Hallo,
Ich bin eine siebzehnjährige Schülerin eines Gymnasiums, liebe Musik und ich verletze mich selbst.
Das ist wohl eine komische Art, sich vorzustellen, aber es sieht mir ähnlich. Oft werde ich gefragt, wo der Grund für mein seltsames Verhalten liegt. Aber wie erklärt man das jemandem? Wie erklärt man jemandem, wie es sich anfühlt, sich selbst zu verletzen, wenn derjenige noch nie darauf angewiesen war bzw. es eben selbst noch nie erlebt hat? Puh, keine Ahnung.
Gesunde Menschen verstehen oft nicht, weshalb man es schön finden sollte, sich selbst zu verletzen und tun dieses Verhalten als krank ab. Sicherlich ist es Teil einer Krankheit, aber vielleicht sollte man auch mal versuchen, das Ganze aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, bevor man abschätzige Kommentare à la "Die will doch nur Beachtung" fallen lässt. Klar, es wird immer Leute geben, die gewisse Dinge nutzen, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen, aber das zu pauschalisieren ist nicht richtig. Möglicherweise hat das Mädchen, was ihre Narben sichtbar zur Schau trägt, kein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, sondern will einfach nur so akzeptiert werden, wie sie ist, denn die Narben sind ein Teil von ihr, wie auch ihre Beine ein Teil von ihr sind.
Viele denken, es ginge mir nicht gut, wenn ich zum Dosenöffner greife, um mir Schaden zuzufügen. Das muss nicht zwingend sein, wobei es auf die Definition von „nicht gut“ bzw. „schlecht“ ankommt. Wenn man das Ganze mit depressiv gleichsetzt, so wie ich es tue, dann geht es mir nicht immer schlecht, wenn ich das mache.
Ich würde mal sagen, Stress ist ein wesentlicher Faktor. Allerdings ist Stress bei mir fast ein Dauerzustand, weil ich mich noch über Sachen stressen kann, die Jahre her sind oder eben erst in Wochen eintreffen werden. Relativ häufig kann ich das verdrängen, aber manchmal geht es einfach nicht. Manchmal werfe ich mir Dinge vor, die dann Stress verursachen, obwohl sie es nicht müssten, weil es ziemlich unlogisch ist, dass das passiert bzw. dass das so stattgefunden hat oder die Person das so gemeint oder empfunden hat.
Letzten Endes läuft es wohl auf die sozialen Situationen heraus. Manchmal sagt jemand etwas, und ich fühle mich davon verletzter, als ich es eigentlich tun sollte. Aber Fakt ist, ich mache mir Gedanken darüber und BAM ist es Stress für mich. Also verletze ich mich. SVV ist Stressabbau. Es ist entspannend. Da bist nur Du und das, was dir Schaden zufügt. Dein Kopf ist leer, Du kannst dich ganz auf dich und das Gefühl, auf den Anblick konzentrieren. Nebenbei sei bemerkt, dass ich die Abkürzung für selbstverletzendes Verhalten lieber als „ritzen“ oder sonstige Wörter mit einer negativen Konnotation gebrauche.
Der Anblick ist wohl die zweite Sache. Frag mich nicht wieso, aber auf eine perfide Weise sind Narben schön. Sie machen dich einzigartig, jede einzelne hat eine Geschichte. Ich finde das äußerst faszinierend. Ich mag meine dunklen Kreuze auf Armen und Bauch, verblasste Schnitte auf meinen Beinen und an meiner Seite. Das ist vielleicht nicht ganz normal. Aber für mich macht das Sinn. Macht das für dich Sinn? Wohl eher nicht.
Schön. So ein tolles Wort, welches mich Wohl oder Übel zum nächsten Punkt bringt. Es ist nicht unüblich, dass Menschen mit einer Sozialphobie, also Menschen wie ich, an einer gestörten Wahrnehmung oder gar Dysmorphophobie leiden. Bei Letzterem weicht die Selbstwahrnehmung extrem von der Fremdwahrnehmung ab, zu beobachten beispielsweise bei Anorexia Nervosa, sprich Magersucht, bei der sich die Betroffenen viel dicker sehen als sie es wirklich sind. Wenn mir meine Mutter das vorwirft, dann weiß ich nicht so recht, wie ich adäquat reagieren soll. Woher soll ich wissen, wie mich andere sehen, wenn ich mich doch nur selbst als solches wahrnehmen kann? Und wie nehme ich mich wahr?
