Zum ersten Mal, seit sie ihre Arbeit bei FFF angetreten hatte, wusste Mina nicht, was sie tun sollte. Die Akte lag aufgeschlagen vor ihr, ein kurzer Lebenslauf, das Foto, einige nützliche Informationen aus der Klatschpresse, alles, was sie brauchte, lag offen vor ihr. Sie wurde nicht oft eingesetzt, um neue Geldgeber zu kontaktieren, doch sie war inzwischen eigentlich geübt darin, auch diese Aufgabe zu übernehmen. Alle nötigen Informationen waren auch in diesem Fall vorhanden.
Bauchschmerzen bereitete ihr, was hier nicht stand.
Zum Beispiel, dass die Zielperson Alexander Friedrich Daniel von Hohenstein dieselbe Universität besucht hatte wie sie selbst und dass sie ihn entsprechend kannte.
Oder auch, dass Dan, wie er sich von seinen Freunden nennen ließ, dem Klischee eines eingebildeten Adeligen wahrhaft entsprach.
Oder wie wäre es mit dem kleinen Problem, dass es kaum einen Menschen auf der Welt gab, den der Herr von Hohenstein mehr hasste als sie – mit Ausnahme vielleicht von ihrem besten Freund Henrik, welcher die Ursache für den ursprünglichen Hass war.
Mina wusste, dass sie eigentlich über solchen kindischen Dingen stehen sollte. Ihre Animositäten mit Daniel sollten keine Rolle bei ihrer Arbeit spielen, sie sollte sich nicht von persönlichen Gefühlen leiten lassen. Doch hier stand einiges auf dem Spiel, nicht nur für sie persönlich, sondern auch für ihre Organisation.
Als relativ junge Nichtregierungsorganisation hatte Für Flora und Fauna, kurz FFF, es nicht leicht, sich auf dem Markt zu behaupten und Einfluss zu nehmen. Ihre Agenda war klar, nur an willigen Spendern mangelte es noch. Die Familie von Hohenstein war reich, sehr reich sogar, entsprechend aussichtsreich wäre eine Unterstützung durch sie. Doch Mina war sich sicher, wenn sie selbst auf der Türschwelle auftauchen würde, Daniel würde ihr die Tür direkt vor der Nase zuschlagen und ablehnen, ehe sie den Mund aufgemacht hatte, einfach nur, weil sei es war.
Sie musste ihrer Chefin das sagen. Sie fand den Vorschlag, die von Hohensteins einzuspannen, gut, doch sie konnte das nicht selbst tun. Sie musste die Karten offen auf den Tisch legen und ihr erklären, dass sie absolut ungeeignet war und ein Gespräch durch sie mit absoluter Wahrscheinlichkeit erfolglos bleiben würde.
Verdammter Daniel.
Wieso waren es immer die Idioten, auf die es ankam im Leben? Sie erinnerte sich auch noch sehr gut an ihre erste Begegnung mit dem einzigen Spross der Familie von Hohenstein.
Sie hatte gerade ihr drittes Semester in Jura angefangen und aus einer Laune heraus entschieden, dass das alleine sie nicht genug forderte, so dass sie nun zusätzlich einen Bachelor in Volkswirtschaftslehre anstrebte. Sie saß in der Einführungsvorlesung für Wirtschaftswissenschaftler und ließ ihren Blick wenig interessiert über ihre Kommilitonen schweifen. Sie hatte oft genug die Witze gehört, die andere Studenten über die Juristen rissen, doch hier, mitten zwischen den Wirtschaftswissenschaftlern, hatte sie nicht den Eindruck, dass die Juristen so auffallend besonders waren. Auch hier waren alle korrekt gekleidet, die Männer mit Hemd, die Frauen mit Bluse, und alle wirkten sehr wach und aufgeräumt.
Ihr Blick war unwillkürlich an einem jungen Mann hängen geblieben, der in dieser homogenen Masse ein wenig herausstach. Auch er war in Hemd und hochwertiger Jeanshose erschienen, doch im Gegensatz zu seinen männlichen Kollegen trug er das Haar nicht kurz und stilvoll mit Gel in Frisur gebracht, sondern lang, lang genug, damit er die platinblonden Haare in einem kurzen Pferdeschwanz zurückbinden konnte. Ein Mann mit einem Pferdeschwanz. Mina wurde schwach bei diesem Anblick. Insgeheim hatte sie schon immer eine Vorliebe für Männer mit langen Haaren gehabt, auch wenn sie das Henrik gegenüber nie erwähnte, aus Angst, er könnte das an seinen besten Freund René weitergeben, der sich womöglich beleidigt gefühlt hätte. Nichts lag ihr ferner, als René zu beleidigen.
Aber hier, nur wenige Reihen vor ihr im Auditorium Maximum, saß ein junger Mann mit langen Haaren, breiten Schultern und einer Armhaltung, die Selbstbewusstsein ausstrahlte. Er trug sein Haar lang und offenbar war er sich sehr sicher, dass ihm das stand. Mina betete, dass er sich wenigstens einmal umdrehen würde, damit sie eine Chance bekam, sein Gesicht zu betrachten.
Er tat ihr den Gefallen nicht. Mit einer Mischung aus lässiger Ignoranz und unterschwelligem Interesse folgte der junge Mann der Vorlesung, während er gleichzeitig mit seinen Kommilitonen links und rechts plauderte. Minas Aufmerksamkeit galt ebenfalls den Ausführungen des Professors, doch sie schickte immer wieder verstohlene Blicke zu dem Mann. Wie gelang es ihm nur, gleichzeitig Gespräche zu führen und Notizen zur Vorlesung zu machen? Sie wusste, dass man Frauen nachsagte, multitaskingfähig zu sein, doch für sie galt das Klischee definitiv nicht. Wenn sie den Inhalt einer Vorlesung oder eines Seminars verstehen wollte, dann musste sie von Anfang bis Ende zuhören und mitschreiben. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass seine Notizen sicherlich nicht so gut sein würden wie ihre eignen.
