Ich schlug die Augen auf und blinzelte. Etwas blendete mich. Wahrscheinlich die Sonne. Von Draußen hörte ich lautes Gelächter. Das mussten Aria, Liv und Anna sein.
Vorsichtig setzte ich mich auf und streckte mich. Mein Kopf tat weh und meine Wange brannte. Nur wieso – ich hatte keine Ahnung. Ansonsten schien alles in Ordnung zu sein, wenn ich den leichten Schmerz in meinem Handgelenk ignorierte, der noch von der Volleyballprüfung von letzter Woche stammten und lauter kleiner Blutergüsse auf meinem Arm hinterlassen hatte.
Ich sah mich um. Offenbar lag ich auf einem der Betten in unserem Campingwagen. Naja, also eigentlich war es Livs, oder noch genauer, der Campingbus von Livs Eltern. Aber sie waren so freundlich gewesen und hatte uns im Gegenzug dazu, dass wir den Bus auf Vordermann gebracht hatten, erlaubt, dass wir ihn uns für die nächsten Wochen ausleihen durften.
Wir hatten zwei Wochen lang den alten VW-Bus neu gestrichen und ihn neu mit Betten und einer Kochnische ausgestattet. Nachdem wir die Fahrprüfung alle vier mit Bravour bestanden hatten, machten nur noch Annas Eltern Schwierigkeiten. Aber nachdem wir auch das Abitur bestanden hatten, hatte schließlich niemand mehr etwas dagegen, dass wir den ganzen Sommer lang in Europa herumreisen durften.
Unser Sommer.
Gleich am ersten Tag in den Sommerferien sollte es losgehen. Heuten also. Mühsam stand ich auf und ging nach draußen, wo die Stimmen der anderen ganz offensichtlich herkamen. Ich versuchte immer noch, mich daran zu erinnern, weshalb mir der Kopf so weh tat, ob ich mich vielleicht irgendwo gestoßen hatte, aber ich hatte nach wie vor keine Ahnung.
Wenn ich so darüber nachdachte, wusste ich eigentlich nicht, was den ganzen gestrigen Abend über geschehen war. Verwirrt schüttelte ich den Kopf und trat die zwei Stufen hinunter in den Garten von Livs Eltern, in dem unser Campingwagen nach wie vor stand. Nur wenige Meter entfernt saßen Liv, Aria und Anna unter einem riesigen, hässlichen Sonnenschirm, tranken Limonade und unterhielten sich lachend.
Ich trat näher, als Aria den Kopf hob und mich erblickte. Sie grinste mich verschwörerisch an. Ich lächelte verunsichert und hatte plötzlich das Gefühl, dass sich gestern Abend irgendetwas abgespielt hatte, an das ich mich einfach nicht mehr erinnerte, das mir aber schleunigst wieder einfallen sollte, wenn es für mich nicht peinlich werden sollte.
Jetzt hatten mich auch Anna und Liv entdeckt und winkten mir zu. Anna runzelte die Stirn.
„Emma, was ist denn mit deiner Wange passiert und wieso bist du so bleich?“
Ich runzelte die Stirn und setzte mich zu den anderen an den Tisch.
„Habe ich etwas verpasst?“, fragte ich. Jetzt wirkten Liv und Anna ebenso verwirrt wie ich.
„Nein. Wieso? Was sollte denn gewesen sein?“ „Ach nichts.“ Ich schüttelte irritiert den Kopf. „Übrigens, deine Eltern haben vorhin angerufen. Sie klangen sehr beunruhigt, wollte uns aber nicht sagen, worum es ging. Du sollst sie unbedingt zurückrufen.“
Ich nickte. Aria sah besorgt aus, aber irgendwie auch etwas verwirrt.
„Ja ist gut. Danke Aria. Ich rufe meine Eltern später an.“ Meinte ich und setzte mich zu den anderen an den Tisch.
„Aber du weißt was gilt. Ab 12:00 Uhr werden unsere Handys auf Flugmodus geschaltet und in Zukunft nur noch für Fotos machen und Musik hören benutzt. Alles andere verstößt gegen unseren Sommer-Kodex, den wir festgelegt hatten. Verstanden?“ Ich lächelte erfreut. „Auf unseren Sommer!“
Gegen Mittag räumten wir unser Geschirr zurück in den Bus und erledigten den Abwasch.
