ganze Zeit festgehalten. Doch er wusste nicht was er sagen sollte, um sie zu beruhigen, um es wieder gut zu machen und so schwieg er bekümmert und drückte ihren kleinen Körper gegen seinen.
Nach einer Weile schnappte sie nach Luft, als atme sie zum ersten Mal nach einer Ewigkeit wieder frei. Dann mussten sie eingeschlafen sein, denn an mehr konnte sich Tom nicht erinnern. Irgendwann musste sie ihre Arme in die Ärmel seines Pullis gesteckt und sich umgedreht haben.
Versonnen betrachtete er ihr Gesicht. Zahllose Sommersprossen sprenkelten ihre zarte helle Haut von der Stirn bis zum Kinn. Er unterdrückte den Impuls das Blut wegzuwischen. Sonnenlicht zauberte hunderte Rot- und Goldschattierungen in ihr Haar, doch keiner traf den Ton des sanften Rotes ihre Lippen. Tom blinzelte und sah hastig weg. Es war Zeit zu gehen.
Vorsichtig rutschte er von der schlafenden Schönheit weg und zog seinen Arm unter ihrem Kopf hervor. Wie durch ein Wunder weckte er sie nicht. Er betrachtete sie noch einen Augenblick und aus einem Impuls heraus bückte er sich zu ihr herunter und hauchte ihr einen Kuss auf den Kopf. Fast erschrocken über sich selbst zog er sich schnell wieder zurück. Neben der Tür standen seine Schuhe. Er schnappte sie sich, griff sich in die Hosentasche und tastete nach seinem Schlüssel, bevor er schließlich Aris Zimmer verließ. Leise zog er die Tür ins Schloss, schlüpfte in seine ausgelatschten Vans und verließ die Wohnung.
Als die Tür ins Schloss fiel, schlug Ari langsam die Augen auf. Ausdruckslos starrte sie auf die noch immer leicht ausgebeulte Stelle ihrer Bettdecke, auf der bis vor wenigen Minuten noch Thomas gelegen hatte. Träge fielen ihre Augen wieder zu. Ihr fehlte die Kraft um sich zu bewegen oder etwas zu sagen. Sogar um zu denken. Sie hatte die leichte Berührung am Kopf gespürt, doch sie konnte nicht darüber nachdenken, was es war und warum er das getan hat. Wie im Nebel waberten graue Bilder durch ihren Kopf und verschluckten alle Töne, Farben und Gefühle.
„Ari?"
Conny klopfte an die Tür.
„Mmmh?"
„Hallo? Puppi? Alles ok? Es ist schon wieder dunkel... bist du heute überhaupt schon mal aufgestanden?"
„Hmm...", nuschelte Ari.
„Warst du gestern feiern? Bisschen viel getrunken?"
Ari zögerte. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter von der Sache erfuhr. Sie würde sich nur sinnlos aufregen und sich sorgen machen. Und Ari wollte es einfach nur vergessen und nie wieder daran erinnert werden. Zustimmen, Feiern gewesen zu sein, wäre eine perfekte Ausrede. Doch sie wollte ihre Mutter auch nicht vorsätzlich belügen. Sie entschied sich für eine leere Aussage, die Interpretationsspielraum lies.
„Hmmpf!"
„Na gut, Süße, falls du Hunger kriegst, ist was im Kühlschrank. Ich hau mich auf die Couch."
„Mama?", rief Ari, bevor Conny die Tür richtig schloss.
„Ja?"
„Wie geht's Katrin?" Sie drehte sich halb zu ihre Mutter um und stützte sich auf einen Ellenbogen. Die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht, doch sie strich sie sich nicht hinters Ohr. Sie wusste nicht genau, ob sie blaue Flecken im Gesicht hatte, doch notfalls wurde die Dunkelheit ihre Schändung kaschieren.
„Oh... naja, nicht gut, aber sie wird trotzdem demnächst aus dem Krankenhaus entlassen. In zwei, drei Tagen glaube ich. Sie will auch lieber zuhause sein. Ich soll dir liebe Grüße ausrichten."
„Danke... wie lange geben ihr die Ärzte?"
„Das ist schwer zu sagen, Maus," antwortete Conny mit belegter Stimme. Ari wusste wie nah ihrer Mutter die Situation ging, immerhin war Katrin eine ihrer ältesten Freundinnen. „Aber ganz egal wie lang, es wird nicht genug sein."
Ari nickte leicht und lies den Kopf wieder auf ihr Kissen sinken und ihre Mutter zog sich ohne weiter Worte zurück. Das Mädchen wurde von einer erdrückenden Traurigkeit erfasst, die ihre eigene Misere überschattete. Doch ihre Gedanken kreisten mehr um Tom, als um Katrin. Der Tod der Frau würde ihrem Sohn den Boden unter den Füßen wegziehen und ihn als Vollwaise zurücklassen. Ari fragte sich, was mit seinem Vater passiert war. Sie wusste nur, dass er tot war und Tom auch sonst keine Familie hatte. Er wäre dann ganz allein. Genau wie sie, wenn sie ihre Mutter verlieren würde.