Zu ihrem Glück musste sie nicht lange auf eine Chance warten, das Gesicht des langhaarigen Mannes zu erspähen. Schon in dem Seminar, welches direkt im Anschluss an die Vorlesung stattfand, traf sie ihn wieder. Sie bejubelte innerlich ihr Glück, dass er ausgerechnet ihr Seminar besuchte – immerhin wurden ob der Masse an Erstsemestern ganze fünf gleichzeitig stattfindende Einführungsseminare angeboten. Sie saß bereits als eine der ersten in dem deutlichen kleineren Raum, dessen Tische U-förmig standen und so den Eindruck einer Schulklasse erweckten, als er zusammen mit vier anderen Studenten eintrat. Es verschlug Mina beinahe den Atem, als sie sein Gesicht sah.
Entgegen dem Trend, sich einen Vollbart stehen zu lassen, war dieser junge Mann glattrasiert, was seine feinen Gesichtszüge und strahlend blauen Auge unterstrich. Sein Gesicht war beinahe zu ebenmäßig, und auch wenn die spitze Nase und das kleine Kinn einen beinahe femininen Eindruck hinterließen, so lag doch ein Ausdruck in seinen Augen, als er den Raum überblickte, der dem eines Raubtieres alle Ehre gemacht hatte. Seine breiten Schultern, die noch durch den Schnitt seines Hemdes betont wurden, taten ihr Übriges, um jeden Gedanken an Weiblichkeit bei ihm zu zerstreuen. Vor Mina stand ein Mann, ein Mann, der sich seiner sehr sicher war und wusste, was er wollte.
Und das war in diesem Moment ganz offensichtlich, seine Kommilitonen damit zu beeindrucken, dass er die derzeit einzige anwesende Dame im Raum bezirzte.
Ohne zu fragen, setze er sich auf den Stuhl neben Mina, legte seine lederne Tasche auf dem Tisch ab und wandte sich dann mit einer aufreizenden Selbstverständlichkeit zu ihr um, die Mina sofort die Haare zu Berge stehen ließ. Breit lächelnd sagte er einfach: „Hi.“
Mina war sprachlos. In ihren ganzen zwanzig Jahren, die sie nun schon auf der Erde weilte, hatte sie nie einen Mann kennengelernt, der so aggressiv selbstbewusst war. Sie fühlte sich eingeschüchtert, sie spürte, dass ihre Wangen rot wurden, und beides ärgerte sie maßlos. Entsprechend gab sie selbst nur ein knappes: „Hi!“, von sich, ehe sie sich wieder ihren Notizen aus der Vorlesung widmete.
„Auch ein Erstsemester?“
Beinahe hätte Mina gelacht. All das Selbstbewusstsein, all diese wohlkalkulierte Art der Kleidung und Frisur – und dann kam dieser lahme Spruch? War das wirklich alles, was dieser Mann zu bieten hatte? Kopfschüttelnd ließ sie von ihren Notizen ab: „Eine mutige Behauptung, die du da aufstellst. Was ließ dich zu diesem Schluss kommen?“
Kurz wirkte er überrascht – hatte er wirklich gedacht, sie wäre beeindruckt von ihm? –, doch schneller als gedacht erholte er sich von der offensichtlich unerwarteten Attacke. Mit einem süffisanten Grinsen deutete er auf ihre Unterlagen: „Meine messerscharfe Beobachtungsgabe hat mir einige wichtige Informationen eröffnet. Zum Beispiel liest du gerade durch Notizen, die du offensichtlich eben in der Vorlesung gemacht hast. Und du sitzt in diesem Seminarraum für eine Veranstaltung, die sich an Erstsemester richtet.“
Mina wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Er hatte so stolz geklungen, als er diese Beobachtung präsentiert hatte – meinte er das wirklich ernst? Dachte dieser Mann, der sich so selbstbewusst gab, tatsächlich, er hätte gerade eine Leistung gebracht, die Sherlock Holmes neidisch machen würde?
„Oh, komm schon“, kam es schmollend von dem Studenten: „Das sollte ein Scherz sein. Lach drüber.“
„Ha ha“, machte Mina schwach, doch wirklich lustig konnte sie das nicht finden. Irgendwie hatte er zu überzeugt gewirkt, als er seine Ausführungen präsentierte, als ob er es wirklich ernst gemeint hatte, und nun nur so tat, als wäre es ein Scherz.
„Ich bin übrigens Alexander Frederick Daniel von Hohenstein“, verkündete er da ungefragt und hielt ihr eine Hand hin: „Freunde nennen mich Dan.“
Er war also ein von Hohenstein, das erklärte einiges. Sie zwang sich zu einem Lächeln und ergriff die Hand: „Mina. Angenehm.“
Fluchend fuhr Mina sich durch ihr Haar. Bis heute hatte sie nicht vergessen, wie hingerissen sie von Daniels Anblick gewesen war. Er hatte relativ schnell bewiesen, dass hinter seinem selbstbewussten Auftreten nicht viel steckte, aber trotzdem hatte sie nie das Gefühl der Bewunderung abschütteln können. Es war ein Fluch mit gutaussehenden Männern. Noch dazu, wenn sie reich und selbstbewusst waren.
Finster starrte sie auf das Foto, das ihr aus der Akte entgegen lächelte. Ja, Alexander Frederick Daniel von Hohenstein war schon ein ganz besonderer Mann. Es verging kaum ein Monat, in dem er nicht in der Klatschpresse war, auch wenn ihn das in der letzten Zeit gewiss nicht gefreut hatte.