Als wir fertig waren, schauten wir vier uns verschwörerisch an und rannten dann gemeinsam zu einem der Betten, über dem wir einen kleinen Schrank angebracht hatten. Liv kletterte auf das obere der beiden Stockbetten und holte eine grosse Europakarte aus dem Kasten. Wir hatten alles, was uns wichtig erschienen war in diesen Kasten hineingelegt. Neben dieser Karte, gab es noch jede Menge Straßenkarten, eine große Kassette voller Geld mit den verschiedensten Währungen, vor allem aber Euro und eine Polaroid Kamera zusammen mit einem riesigen Haufen Filme.
Gemeinsam gingen wir wieder nach draußen und hängten die Karte an einen Baum. Anna holte einen Würfel und einen Dartpfeil hervor, den Liv vorhin ebenfalls aus dem Schränkchen geholt hatte und zwinkerte uns verschwörerisch zu. Auf diesen Moment freuten wir uns schon seit Wochen.
„Wer die höchst Zahl würfelt, darf werfen.“ Ich konnte es kaum aushalten, bis ich endlich wussten wohin wir als erstes fahren würden.
Aria würfelte als Erste. „Eine 5! Emma, schaffst du es, das zu toppen?“ Ich lachte auf. Es war wirklich unglaublich. Sogar im Würfel würfeln konkurenzierten wir. Uns war wirklich nicht mehr zu helfen. Egal um was es ging, wir mussten immer messen, wessen Ego das größere war.
Als nächstes würfelte Anna eine 3 und Liv eine 4. Jetzt war ich dran. Ich grinste und nahm den Würfen. Obwohl es eigentlich zu hundert Prozent mit Glück zusammenhing, wollte ich auf gar keinen Fall verlieren. Ich pustete auf den Würfel und schüttelte ihn dann kräftig, bevor ich warf. Er rollte über das unebene Gras, blieb beinahe auf der der drei stehen und kippte dann wie in Zeitlupe auf die sechs.
„Gewonnen!“ Ich grinste überlegen und schielte zu Aria herüber. Sie stupste mich lachend an und deutete einen Schlag an, bevor ich aufsprang und mir den Dartpfeil griff. Aria trat hinter mich und band mir ein buntes Tuch um den Kopf. Irgendwie kam mir die Geste bekannt vor, aber ich wusste nicht, woher.
Aria drehte mich so, dass ich in Richtung des Baumes schaute. Das vermutete ich zumindest, denn ich konnte ja nichts sehen. Ich nahm den Pfeil in die Hand und versuchte zu zielen. Dann warf ich ihn.
Ich hörte Liv lachen und Anna rief:“ Du hast den Baum verfehlt, Emma. Versuch es nochmals.“ Sie lief los und holte den Pfeil. Auch der nächste Schuss ging dagegen, aber beim dritten Mal traf ich.
Liv schrie begeistert auf und ich zog mir die Augenbinde vom Kopf, um herauszufinden, wohin ich getroffen hatte. Der Pfeil steckte mitten in Polen und wir einigten uns ziemlich schnell darauf, nach Danzig zu fahren. Niemand von uns war bis jetzt da gewesen, aber wir hatten natürlich alle unsere Vorstellungen und Erwartungen.
Wir verabschiedeten uns von Livs Eltern, und stellten in einer feierlichen Geste, bei der Anna schon irgendetwas zu murren begann, unsere Handys auf Flugmodus.
Und so fuhren wir los. Wir waren vier Mädchen, die noch keine Ahnung vom Leben hatten, alle vier Single, bereit das Leben in vollen Zügen zu genießen und mit lauter Unfug im Kopf.
Bis nach Danzig waren es ca. vierzehn Stunden reine Fahrzeit und wir beschlossen zu versuchen, in drei bis vier Tagen dort zu sein. Da wir erst gegen Mittag losgefahren waren, mussten wir mehr oder weniger bald irgendwo übernachten, Wir beschlossen allerdings bis nach Berlin durchzufahren und dann eine Nacht in der Stadt zu bleiben, um am nächsten Tag von dort aus weiter zu ziehen.