Ari schluckt schwer und wischte sich über die feuchten Augen. Sie würde heute nicht mehr aufstehen. Und Hunger hatte sie sowieso nicht. Lustlos wälzte sie sich auf die Seite und zog die Decke über sich. Aus dem Augenwinkel sah ihr ein schwaches blaues Licht aufleuchten. Sie drehte sich um und angelte nach ihrem Smartphone. Auf dem Display war eine kurze Nachricht.
‚Alles OK? – Thomas'
Sie wüsste nicht ob sie Lachen oder losheulen sollte und schloss für einen Moment die Augen. Welch Ironie. Seine Mutter lag im Sterben. Ob ihm das schon bewusst war? Und vor nicht mal 24 Stunden hatte er ihr vermutlich das Leben gerettet. Und nun schrieb er sie an, weil sie zertrümmert in ihrem Bett lag und nicht, wie sonst, umgekehrt.
‚Ja. Und Danke! Aber kein Mucks über die Sache an deine oder meine Mutter! Klar?'
In der Erwartung keine Antwort zu erhalten, legte Ari das iPhone wieder auf ihren Nachttisch. Da erweckte eine neue Nachricht das Display zum Leben.
‚Das halte ich für keine gute Idee... Das ist nicht gesund!'
Ari starrte auf die Worte und schnaubte. Sie erwog, gar nicht darauf zu antworten, aber sie wollte auch eine klare Zusage seinerseits, damit er den Mund hielt. Was sollte sie schreiben, ohne kindisch, hysterisch und einfach bescheuert zu wirken und damit nur erreichen, dass er sie nicht ernst nahm und sich über ihren Wunsch hinwegsetzte, weil er glaubte, ihr damit einen Gefallen zu tun? Mehrfach begann sie Worte zu tippen, doch löschte gleich darauf wieder alles. Schließlich entschied sie sich es simpel zu halten.
‚Das ist meine Entscheidung. Bitte respektiere das. Gute Nacht'
Sie brauchte nicht lange auf die Antwort warten.
‚Wie du willst. Nacht'
Sie seufzte, legte das Smartphone zurück und zog sich die Kapuze von Toms Pulli, den sie noch immer nicht ausziehen konnte, wieder tief ins Gesicht.
Mit offenen Augen starrte Ari in die Dunkelheit und fand keine Ruhe. Etwas fehlte. Sie wälzte sich herum, schlug die Decke zurück und angelte erneut nach ihrem Telefon. Ohne recht zu wissen, was sie eigentlich mit dem Gerät wollte, entsperrte sie das Display und wischte suchend durch die Apps. Ihre geschwollenen Augen heften sich an ein Symbol mit einer Note auf weißem Grund. Sie tippte es mit der Fingerspitze ihres Zeigefingers an und scrollte durch ihre zahlreichen Playlists. Für jede Stimmung eine. Nur ihre aktuelle Stimmung, hatte sie nie vorausgesehen, um eine Playlist anzulegen. Sie ging einen Schritt zurück und scrollte nun stattdessen durch die Titel. Die Worte „Against them All" sprangen sie an und ihre Kehle zog sich zu. Hastig schloss Ari die Augen, doch die Schatten vor ihren inneren Augenlidern bildeten sich sofort zu zwei großen bedrohlichen Gestalten aus. Ihre Hände waren rau und ihre Gesichter dunkel und von irren Grinsen verzerrt. Ari kämpfte gegen die Tränen, doch sie brachen sich ungehindert ihre Bahn, als ihr dröhnender Kopf ihr vorgaukelte in einer dunkeln Gasse, auf hartem, kalten Pflaster, zu liegen.
Sie schnappte nach Luft und zwang sich die Augen zu öffnen und in die Sicherheit ihres Zimmers zurückzukehren. Hastig wischte sie mit dem Finger über das Display und die Worte verschwanden. Verdammt. Sie hatte den Song früher sehrgemocht. Doch sie wusste nicht, ob sie ihn je wieder würde hören können. Als ihr Display wieder zum Stillstand kam, überflog sie zahllose Titel, etliche davon Lieblingslieder. Doch keiner rief danach, abgespielt zu werden. Ihr Blick streifte vom Display an die Wand ihres Zimmers und von dort ins Nirgendwo. Achtlos ließ sie das Handy aus ihrer Hand gleiten. Ihr Kopf sank schwer auf das weiche Daunenkissen und schien sich herunterzufahren wie ein überhitzter Computer. Alle Kraft schwand aus ihren Gliedern und wohltuende Lethargie breitete sich aus. Sie vertrieb die Angst und den Schmerz aus ihrem System.
Eingekuschelt in ihre Decke, als wären es Minusgrade, dämmerte Ari endlich ein. Bereits träumend, hörte sie das Öffnen ihrer Tür und lächelte. Tom kroch zu ihr unter die Decke und schlang seine Arme wieder um ihren zitternden Leib, um sie vor der Dunkelheit zu beschützten und in einen sicheren Traum zu leiten.