Immerhin hatte sein Vater spektakulär in einem Prozess um Steuerhinterziehung verloren und war tatsächlich zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Er musste zwar nur ein Jahr davon absitzen und die Strafe, die er zahlen musste, ließ die Familie immer noch mehr als wohlhabend zurück. Doch die Vorstellung, dass der Inbegriff von Arroganz und Reichtum, dass Ludwig Friedrich Alexander von Hohenstein tatsächlich für ein Jahr lang hinter Gittern musste wie ein gewöhnlicher Verbrecher, das hatte die Presse und die einfache Bevölkerung zu Jubelstürmen veranlasst. An ihm war ein Exempel statuiert worden, die Häme und offen bekundete Abscheu für ihn und seine Familie kannte keine Grenzen. Entsprechend hatten Geschichten über die amourösen Abenteuer des von Hohenstein Juniors auch Platz gemacht für Titelstorys, die sein angebliches Leid schilderten. Ob Daniel, den seine Freunde Dan nannten, das so toll fand?
Minas Laune stieg ein wenig. Immerhin hatte das Leben einen Weg gefunden, wenigstens ein einziges Mal die Richtigen zu bestrafen. Sie kannte Daniels Vater nicht und er war ihr auch egal, doch für Daniel selbst musste die Inhaftierung des Vaters peinlich genug gewesen sein. Ob seine Freunde immer noch jeden Sonntag mit ihm zum Golfspielen gingen?
Nachdenklich ließ Mina eine ihrer braunen Locken durch ihre Finger gleiten. Die Familie hatte einen großen Rufschaden erlitten durch die Inhaftierung des Vaters. Eigentlich müsste es Daniel gelegen kommen, wenn man ihm die Chance gab, etwas für das Image zu tun. Kaum etwas eignete sich besser dafür, als eine großzügige Spende an eine Wohltätigkeitsorganisation oder eine Naturschutzvereinigung. Eigentlich konnte er gar nicht ablehnen, zu gut wäre so eine Gelegenheit.
Nur durfte sie den Vorschlag nicht unterbreiten, sonst würde er trotz aller Vorteile, die er aus einer Spende ziehen könnte, ablehnen.
Seufzend packte Mina die Unterlagen, um zu ihrer Chefin zu gehen. Sie war eine strenge Frau, aber nicht unmenschlich. Sie würde das verstehen. Zumindest hoffte Mina das.
Streng blickte Margarete Hoffmann über den Rand ihrer Brillengläser hinweg zu Mina. Der Vortrag und die wohlformulierten Argumente, warum sie unmöglich bei den von Hohensteins auf Spendenjagd gehen konnte, hatten die ältere Dame offensichtlich wenig beeindruckt. Mit einem Seufzen nahm sie ihre Brille ab, die nun dank der am Gestell befestigten Fäden wie eine Kette um ihren Hals hing: „Ich bin enttäuscht von dir, Mina. So leicht ziehst du den Schwanz ein?“
Mina musste hart darum kämpfen, nicht in sich zusammenzufallen. Enttäuschung war ein Gefühl, mit dem sie nicht umgehen konnte. Krampfhaft knete sie ihre Finger: „Ich versuche doch lediglich, an das Beste für unseren Verein zu denken.“
Margarete schüttelte den Kopf: „Nein, du versuchst, vor deiner Vergangenheit davonzulaufen. Der junge von Hohenstein scheint dich einst beleidigt zu haben und nun denkst du, wenn du ihn bloß ignorierst, dann wird das Leben schon weitergehen. Aber das wird es nicht. Nicht mit jemandem wie ihm.“
Innerlich rollte Mina mit den Augen. In einem früheren Leben hatte ihre Chefin einmal Psychologie studiert und obwohl sie sich nie als Psychologin niedergelassen hatte, liebte sie es doch, in allen Dingen einen tieferen Sinn oder verdrängte Probleme zu sehen. Das war hier schlicht und ergreifend nicht der Fall. Daniel hasste sie und ihre Freunde. Mehr war nicht dran an der Geschichte.
Sie versuchte noch einmal, ihre Chefin zu überzeugen: „Es geht hier ja gar nicht so sehr um mich. Ich habe kein Problem damit, mit jemandem zu verhandeln, den ich nicht mag. Aber er hasst mich. Er wird nicht mit mir reden wollen und wenn ich erstmal als Vertreterin des FFFs bei ihm gewesen bin, wird er nie wieder irgendetwas mit uns zu tun haben wollen.“
Doch Margarete war unbeirrbar: „Wie lange ist es her, dass du ihn das letzte Mal gesehen hast? Drei Jahre? Wer weiß, ob er immer noch so über dich denkt. Du willst weglaufen und ich lasse das nicht zu.“
Stöhnend vergrub Mina das Gesicht in den Händen. Diese Frau war unfassbar stur. Und beinahe noch unfassbarer war es, dass sie mit dieser Einstellung überhaupt jemals halbwegs grüne Zahlen schreiben konnten.
Ergeben nickte sie schließlich: „Okay, verstanden. Ich werde mein Glück versuchen. Aber wenn nichts dabei herauskommt und er oder seine Familie im Anschluss an jeglichen weiteren Verhandlungen nicht interessiert sind, dann laste das bitte nicht mir an. Du weißt, dass ich in jeder Situation höflich bleibe, ich verschrecke keine Kunden.“
Triumphierend klatschte Margarete in die Hände: „Genau deswegen will ich dich schicken. Sehr schön, Liebes, viel Erfolg!“
Mit weichen Knien wartete Mina an der Straßenbahnhaltestelle auf die Bahn, die sie unweigerlich zu ihrer Apokalypse bringen würde. Nachdem Margarete sich so unaufgeschlossen gezeigt hatte, hatte Mina das getan, was sie in solchen Situationen immer tat: Sich kopfüber ins Verderben stürzen. Sie wusste, wenn sie sich Zeit gab, über all die Probleme nachzudenken, die ein weiteres Treffen mit Dan mit sich bringen würde, hätte sie bloß den Schwanz eingezogen. Es reichte schon, dass sie jetzt eine halbe Stunde Fahrt in der Straßenbahn vor sich hatte, eine halbe Stunde also, in der ihre Gedanken ein Horrorszenario nach dem anderen ausbrüten konnten.