Tja, das ist der komische Part. Manchmal fühle ich mich hübsch, ja, und manchmal denke ich mir einfach nichts, wenn ich in den Spiegel schaue, um mich zu schminken, aber dann wiederum gibt es Tage, an denen ich mich frage, wie man nur so scheußlich aussehen kann. Ich weiß, jeder würde an der Stelle sagen: „Aber warum sagst Du das? Du siehst schön aus, wie Du bist!“ oder denken, ich würde genau das hören wollen. Ich wünschte, es wäre so. Denn an solchen Tagen verletze ich mich selbst. Als „Strafe“, dass ich so aussehe, wie ich aussehe.
Ich habe Angst, angestarrt zu werden, wenn ich irgendwo hingehe, einfach weil ich mich unattraktiv oder dick fühle. Dann liegen meine Haare nicht so, wie sie sollten, und der BH schaut schon wieder durch das Oberteil durch. Wenn ich so denke, und mir das dann wirklich jemand vorhalten würde, könnte ich es nicht ertragen. Davor habe ich Angst. Im Grunde genommen ist es mir egal, ob jemand der Meinung ist, dass meine Hose zu kurz sei, denn was ist es mein Problem, wenn mir Leute auf den Hintern schauen müssen. Aber manchmal macht mich sowas einfach fertig. Ich sehe nicht aus wie das Schönheitsideal es verlangt, und das reicht, um mich zu verunsichern und zu denken, ich sei nicht gut genug.
Manchmal verletze ich mich selbst, weil ich die Leute beneide, die essen können, was sie wollen, und so aussehen, wie es die Gesellschaft erwartet. Groß, schlank, attraktiv. Das bin ich nicht. Manchmal verfluche ich meine Gene dafür. Letzten Endes sind es ein paar, die von Natur aus mit “guten“ Genen, oder nennen wir es Anlagen, die zu einem modelgleichen Aussehen verhelfen, gesegnet sind, die es sich herausnehmen, über andere zu urteilen oder meinen, es dürfte nur diesen einen Typ Frau oder Mann geben. Das setzt mich unter Druck, weil ich es nicht in die Wiege gelegt bekommen habe. Letztlich ist das auch eine Art Druck oder Stress, die Erwartungen zu erfüllen.
Natürlich gibt es dann wirklich die Tage, an denen es mir schlecht geht, Tage an denen ich leicht depressiv bin, aber ich möchte behaupten, dass das in letzter Zeit nicht allzu viele sind. In solchen Momenten verletze ich mich, um etwas zu fühlen. Muss ganz schön komisch sein, sich das vorzustellen. Aber wenn man depressiv ist, fühlt man sich einfach nur leer. Oder man fühlt alles auf einmal. Es ist beunruhigend, sich für nichts mehr begeistern oder weinen zu können. Dann ist SVV der Beweis, dass man noch lebt; es vergegenwärtigt das Menschsein. Andererseits, wenn man alles auf einmal fühlt, sodass man vor lauter Emotionen selbst überfordert ist und platzen könnte, ist SVV wieder eine Möglichkeit, die Gedanken zu ordnen und herunterzufahren.
Der Witz ist, sprächen mich beispielsweise meine Eltern darauf an, würden mit mir diskutieren und versuchen wollen, mir zu helfen, hätte das wohl eher den gegenteiligen Effekt. Daraus würde nur eine panische Reaktion resultieren und letzten Endes wieder Stress, also auch wieder SVV. Tja, ganz schön kompliziert. Zugegebenermaßen versuche ich schon, es nicht mehr so oft zu tun und mir zu sagen, dass es Menschen gibt, die mich wirklich lieben, wie ich bin, und dass ich einfach lernen sollte, mich selbst zu mögen. Aber wie so oft bei psychischen Störungen muss man es selber wollen. Und ich weiß nicht, ob ich diese Stressbewältigungsstrategie schon aufgeben kann.
Man kann keinen Ertrinkenden retten, wenn er nicht um Hilfe ruft.
Wenn Du zu denen gehörst, die sich damit ein wenig verstanden fühlen und ein paar Dinge loswerden willst, hinterlasse mir doch gerne eine Nachricht oder einen Kommentar. Ich weiß, wie belastend es sein kann, wenn man niemandem zum Reden hat, und so ein bisschen Anonymität macht es manchmal etwas leichter.
Stay strong!