Bis nach Berlin waren es acht Stunden und wir wechselten uns in einem einstunden-Rhythmus am, was zwei Stunden Fahrzeit für jeden von uns bedeutete. Ich ließ Johnossy laufen, denn wenn ich jemals einen Film mit einer Autofahr-Szene im Regen drehen müsste, dann würden im Hintergrund Johnossy laufen, und es regnete zwar nicht, aber immerhin fuhren wir Auto.
Auf der Höhe von München hielten wir an einer Raststätte um auf die Toilette zu gehen. Wir rannten alle zusammen ins Gebäude und auf direktem Weg zu den WCs. Dummerweise hatte niemand von uns daran gedacht, dass man bei diesen Sanifair Toiletten 70 Cent bezahlen musste um durch das Drehkreuz zu gelangen.
Aber Aria musste so dringend auf Toilette, dass sie kurzerhand einfach durch das Tor für kleine Kinder krabbelte und in der Frauentoilette verschwand. Lachend folgten wir anderen ihr und beeilten uns anschließend wieder von dort zu verschwinden, als irgendeine alte, verkniffenen Oma uns irgendetwas von wegen heutiger Jugend und Anstand hinterherrief.
Die Fahrt ging weiter und schließlich begann es dann doch noch zu regnen. Früher als geplant wechselten wir den Fahrer, das Anna und Aria wegen ihrer Sehschwäche nicht bei so starkem Regen fahren wollten.
Ich melde mich freiwillig, damit Liv, die vorher über Kopfschmerzen geklagt hatte, sich etwas ausruhen konnte. Aria setzte sich neben mich und die anderen beiden gingen nach hinten. Dann fuhren wir weiter. Mittlerweile hatten wir so ziemlich alles an Musik gehört, was wir hatte und bevor wir uns Arias Depri-Playlist reinziehen mussten, die uns allen eh nur die Stimmung vermiesen würden, schaltete ich die k-pop Playlist die dich ich wegen meiner Cousine Mara auf meinem Handy hatte ein und wir lachten über die seltsamen Texte und die zweideutigen stellen, die wir zu hören glaubten.
Langsam wurde es dunkel und ich bezweifelte, dass wir Berlin heute noch erreichen würden. Die Fahrt zog sich dahin und fühlte sich endlos an und das, obwohl es eigentlich erst neun Uhr abends war.
Irgendwann war dann auch die K-Pop Playlist fertig und als der Verkehr dann auch noch zunahm drohte die Stimmung bereits am ersten Tag unseres Trips zu kippen. Zu allem Überfluss, bekam ich auch noch Bauchschmerzen, die immer stärker wurden. Das war kein gutes Zeichen. Normalerweise traten meine Bauchschmerzen dann auf, wenn ich nervös oder gestresst war. Als ich jünger war, hatte meine Mutter mich sogar einmal zu diversen Ärzten geschleppt, um abzuklären, dass sich kein lebendgefährlicher Tumor oder sonst irgendetwas in mir drin befand, das diesen Bauchschmerzen auslöste.
„Emma? Alles in Ordnung mit dir? Du siehst irgendwie ziemlich blass aus.“ Ich schreckte hoch und schaute aufs Steuer. Meine Hände krampften sich so fest um das Steuer, dass meine Knöchel weiß hervortraten. Ich zitterte am ganzen Körper. „Jaja alles okay. Geht sicher gleich wieder besser.“ Sagte ich und versuchte mich wieder auf die Straße zu konzentrieren.
Ich begann zu zittern und Schweißperlen traten mir auf die Stirn. Ich erinnerte mich gleich an mehrere Male, bei denen mir das passiert war. Als ich das erste mal meine Tagen bekommen hatte war ich sogar ohnmächtig geworden und einmal, als ich bei Aria gewesen war, hatte ich mit übergeben. Ich sollte jetzt wirklich nicht am Steuer sitzen, aber ich konnte mich nicht mehr richtig bewegen. Und ich war plötzlich so furchtbar müde und kraftlos.
„Leute, hier ist 80!“ Schrie Liv von hinten nach vorne.
„Emma!“ ich hörte die Panik in Arias Stimme, aber ich konnte mich nach wie vor nicht rühren. Der Wagen geriet ins Schlingern und ich glaubte Schreie zu hören. Aber ich wusste es nicht. Mir war plötzlich so anders.
Und dann wurde alles schwarz.