Was, wenn Dan sie wieder unendlich lange aus seinen blauen Augen anstarren würde? Schon als Student hatte er nur zu genau gewusst, wie leicht er andere damit aus der Fassung bringen konnte. Wie aufs Stichwort stieg eine dunkle Erinnerung in Mina hoch.
In dem Seminar, das sie zusammen mit Dan belegt hatte, war eine der Prüfungsvorleistungen ein Referat. Eigentlich hatte Mina nichts gegen Referate, zumindest wenn sie sich gut vorbereitet fühlte und sich auf ihre Gruppe verlassen konnte. Beides war an diesem Tag der Fall gewesen, aber trotzdem hatte sie eine merkwürdige Nervosität gespürt. Während ihre Kommilitonin die einleitenden Worte sprach, ließ Mina ihren Blick über die Reihen des Seminarraums gleiten. Nach den ersten Wochen hatte jeder Student seinen Lieblingsplatz gefunden, so dass sich von vorne meist ein ähnliches Bild ergab. Nur an diesem Tag nicht. Minas Blick blieb an Dan hängen, der aus unerfindlichen Gründen heute in der ersten Reihe saß. Das tat er sonst nie. Er hatte sich einen strategischen Platz eher in der Mitte des Raumes gesucht, von wo aus er gut zur Tafel schauen konnte und gleichzeitig im Blickfeld aller anderen Studenten war. Er hatte sich wortwörtlich zum Mittelpunkt des Seminargeschehens gemacht. Warum also saß er heute in der ersten Reihe, wo er sich verbiegen musste, um mit den anderen Studenten ins Gespräch kommen zu können? Er wirkte nicht einmal sonderlich interessiert an dem, was ihre Gruppe zu sagen hatte, zumindest schaute er bloß gelangweilt von der Präsentation an der Wand, zum Fenster, zu seinen Notizen und wieder zurück.
Innerlich rief Mina sich zur Ordnung. Es konnte ihr völlig egal sein, was der hohe Herr von und zu heute denken mochte. Es hatte nichts mit ihr zu tun. Mehr als ein paar freundlich gewechselte Worte hatte es nie zwischen ihnen gegeben.
Nachdem ihre Kommilitonin mit der Einleitung fertig war, trat Mina an die Tafel, um ein einfaches Schema anzumalen. Aus irgendeinem Grund bestand ihr Dozent darauf, dass sie alles in kleine Stücke zerlegten während ihrer Referate, am besten mit leicht zu merkenden Grafiken, die jeder selbst zeichnen konnte. Als sie damit fertig war und sich wieder zur Seminargruppe umdrehte, blieb ihr beinahe das Herz stehen. Dan schaute sie an, ganz direkt, nicht irgendwo nach vorne, sondern zu ihr, fing ihren Blick auf und hielt ihn fest. Mina räusperte sich, trat an den Laptop, um die erste Seite ihrer Präsentation aufzurufen, und begann zu reden. Dans Blick ruhte weiter auf ihr. Normalerweise ließ Mina ihren Blick wandern, schaute mal diesen, mal jenen Studenten an, vielleicht auch die Wand am anderen Ende oder den Dozenten. Aber heute war das unmöglich. Wann immer ihr Blick Richtung Publikum wanderte, kreuzte sie Dans Blick.
Hitze stieg ihr in die Wangen. Warum war ihr das so unangenehm? Angestrengt starrte sie an die gegenüberliegende Wand, doch sie nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie Dans Lippen sich zu einem Grinsen verzogen. Er machte sie nervös und er wusste es. Mina war sich sicher, dass ihre Wangen inzwischen leuchtend rot sein mussten.
Hass stieg in ihr auf. Sie hatte Dan nichts getan, sie war zu ihm ebenso höflich wie zu jedem anderen. Was war sein Problem? Oder war sie einfach die letzte Frau hier, die noch nicht seinem Charme verfallen war? War das für ihn nur ein Spiel? Brachte er gerade ihre guten Noten und ihren Stand beim Dozenten in Gefahr, nur, weil sie für seine Avancen nicht so empfänglich war?
Dabei stimmte das nicht einmal. Sie fand ihn genauso gutaussehend, wie all ihre Kommilitoninnen es taten. Es war einfach nur ihr Stolz, der sie daran hinderte, auf seine Flirtversuche einzugehen. Das und die Tatsache, dass es René gab, einen schüchternen jungen Mann, der offensichtliches, echtes Interesse an ihr hatte, nur nicht den Mut aufbrachte, den ersten Schritt zu tun. Sie wollte eine Beziehung mit René, aber irgendwie hatten sie es noch nicht geschafft, aufrichtig miteinander zu sprechen. Ein Flirt mit Dan war das letzte, was sie in dieser Situation gebrauchen konnte.
Hochrot und sich selbst nur zu bewusst, dass sie viel zu viel gestottert hatte, beendete Mina ihren Vortrag und ging zurück zu ihrer Gruppe, um dem nächsten das Wort zu überlassen.
„Alles klar?“, flüsterte eine ihrer Kommilitoninnen leise: „Du hast unsicher gewirkt.“
Energisch schüttelte Mina den Kopf: „Ich war nicht unsicher. Nur aus dem Konzept gebracht. Unser Referat ist gut, keine Sorge.“
Zweifelnd schauten ihre Gruppenmitglieder sie an, doch keiner widersprach. Bebend vor Zorn nahm Mina sich vor, Dan nach der Stunde zur Rede zu stellen. Er sollte sich bloß nichts darauf einbilden, dass sie rot geworden war. Wenn man so penetrant angestarrt wird, kann man gar nichts dagegen tun, rot anzulaufen.
Als der Dozent schließlich die erlösenden Worte sprach und das Seminar für beendet erklärte, packte Mina eilig ihre Sachen, um schnell von diesem Ort der Schande zu fliehen. Sie wollte Dan lieber doch nicht unter die Augen treten. Was sollte sie ihm auch sagen? Konnte man es irgendwem verbieten, dem Referenten Aufmerksamkeit zu schenken?
„Hey, Mina!“, erklang die Stimme des Teufels höchstpersönlich hinter ihr, gerade als sie die Treppen erreicht hatte. Fluchend erkannte Mina, dass sie nicht so tun könnte, als hätte sie ihn nicht gehört. Sie blieb stehen und drehte sich mit demonstrativer Ungeduld um: „Was?“
Mit wenigen langen Schritten war Dan bei ihr angelangt: „Das heißt nicht was, sondern wie bitte.“
Sprachlos schüttelte sie den Kopf und stieg die Treppen hinab. Dieser Mann war einfach unbeschreiblich in seiner Arroganz. Als wäre ihm ihre abweisende Haltung egal, ging er neben ihr her: „Ich dachte, ich wäre höflich, wenn ich mich nach deinem Wohlergehen erkundige. Du warst heute nicht du selbst.“
Mina biss sich auf die Zunge. Sie durfte sich von ihm nicht aus der Ruhe bringen lassen. Sollte er nur sein Spiel spielen, sie würde nicht darauf eingehen. Am Fuß der Treppe angekommen, schaute sie zu ihm hoch: „Danke der Nachfrage, alles bestens.“
Ein wissendes Grinsen legte sich auf seine Lippen und ehe Mina sich versah, hatte Dan einen Arm über ihr gegen die Wand gestützt und sie damit praktisch mit seinem Körper gefangen genommen: „Hören wir doch auf mit den Ausreden“, raunte er ihr zu, „wir wissen doch beide, warum du so nervös warst. Wann gestehst du dir endlich ein, dass du mir mit Haut und Haar verfallen bist?“
Minas Magen schien sich plötzlich in eine Brutstätte für Schmetterlinge verwandelt zu haben, so nervös, wie es darin flatterte. Doch ihr Verstand war nicht bereit, vor den Hormonen zu kapitulieren: „Was du hier gerade machst, von Hohenstein, kann ganz leicht als sexuelle Belästigung ausgelegt werden. Ich wünsche diese körperliche Nähe nicht und wenn du mich hier gegen meinen Willen festhältst, bewegst du dich auf gefährlichen Territorium.“
Sie hatte ihren Worten eine eiskalte Note gegeben. Seine Nähe, seine Größe, seine offensichtliche körperliche Überlegenheit machten ihr tatsächlich Angst, auch wenn die niederen Instinkte ihres Körpers sich freudig auf genau diese Aspekte stürzten. Sie wollte nicht von ihm angefasst werden.
„Sexuelle Belästigung“, kam es gedehnt von Dan, „also ernsthaft. Das meinen Sie nicht wirklich, Frau Richter.“
Mina entging der spottende Unterton bei seiner förmlichen Anrede nicht. Störrisch reckte sie das Kinn vor: „Du bist mir zu nahe. Was eine Frau als Belästigung empfindet und was nicht, ist nicht deine Entscheidung!“
Sein Mund wurde zu einer dünnen Linie der Wut, doch er trat tatsächlich einen Schritt zurück und ließ sie gehen. Mina packte ihre Tasche fester, dann sagte sie leise: „Wenn du mich noch einmal so anstarrst, während ich ein wichtiges Referat halten muss, werde ich das nicht einfach so hinnehmen. Das ist gruselig, und ganz ehrlich, von deiner Seite aus fast schon ein bisschen peinlich. Bist du nicht zu alt für solche Spielchen?“
Sie konnte sehen, dass Dan die Fäuste ballte, als ob er sich daran hindern musste, nach ihr zu greifen. Angespannt presste er hervor: „Du stehst auf mich. Wenn du mal von deinem hohen Ross runterkommen würdest, könntest du das vielleicht einsehen. Ich weiß, wie Verlangen aussieht, wenn ich es sehe.“
Dans blaue Augen leuchteten vor Zorn, doch diesmal war er es, der den Blick zuerst senkte und sie dann einfach stehen ließ.
Unzufrieden mit sich selbst blies Mina sich eine Strähne aus dem Gesicht. Das war genau die Art von Erinnerung, die sie jetzt nicht gebrauchen konnte. An dem Tag war ihr zum ersten Mal richtig bewusst geworden, wie schwach sie beim Anblick von Dan werden konnte. Er hatte sich aufgeführt wie ein Arschloch, und trotzdem hatte sie dieses furchtbare Verlangen verspürt, ihn zu küssen. Gleichzeitig war das der Tag gewesen, an dem sie das erste Mal mit Dans zorniger, unausgeglichener Seite in Berührung gekommen war. Und diese Seite hatte ihr schon damals Angst gemacht. War sie wirklich bereit, diesem Mann noch einmal unter die Augen zu treten?
Plötzlich erinnerte Mina sich daran, dass Dan noch bei seinen Eltern lebte. Was bei jedem anderen siebenundzwanzigjährigen Mann traurig gewirkt hätte, schien in seinem Fall gesellschaftlich akzeptiert, da er nicht einfach noch zu Hause wohnte, sondern seinen eigenen Flügel im elterlichen Anwesen hatte. Eventuell konnte sie zunächst mit seiner Mutter sprechen und sie von der Sache überzeugen, ehe sie das Geschäftliche mit Dan selbst regelte. Wenn seine Mutter auf ihrer Seite wäre, würde er sich gewiss schwerer tun, ihren Vorschlag unbegründet abzulehnen.
Etwas zuversichtlicher schaute Mina aus dem Fenster der Straßenbahn. Sie fuhren gerade am Fußballstadion vorbei, etwa die Hälfte der Strecke war also schon geschafft. Grinsend fragte sie sich, ob Henrik heute Abend wohl René wieder ins Stadion schleifen würde, weil seine Lieblingsmannschaft spielte.
Schon während ihrer gemeinsamen Zeit an der Uni hatte Henriks Leben zu einem großen Teil aus Fußball bestanden. Sie hatten im selben Jahr Jura studiert und schnell beschlossen, eine gemeinsame Lerngruppe aufzumachen. Doch viel zu oft hatte Henri ihr abgesagt, weil er ein zusätzliches Training mit der Uni-Fußballmannschaft machen wollte.
„Rate mal, wer neu in der Mannschaft ist“, hatte Henri eines Abends angefangen, als sie gemeinsam mit René in ihrer gewohnten Cocktail-Bar saßen.
Ratlos zog Mina die Schultern hoch: „Keine Ahnung? Wir haben über zwanzigtausend Studenten in der Stadt, ich kenne wohl kaum jeden von ihnen.“
„Aber diesen schon“, grinste Henri breit: „Alexander Frederik Daniel von Hohenstein!“
René verschluckte sich beinahe an seinem Bier: „Der Idiot aus Minas BWL-Kurs?“
Henri nickte bestätigend: „Eben jener. Ich konnte es erst auch nicht glauben, ich meine, von einem reichen Muttersöhnchen erwartet man jetzt nicht unbedingt Fußball, oder? Eher Golf oder so.“
Stöhnend rieb Mina sich die Schläfen: „Du tust mir jetzt schon leid. Dan führt sich immer auf, als ob ihm die Uni gehört und jeder sich ihm unterordnen muss. Hoffentlich macht er dir keinen Ärger.“
Henri machte eine wegwerfende Handbewegung: „Glaub mir, solche wie ihn hab ich am liebsten. Ruhen sich auf ihrem Geld aus und denken, sie können sich ihre guten Noten und ihr Ansehen erkaufen. Unsereins arbeitet hart für das Studium und sein Leben scheint nur aus Partys zu bestehen.“
Statt eine Antwort zu geben, nippt Mina an ihrem Cocktail. Was Henrik da sagte, stimmte bei Daniel nicht ganz. So ungerne sie es auch zugab, er hatte tatsächlich gute Noten, weil er aufmerksam und engagiert war. Manchmal musste sie sich sogar anstrengen, um ihn zu übertreffen. Aber sie würde das Henri niemals sagen. Er konnte sich sein Studium nur leisten, weil er ein Stipendium erhielt, und brachte von Haus aus einen Hass auf alle, die reich und privilegiert waren, mit. Nachdenklich legte sie den Kopf schräg: „Ich vermute mal, du wirst ihm zeigen, dass man beim Fußball Talent haben muss, um irgendetwas zu erreichen?“
Ein harter Ausdruck trat in Henris Augen: „Darauf kannst du dich verlassen. Ich habe ein Semester hart trainieren müssen, ehe sie mich in die Stammmannschaft aufgenommen haben, und ich habe ein weiteres gebraucht, um einen Platz als Starter zu bekommen. Wenn er von Anfang an als Starter dabei ist, kriegt unser Coach definitiv was zu hören. Ich will nicht mit jemandem zusammen spielen, der sich seinen Platz nur erkauft hat.“
„Kann ja auch gar nicht im Interesse eures Coaches sein!“, stimmte René hitzig zu: „Ich meine, wenn dieser Adels-Schnösel nichts taugt, dann wird er euch nur runterziehen! Und dieses Semester habt ihr endlich mal die Chance, auf Landesebene was zu reißen! Das kann euer Coach nicht einfach aufgeben, nicht für alles Geld der Welt.“
Mina warf ihm ein warmes Lächeln zu. Sie war froh, dass sie durch Henri René kennengelernt hatte. Selten zuvor war sie einem so loyalen, ehrlichen Menschen begegnet wie René. Er war zwar kein Student, sondern machte eine Ausbildung bei der Polizei, aber er hatte das Herz am rechten Fleck, hatte auf seine Weise viel Ahnung von juristischen Details und sah auf eine jungenhafte Weise gut aus. Wenn er sie manchmal anlächelte, schmolz ihr Herz einfach weg. Ihn so vehement bei der Verteidigung seines besten Freundes zu sehen, bestätigte ihr nur, dass er es wert war, irgendwann den ersten Schritt zu machen.
Grinsend schloss Mina die Augen, während die Straßenbahn an der nächsten Haltestelle hielt. Dass sie damals ernsthaft befürchtet hatten, dass Daniel sich einfach so in die Mannschaft einkaufen könnte, war im Nachhinein beinahe lachhaft. Natürlich hatte René Recht gehabt: Der Coach gab jedem dieselbe Chance, aber wer sich nicht bewies, kam nicht in die Stammmannschaft und erst recht bekam er keinen Platz als Starter. Während seiner gesamten Zeit an der Uni hatte Dan es nie zum Starter geschafft. Er spielte wie Henri auch im Mittelfeld, aber selbst sie als Laie konnte bei den Trainings, die sie besuchte, sehen, dass er nicht gut genug war.
Ob das damals wohl der Auslöser für Dans Hass auf Henrik gewesen war? Obwohl Daniel und Henrik sich auf dem Campus theoretisch nie über den Weg gelaufen waren, hatten sie doch eine berüchtigte Fehde miteinander geführt. Mina hatte nie genau verstanden, was Daniels Problem mit Henri gewesen war, umso mehr verstand sie dafür Henris Hass auf Daniel. Wie kleine Kinder hatten sie bei jeder Gelegenheit ihre berühmten Wortgefechte geführt – meistens auf einer Party, fast immer betrunken.
Schwungvoll stand Mina auf, um sich für die kommende Haltestelle an die Tür zu stellen. Irgendwann hatte jeder in ihrem Freundeskreis gewusst, dass Daniel regelmäßig versuchte, Henri dumm dastehen zu lassen. So sehr sie auch zur Vernunft gemahnt hatte, hatten ihre Freunde und insbesondere René doch keine Gelegenheit ausgelassen, den blonden Schönling zu provozieren.
Dass sie die beste Freundin seiner Hassperson Nummer eins war, hilf Mina wenig bei ihrer bevorstehenden Aufgabe. Immerhin lag die Uni-Zeit nun hinter ihnen und soweit sie wusste, waren sich Henrik und Daniel schon lange nicht mehr über den Weg gelaufen. Vielleicht hatte er seine alte Fehde ja auch schon vergessen. Vielleicht hatte die Zeit gereicht, um seine Abneigung gegen sie abzumildern.
Tief holte Mina Luft. Hier war sie also, weit draußen vor der Stadt, dort, wo nur noch herrschaftliche Villen standen. Vor ihr ragte ein beeindruckendes Tor auf, das keinen Blick auf das dahinter liegende Anwesen zuließ. Auch die hohe Mauer schirmte die Bewohnter zuverlässig von neugierigen Besuchern ab. Mit zitterndem Finger drückte Mina auf den Klingelknopf.
Einige Sekunden vergingen, dann ertönte ein Knarzen und die leicht verzerrte Stimme eines älteren Herrn: „Guten Tag, meine Dame, was kann ich für Sie tun?“
Mina unterdrückte ein Augenrollen. Natürlich würde bei einer Familie wie den von Hohensteins niemand selbst die Gegensprechanlage bedienen. Natürlich hatten sie einen Pförtner. Höflich erwiderte sie: „Ich komme von der Organisation Für Flora und Fauna. Mein Name ist Mina Richter, ich würde gerne mit Frau von Hohenstein ein geschäftliches Gespräch führen.“
„Haben Sie einen Termin vereinbart?“
Innerlich fluchte Mina. Sie hatte gewusst, dass sie den üblichen Gang der Dinge hätte wählen sollen, doch dann hätte sie vermutlich auf halber Strecke der Mut verlassen. Etwas zerknirscht erwiderte sie: „Nein, leider nicht. Ich war … gerade in der Gegend.“
Kurze Stille erfolgte, dann erwiderte der Mann: „Frau von Hohenstein ist leider gerade nicht anwesend. Aber wenn Sie es wünschen, kann ich ihren Sohn über Ihr Kommen informieren. Er wird sie gewiss empfangen.“
Gequält schloss Mina die Augen. So viel zu ihrer Hoffnung, über die Mutter an den Sohn ranzukommen. Ergeben nickte sie: „Vielen Dank. Das wird gehen.“
Ein Summen ertönte, dann öffnete sich das Tor langsam und gab den Blick auf ein beeindruckendes Herrenhaus frei, das etwa fünfzig Meter von der Einfahrt entfernt lag. Mit unsicheren Schritten überquerte Mina den Parkplatz, von dem aus ein perfekt gepflegter Kieselsteinweg vorbei an perfekt gepflegten Rasenflächen mit perfekt beschnittenen Bäumchen und Büschen zum Haus hin führte. Unwillkürlich fühlte sie sich an die Szene aus Stolz und Vorurteil erinnert, in der Elisabeth das erste Mal das Anwesen von Darcy bestaunen durfte. Mina war nicht arm, ihre Eltern hatten ihr einen guten Start ins Leben ermöglicht, aber das hier war jenseits all ihrer Vorstellungskraft. Reiche Menschen, die auf einen langen Adelsstammbaum zurückschauen konnten, lebten wirklich in einer anderen Sphäre.
Sie drückte die Schultern durch und marschierte entschlossen auf das Haus zu. Der Reichtum der von Hohensteins hatte sie zu Studienzeiten nicht beeindruckt, sie würde jetzt nicht damit anfangen, davor zurückzuschrecken.
Sie hatte die riesige Eingangstür kaum erreicht, da wurde sie geöffnet und ein älterer Herr, der wie ein englischer Butler aus alten Filmen gekleidet war, stand vor ihr: „Frau Richter?“
Es war dieselbe Stimme wie an der Toreinfahrt. Sie hatte nicht mit einem Pförtner gesprochen, sondern mit einem Butler, zumindest wenn sie nach den Äußerlichkeiten ging. Mina zwang ein höfliches Lächeln auf ihre Lippen: „Richtig. Vielen Dank, dass Sie mich so unkompliziert empfangen.“
Er nickte nur, ohne ihr Lächeln zu erwidern: „Ich habe Herrn von Hohenstein über Ihr Kommen informiert. Er hat nicht viel Zeit, er wäre Ihnen daher dankbar, wenn Sie sich kurz fassen könnten. Bitte folgen Sie mir.“
Nachdem der ältere Herr ihr ihren Mantel abgenommen hatte, führte er sie von der Eingangshalle durch einen längeren Gang. Vor einer von vielen Türen blieb er stehen, klopfte an und sagte dann mit lauter Stimme: „Frau Richter ist jetzt anwesend.“
Mina konnte das Geräusch eines Bürostuhls hören, der über festen Boden rollte, dann erklangen Schritte und die Tür ging auf. Vor ihr stand, in seiner ganzen, ihr nur zu bekannten Pracht, tatsächlich Daniel. Noch immer trug er sein Haar lang und zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden, noch immer schien er auch in der Freizeit Anzughosen und Hemd zu bevorzugen. Seine blauen Augen ließen keinerlei Aufschluss darüber zu, ob er sie wiedererkannt hatte. Stattdessen nickte er seinem Angestellten freundlich zu: „Danke. Ich melde mich, sobald unser Gast uns wieder verlässt.“
Der Butler deutete eine Verbeugung an und zog sich zurück. Auf die einladende Geste von Daniel hin trat Mina in sein geräumiges Arbeitszimmer ein. Es wirkte merkwürdig deplatziert in diesem altertümlichen Haus, denn obwohl auch hier dunkles Parkett ausgelegt war, standen im Raum ansonsten nur sehr moderne, schlichte Möbel sowie ein großer, aber filigran wirkender Schreibtisch mitsamt praktischem Bürostuhl, und die Technik war ebenfalls auf dem neuesten Stand. Alles wirkte praktisch, modern und minimalistisch.
„So, so“, machte Dan plötzlich, während er zu seinem Stuhl zurückschlenderte, „da taucht also tatsächlich Mina Richter vor meiner Tür auf. Wer hätte das gedacht?“
„Ja“, lächelte sie schwach, während sie sich nach einer Sitzgelegenheit umsah: „Wer hätte das gedacht?“
Daniel deutete auf einen schlichten Stuhl in der Ecke seines Raumes, ehe er kühl, aber nicht desinteressiert nachfragte: „Was verschafft mir die Ehre?“
Mina setzte sich, holte ihre Unterlagen aus der Tasche und atmete tief durch. Sie war hier als Repräsentantin von FFF, ganz professionell. Sie würde das Gespräch durchziehen wie jedes andere auch.
„Ich besuche dich im Auftrag von FFF, dem Verein Für Flora und Fauna. Wir sind eine Nicht-Regierungs-Organisation, die sich dem Umweltschutz verschrieben hat, wie der Name vermuten lässt. Wir haben spezifische Ziele für Deutschland, sind also nicht so international gebunden wie viele andere, bekanntere Organisationen. Bisher konnten wir schon einige Erfolge verbuchen, aber natürlich müssen wir auch in die Zukunft schauen und größer denken.“
Mit erhobener Hand unterbrach Daniel sie: „Was zur Hölle, Mina? Du kommst hierher, nachdem wir uns Ewigkeiten nicht gesehen haben, und quasselst mich mit irgendeinem NGO-Mist zu? Meinst du nicht, dass das ein bisschen dreist ist?“
Sie spürte, wie ihr Mund trocken wurde: „Ich bin mir nicht sicher, dass ich verstehe, was du meinst.“
Wut blitzte in seinen Augen: „Spar dir den Müll. Du bist hier, weil ihr Geld braucht, richtig? Und du denkst, du kannst hier einfach aufkreuzen, nach all dem, was du dir in der Uni geleistet hast, und erwarten, dass ich euch auch nur einen Cent gebe?“
Mina spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen schoss. Zorn stieg in ihr hoch: „Was ich mir geleistet habe? Ich? Ich habe dir nie irgendetwas getan, Daniel, also hör endlich auf, dich als Opfer darzustellen. Werd‘ erwachsen!“
Ein eiskaltes Lächeln legte sich auf seine Lippen und er verschränkte die Arme vor der Brust: „Du hast kein Recht, mich in meinem eigenen Haus zu beleidigen. Wenn du denkst, dass du mich damit zum Spenden bringst, irrst du dich.“
Verärgert rieb Mina sich die Schläfen: „Willst du dir nicht wenigstens anhören, was unsere aktuellen Projekte sind? Ich hätte gedacht, mit allem, was deine Familie gerade durchmacht …“
Sie realisierte augenblicklich, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Mit vor Wut roten Kopf sprang Daniel von seinem Stuhl auf und deutete auf die Tür: „Raus. Wie kannst du es wagen, mir was über meine Familie erzählen zu wollen? Du mit deinem bescheuerten Gutmenschentum. Du hast dich kein Stück verändert seit der Uni. Zum Kotzen. Verschwinde bloß. Warum fragst du nicht deinen Freund Henrik, ob er spendet? Als aufgehender Star unter den Juristen verdient er doch bestimmt richtig gut jetzt. Deinen geliebten René kannst du ja nicht fragen, was? Als jämmerlicher Polizist kann der froh sein, wenn er überhaupt genug Geld kriegt, um sich ein Dach über dem Kopf leisten zu können.“
Mit zitternden Händen packte Mina ihre Tasche und stand auf: „Du hast dich auch nicht verändert. Derselbe lächerliche Hitzkopf wie früher. Dass du überhaupt Henri und René ins Spiel bringst. Einfach lächerlich.“
Entschlossen legte sie ihm die Mappe mit den vorbereiteten Unterlagen auf den Schreibtisch: „Hier. Ich lass dir das da, falls sich irgendwann doch noch dein Verstand zurückmeldet. Vielleicht denkst du dann anders drüber. Ein bisschen Image-Pflege kann euch nicht schaden, ganz egal, ob du das hören willst oder nicht.“
Daniel rührte sich keinen Zentimeter. Seinen Mund zu einer dünnen Linie verzogen, deutete er weiterhin mit seiner Hand auf die Tür. Seufzend zuckte Mina mit den Schultern und folgte dem schweigenden Befehl. Dieses Gespräch hatte schneller eine katastrophale Wendung genommen, als selbst sie befürchtet hatte, aber sie sah nicht ein, dass das ihre Schuld war. Sie hatte sich professionell verhalten und ihr Bestes gegeben.
Der Pförtner oder Butler oder was auch immer er war, wartete in der Empfangshalle auf sie. Mit vollendeter Höflichkeit führte er sie aus der Tür und über die Grünfläche bis zum Tor, doch Mina entging nicht, dass er aufmerksam sicherstellte, dass sie das Gelände auch wirklich verlassen hatte.
Wütend auf sich und auf ihre Chefin, vor allem aber enttäuscht davon, dass Daniel noch immer dasselbe Kleinkind war wie früher, stapfte sie zurück zur Straßenbahnhaltestelle. Sie war den ganzen Weg hier raus gefahren, nur um nach weniger als fünf Minuten wieder hinauskomplimentiert zu werden. Zusätzlich musste sie jetzt Margarete irgendwie erklären, dass ihre Mission schief gegangen war. Dabei hatte sie sie noch gewarnt. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, das Anliegen professionell vorzutragen, aber die alte Feindschaft mit Daniel stand unüberwindbar im Weg.
Grimmig zog Mina ihr Handy aus der Tasche. Sie brauchte dringend Ablenkung. Entschlossen schickte sie eine Nachricht an ihren Freund René, dass sie sich gerne am Wochenende mit ihm treffen wollte. Obwohl sie regelmäßig telefonierten oder zumindest über WhatsApp schrieben, hatte sie das Gefühl, ihn schon ewig nicht mehr gesehen zu haben. Zeit, das zu ändern.